Als ich 1998 das Drehbuch zu dem Dokumentarfilm „Wissen ohne Ende: Brockhaus und Meyer – Vom Lexikon zu Multimedia“ (Deutsche Welle TV) schrieb, zeichnete sich bereits der Publikationstrend zu Digitalisierung und Internet ab. Auch das Ende der gedruckten Enzyklopädien im vielbändigen Repräsentationsformat war zu ahnen. Wo sich das Wissen der Welt zunehmend schneller verdoppelt, können Printmedien aufgrund ihres physisch begrenzten Platzangebots auf Dauer nicht konkurrieren gegen digitale Plattformen mit „unendlichem Space“.


„Qualität statt Quantität“,
lautete eine der Maximen meiner damaligen Interviewpartner in der Leipziger Brockhaus-Redaktion. Jeder Artikel werde von mehreren Fachredakteuren und externen Experten (zumeist Professoren) sorgfältig bearbeitet und bis in die Essenz hinein komprimiert – ein Beispiel lebendiger Expertokratie. Doch diese Zeiten haben sich seit Wikipedia (2001) gewandelt, die Online-Enzyklopädie revolutionierte die Jahrtausende alte Lexikographik in nicht mal einem Jahrzehnt. Keine ausgewählten Experten tragen jetzt mehr allein zur Vermittlung des Wissens der Welt bei, sondern alle, die etwas beizutragen haben. Jeder kann mitmachen.

Man stelle sich dazu vor, jemand interessiert sich für Neurochirurgie, geht in die entsprechende Klinik und sagt: „Hi, ich finde das Thema geil, ich will mal mitoperieren.“ Und die Ärzte im OP begrüßen den Neuankömmling freudig: „Super, hier sind Skalpell und Klammern. Leg mal los!“ – Ein beängstigendes Bild? Nicht bei der Wikipedia. Am Beispiel der Biographik, des Schreibens von Personenartikeln, möchte ich dies ausführen.

Relevanz und Lobbyismus

Eine generelle Frage sei vorangestellt: Sind schon alle relevanten Personenartikel in der WP geschrieben? Sicher nicht. Nur ein Beispiel: Obwohl viele Werke des Künstlers Helmut Wenske seit den 70-er und 80-er Jahren als Poster, Schallplattencover (u.a. Nektar, Jeronimo/Creedence Clearwater Revival) und Buchumschläge diverser SF-Literatur (u.a. Insel Verlag, Heyne, Moewig, Suhrkamp) millionenfach reproduziert worden sind, fehlt ein Artikel über Helmut Wenske immer noch in der Wikipedia. Liegt es daran, dass er seiner Autobiographie den Titel „Scheiss drauf! Eine Rock’n’Roll-Bio in Bildern, ein Leben gegen den Strich“ gegeben hat? Hat der Künstler da keinen Anspruch mehr auf „Relevanz“ in der WP – oder fehlt ihm schlichtweg die Lobby? Lobbyismus bis hin zum „Paid Editing“ ist ja zurecht ein großes Thema der Wikipedia, schließlich ist das Verfassen von Artikeln immer interessengeleitet, und wenn es sich um Personen, Institutionen und Produkte der Gegenwart handelt, mit denen Geld verdient wird, umso mehr.

In dem Artikel zu dem Künstler Gottfried Helnwein beispielsweise frappiert, wie das Thema seiner Scientology-Mitgliedschaft und die Reaktionen des deutschen Sprachraums darauf  durch emsiges Editieren in die Redundanz gedrückt worden ist, obwohl es dazu u.a. ein 496-seitiges Buch von Peter Reichelt mit zahlreichen faksimilierten Dokumenten gibt. Auch hier keine interessengelenkte Publizistik zu erkennen, heißt blind zu sein.

Dass in dem Artikel über eine brillante Schriftstellerin wie Bettina Blumenberg nahezu nichts Essenzielles zu ihrer Prosa und deren Rezeption zu finden ist, statt dessen eine ellenlange Auflistung von Buchtiteln, die sie als professionelle Übersetzerin ins Deutsche übertragen hat, als sei die Wikipedia ein Produktkatalog des VLB (Verlagsverzeichnis lieferbarer Bücher), mag im Interesse des Artikelautors liegen, verweist andererseits aber eher beschämend auf die partielle Ignoranz der WP-Community, die das einfach passieren lässt.

Ein anderes Beispiel: Der Autor Christoph Poschenrieder verweigert sich der öffentlichen Darstellung seiner Person und Vita, wie man auch auf seiner Homepage sehen kann. Muss es ihm daher die um „Relevanz“ bemühte WP gleichtun und den Artikel über sein Werk ebenfalls auf ein Minimum beschränken? Zu erwähnen könnten beispielsweise Übersetzungen seines Debütromans ins Italienische, Französische, Portugiesische, Dänische sein, aber auch internationale Pressestimmen; vielleicht sogar Titel der Dokumentarfilme, zu denen er das Drehbuch geschrieben hat. Zur dreiteiligen TV-Reihe „Das Jahrhundert der Technik“ ist begleitend auch ein Buch erschienen.

Über den Fußballtrainer Rudi Gutendorf lesen wir in der WP: „Zudem schreibt Rudi Gutendorf seit geraumer Zeit eine kleine Kolumne für eine Koblenzer Sonntagszeitung.“ Ach, wie rührend! Dass Gutendorf zwei umfangreiche Autobiographien geschrieben hat bzw. hat schreiben lassen, ist dagegen wohl „nicht relevant“ (wobei die von mir und Heinz Zimmermann als Co-Autoren verfasste Autobiographie u.a. auch in der FAZ wohlwollend rezensiert worden ist).

Nun, da stimme ich dem Argument der Wikipedianer wohl zu: Das alles wird im Laufe der Zeit verbessert werden.

Womit wir bei mir und dem Personenartikel über meine professionelle Vita in der WP sind. Vielleicht fragen Sie sich, warum ich nicht selbst zur Verbesserung der oben genannten Texte beitrage und – so wie alle anderen auch – munter in die WP-Artikel hineinschreibe? Ganz einfach: 2010 wurde ich von einigen Wikipedia-Autoren aufs gröbste diffamiert und in Lösch- bzw. Artikeldiskussionen u.a. als „Arschloch“ tituliert und musste weiteren Hohn ertragen, sodass mir jegliche Lust an Mitarbeit gründlich vergangen ist. Heute wehre ich  mich nur noch gegen Falschdarstellungen meiner Person in der Wikipedia, wobei es zu deren Korrektur in einigen Fälle in letzter Zeit auch mehr als ein Jahr harter Diskussionsarbeit und weiterer Beleidigungen bedurfte. Mit „Ihresgleichen“ (FelaFrey) mag man wohl nicht sachlich kommunizieren und vor allem nicht sachgerecht korrigieren. Womit sich die Frage nach der Deutungshoheit professioneller Viten stellt.

Wer hat die Deutungshoheit über professionelle Viten in der Wikipedia?

Im Laufe der Jahre wurden in der Wikipedia umfangreiche Kataloge zur Handlungsgrundlage für die Autoren erarbeitet, darunter Relevanz-Kriterien zu Personen der Gegenwart, die nicht nur definieren, wer „in“ ist und wer „out“, sondern auch, was relevant in einer WP-Biographie ist, und was nicht, wie Persönlichkeitsrechte einzuhalten sind, usw. Dass da in den Löschdiskussionen zu einzelnen Artikeln bisweilen die Gemüter erhitzen, mag verständlich sein. Doch wenn ein „Lemma“ eine oder gar zwei Löschdiskussionen erfolgreich überstanden hat, gehört es dann nicht auch zur lexikalischen Biographik, das Spezifische, Einmalige, Unverwechselbare einer professionellen Vita in Produktion und Rezeption herauszuarbeiten und darzustellen – das, was sie besonders macht, von den Anfängen bis zur Gegenwart?

Als ich diese Frage damals in der Brockhaus-Redaktion stellte, wurde auf das beschränkte Format weniger Zeilen verwiesen, die selbst eine vielbändige Enzyklopädie pro Personenartikel nur biete. Natürlich gebe es Relevanzkategorien, auch Personenartikel betreffend, wonach ein Text über Johann Wolfgang von Goethe mehr Platz beanspruchen dürfe, als über Wolfgang Koeppen. Das leuchtet ein, in der Online-Lexikographik ziehen Argumente des begrenzten Raumangebots jedoch weniger.

Gerade in dem unlimitierten Platzangebot liegt eine Chance der Wikipedia, die lexikalische Biographie als Kunstform komprimierter Texte zu neuen Blüten zu erheben, ohne im Miniaturformat verharren zu müssen. Doch davon ist die Online-Enzyklopädie noch weit entfernt, denn Kunst kann nur mit guten Autoren gelingen, und davon hat die WP sicherlich nicht genug. Vielmehr laufen sie ihr seit Jahren davon – verständlich bei Produktionsbedingungen, wo sich Fachleute mit Laienbeiträgen und deren Ambitionen herumschlagen müssen. Bei manchen Artikel- und Löschdiskussionen hat man den Eindruck, Relevanz und Sachdarstellung würden in der Wikipedia per Akklamation ermittelt. Wessen Vita – wie die meinige – in die Hände eines Autors wie „FelaFrey“ fällt, scheint auf lange Zeit verloren zu sein. Stalkern gleich, beanspruchen solche Autoren die Deutungshoheit über den Text, löschen Wort- und Satzbeiträge anderer Autoren und stellen unwidersprochen ihre eigene Version im Artikel wieder her, ganz nach dem Motto: Wer am penetrantesten schreit, hat recht – und die anderen Autoren ziehen sich zurück, denn wer will sich ständig (für lau) nerven lassen? Kein Wunder, dass auch gezielte Falschdarstellung und Diffamierung von Personen und Institutionen in der Wikipedia als Plattform ein großes Thema sind.

Die Wikipedia-Biographie als neues Subgenre der lexikalischen Biographik

Man könnte glauben, je kürzer ein Text, desto schneller sei er zu schreiben, und tatsächlich: manche WP-Personenartikel scheinen im Eiltempo zusammengeklickt zu sein. Gleichwohl sitzt der Teufel im Detail, wie ein altes Lektorensprichwort lautet, und da bieten nicht nur die Personenartikel in der WP Handlungsbedarf, zu korrigieren und Fakten aufzufüllen. Natürlich setzt das Sachkenntnis voraus, doch bisweilen hat man den Eindruck, einzelne WP-Autoren wüssten nicht einmal, was sie schreiben. Über meine“ letzte“ „relevante“ berufliche Tätigkeit schreibt FelaFrey beispielsweise in seiner jüngsten Korrektur der Korrektur der Korrektur….: „Ab dem Jahr 2000 hat er seinen Schwerpunkt auf die Begründung von Dienstleistungsunternehmen für Selbstpublikationen, seit 2004 vornehmlich auf die Tätigkeit als Biograph und Ghostwriter gelegt.“ – Was soll dieser erste Halbsatz bedeuten: dass ich vier Jahre lang als Schwerpunkt Dienstleistungsunternehmen gegründet habe? (In Wirklichkeit meldete ich nur eine GmbH zur Produktion von Internetauftritten und Books on Demand an; außerdem schrieb ich in dieser Zeit Autorenratgeber, darunter die ersten Books-on-Demand-Ratgeber im deutschen Sprachraum, sowie die bereits zitierte Rudi-Gutendorf-Autobiographie). Solche Sätze von FelaFrey suggerieren jedoch, seit dem Jahr 2000 sei nichts Relevantes mehr in der professionellen Vita des A.M. passiert und jegliche weitere Beschäftigung damit obsolet. Sinnvoll recherchierte Fortführungen anderer Autoren hat FelaFrey einfach wieder gelöscht (siehe Versionsgeschichte).

Natürlich: Auch mit Ignoranz kann Biographik betrieben werden, doch ist sie dem Anspruch einer Enzyklopädie, „Wissen der Welt zu sammeln und zu vermitteln“, angemessen? Gerade die Wikipedia hat aufgrund ihrer neuartigen Produktionsstruktur – Tausende kostenlos arbeitende Autoren und „unendlicher“ Webspace – die Möglichkeit, Artikel (auch Personenartikel) bis in Details und in die Gegenwart hinein zu bearbeiten. Das setzt natürlich die Bereitschaft zur Beschäftigung mit einem Thema voraus – und Sachkenntnis, die man sich erarbeiten muss. Aversionen gegen eine Person und/oder deren Tätigkeitsfeld erscheinen dabei wenig zweckdienlich für lexikographisches Arbeiten zu sein. Wem „Ihresgleichen“ zuwider ist, wie mir Autor FelaFrey schrieb, sollte wohl eher die Finger von „ihresgleichen“ Viten lassen. Und wenn ein WP-Autor das nicht kann, dann sei die Frage erlaubt, warum jemand in der Wikipedia gestalked wird und sich das bieten lassen muss – alles unter den Augen der WP-Community.

Instanz zur Schlichtung zwischen Personen/Institutionen und WP-Autoren fehlt

Natürlich liegen Probleme und Übertreibungen beim Schreiben und Ausdiskutieren von Personenartikel bisweilen auf beiden Seiten und können sich im Streitgespräch erhitzen. Die biographierte Person, namentlich bekannt bis hin zum Wohnort, kämpft dabei gegen anonyme Autoren auf einem Feld, in dem keine persönliche Aussprache möglich ist: kein Telefonat, kein klärendes Wort ausserhalb der WP-Diskussion, in der jeder mitschreibt, auch wenn er keinerlei Sachverstand besitzt, geschweige denn sich mit dem diskutierten Problem auseinander setzt. Da wäre eine Schlichtungsstelle in der WP sinnvoll, an die man sich persönlich wenden kann und nicht mit Standardmails abgespeist wird! Dass in der deutschen Wikipedia zudem niemand – keine Person – im Sinne des Presserechts verantwortlich ist und juristische Verfolgung einzelner WP-Autoren wohl nur über die amerikanische Wikimedia Foundation möglich ist, erscheint ebenfalls verbesserungswürdig und sollte grundlegend juristisch geklärt werden.

Kostenlose Schreibkurse für Wikipedia-Autoren anbieten

Die Verschwendung von Spendengeldern der Wikimedia ist auch ein Thema, das diskutiert wird, und wie man besser mit dem Geld umgehen könne. Mein Vorschlag: Schreibkurse und Fortbildungen in der Biographik für WP-Autoren finanzieren! Darin könnten all die guten und schönen WP-Richtlinien (die vielleicht partiell gelesen, aber wohl seltener befolgt werden) in praxi vermittelt und mit der Kunst des lexikalischen Schreibens kombiniert werden. Ich glaube, die altehrwürdige Kunst der Lexikographie würde in neuem Glanz erblühen 😉 – statt, wie im Fall der Wikipedia, einen zunehmend schaleren Beigeschmack zu entwickeln.