Diesen Artikel habe ich erstmals am 24. Dezember 2009 in diesem Blog online gestellt. Weil es thematisch passt, hebe ich ihn jetzt wieder hervor …

Denke ich an Weihnachten bei meinen Eltern zurück, graust es mich noch heute. Im Genre des Horrorfilms gibt es ein probates Mittel, Entsetzen zu inszenieren: Man nehme ein bürgerliches Ambiente, aus dem keiner entfliehen kann, setze ein paar unterschiedliche Figuren hinein und überlasse sie sich selbst. Mit den besten Absichten kommen die Familienmitglieder zusammen und verlassen nach wenigen Tagen mit Tränen und Verdruss  das Fest der Liebe und des Friedens. So war es jedes Jahr bei uns daheim. Der einzige Ausweg aus diesem Kreislauf des Grauens wäre gewesen, gar nicht erst zu erscheinen. Doch das traute sich keiner.

Wir, das waren Mutter und mein Adoptivvater, sowie meine beiden (Halb-)Geschwister und ich – lauter nette Menschen. Mutter als dogmatische Christin und Vater als überzeugter Atheist gaben den Ton an. So standen wir am Weihnachtsabend vor dem Christbaum neben der kleinen Krippe und Mutter las aus der Bibel: „Und es geschah zu der Zeit…“ Dann krächzten wir zu fünft zwei bis drei Weihnachtslieder, obwohl keiner von uns singen wollte und konnte, geschweige den Text richtig kannte. Doch Mutter bestand darauf. Selbst als wir Kinder erwachsen waren, blieb uns diese Farce nicht erspart. Vater machte gute Miene zum christlichen Theater, und wir machten mit.

Auch das Auspacken der Geschenke verlief im Ritual der Freude: Rund zehn Jahre lang bekam ich zu Weihnachten jedes Jahr eine neue Teekanne geschenkt – „für Sammler“ von Franklin Mint, weil ich ja Teetrinker bin. Heute stehen die Teekannen auf meinem Küchenschrank zur Dekoration. Lieber hätte ich die neueste LP von Deep Purple geschenkt bekommen, oder ein Buch von Charles Bukowski, oder einen Katalog von Dali, der mein Lieblingsmaler war. Statt dessen Heiligenbilder-Postkarten mit frommen Sprüchen von Mutter und von Vater – nach den Teekannen – jährlich ein Album aus den Sammler-Editionen eines Briefmarken-Versandhauses, das mich ebenfalls überhaupt nicht interessierte. Als wir die Sammlung nach Vaters Tod verkaufen wollten, stellte sich heraus, dass sie einmal recht teuer, jetzt aber kaum noch etwas wert war. Jeder verbrennt sein Geld eben anders.

Man bedankte sich artig reihum mit Handschlag, dann ging Mutter nach der Bescherung spätestens um 20 Uhr ins Bett, um uns Ignoranten nicht länger ertragen zu müssen. Wir atmeten durch, trugen Bier und Zigaretten auf und spielten Skat. Das war noch das Beste an Weihnachten bei uns zu Hause.

Die obligatorische Weihnachtsgans gab es am ersten Feiertag zu Mittag, Mutter hatte sie lustlos zubereitet, denn Haushalt und kulinarische Genüsse waren nicht ihre Sache, sie ging lieber in die Christengemeinschaft und las Rudolf Steiner. Jahrzehnte später hatte ich ein paar Monate lang eine neurotische Anthroposophin als Freundin – ausgerechnet in der Weihnachtszeit. Da mussten wir jeden Tag in die Kirche gehen, und beim abendlichen Gespräch über das Mitternachtsgebet beging ich einen üblen Fauxpas, der ihrer Neigung zu mir ein abruptes Ende setzte. Ich hatte etwas spöttisch zu bedenken gegeben, dass sich das mitternächtliche Gebet der Menschen gegen den Zivilisationslärm, aber auch gegen das Muhen der Kühe durchsetzen müsse, wolle es in der geistigen Welt erhört werden. Das kam überhaupt nicht gut an – vor allem das Muhen der Kühe nicht.

In der Familie pflegten wir eine strenge Tischordnung. Man setzte sich erst, wenn die Dame des Hauses Platz genommen hatte. Mutter, wenngleich wenig elegant, bekam als erstes die Speisen gereicht, dann folgten Vater und wir in absteigendem Alter – dass meine jüngere Schwester immer zuletzt drankam, machte sie in ihrem Leben nicht fröhlicher.

Viel gesprochen wurde bei Tisch ohnehin nicht, dafür bekamen wir umso schneller scharfe Verweise, waren unsere Essmanieren nicht einwandfrei. Schon aus dem Weinglas zu nippen, ohne sich vorher den Mund mit der Stoffserviette abgeputzt zu haben, konnte zur Tragödie führen, die jetzt ohnehin zwangsläufig folgen musste. Der Anlass war meist banal. Einmal missfielen Vater meine langen Fingernägel der rechten Hand, die ich zum Gitarrenzupfen brauchte. Man bekomme eine Nagelbettentzündung davon, beharrte er und befahl, sie abzuschneiden, was ich nicht tat. Oder unsere Haare waren zu lang, oder oder… Jeder Terror hat seine Keimzelle in der Familie, und irgendwie schafften wir es immer, uns die Festtage zu versauern.

Deshalb bin ich Weihnachten gern allein und arbeite an meinen Büchern und den neuen Lehrbriefen, so wie jetzt, wo ich diesen Artikel schreibe: Keine Kunden rufen an, niemand stört mich. Abends ein Fläschchen Wein vielleicht, um leichtfüßig ins Schlummerland zu segeln – das war es dann. Morgen kommen meine süßen Frauen – meine Tochter Anelia mit Mutter Farida – und wir verbringen schmusend und spielend einige Tage zusammen, bevor die beiden wieder in ihr Haus zwanzig Kilometer entfernt ziehen. Wir leben nicht die ganze Woche zusammen, sondern zumeist nur am Wochenende.

Den ganzen Weihnachtsrummel mache ich schon lange nicht mehr mit, Weihnachtskarten fliegen bei mir ins Altpapier, Mails werden gelöscht. Niemand muss sich die Arbeit machen und mich mit den stereotypen Formeln der Weihnachtsindustrie belästigen. Behaltet sie für Euch, liebe Leute, wenn Ihr Wert darauf legt!

Ein Freund sagte vor kurzem, als ich ihn nach der Taufe seiner Tochter fragte: „Ich glaube nicht an Gott, aber ich glaube an die Kirche – an den Sinn ihrer Rituale.“ Das fand ich verwunderlich: Für mich ist die Kirche bestenfalls ein Wirtschaftsunternehmen, wie Siemens und Microsoft… An Gott glaube ich dagegen sehr als die schöpferische Energie, die das Universum und uns erschaffen hat. Ich liebe Kreativität, das Gestalten des Ungestalteten. Vielleicht bewundere ich deshalb Künstler und Werke am meisten, und hasse den Weihnachtskitsch, der seinen Ursprung in der Kirche hat.

Also denn: Frohe Festtage! Mailen Sie mir doch mal Ihre scheuslichsten Weihnachtserlebnisse. Dann machen wir daraus ein biographisches Weihnachtshasser-Buch 🙂 .