Als UPS am Mittwoch, den 17. Juni ein Paket brachte, war ich ziemlich erstaunt über dessen Inhalt: Der Katalog zur Ausstellung „Aenigma – Hundert Jahre anthroposophische Kunst“ im Museum für moderne Kunst in Olomouc (Olmütz / Tschechien) vom 19. März bis 26. Juli 2015 war weit größer und reichhaltiger geworden, als ich erwartet hatte. Respekt vor den Leistungen aller Beteiligten, insbesondere der Editoren und Ausstellungsmacher Reinhold J. Fäth und David Voda! Vom 17. August bis zum 25. Oktober 2015 ist die Ausstellung im Kunstmuseum Moritzburg in Halle (Saale) zu sehen.

Verwundert las ich auf den ersten Seiten, insbesondere den Seiten 16-20, Reinhold Fäths Ausführungen zu einer kurzen Bemerkung, die ich 1990 in meinem Buch „Anthroposophie und Malerei – Gespräche mit 17 Künstlern“ eher beiläufig, wenngleich pointiert, gemacht hatte: dass die anthroposophische Kunst seit ihrer Begründung systematisch kultur- und wirtschaftspolitisch verdrängt und ausgegrenzt worden ist. Dass das ein Skandal ist, durchaus ein Verbrechen, schrieb ich wohl nicht so deutlich, wie ich es heute tun würde angesichts einer politischen Welt, die kürzlich für ein Wochenende des G7-Gipfels im idyllischen Schloss Elmau mit atemberaubender Selbstverständlichkeit rund 360 Millionen Euro an Steuergeldern verpulvert hat, aber Kultur- und Sozialausgaben klein hält.

Nun mag man einwenden, das Eine habe mit dem Anderen nichts zu tun. Doch seien wir realistisch: In dieser vom Turbokapitalismus geprägten Welt bedeutet Geld Macht, und wenn ich die letzten 25 Jahre Revue passieren lasse, seitdem ich zur anthroposophischen Malerei promoviert und aus ökonomischen Gründen mich mit dem Thema zunehmend weniger beschäftigen konnte, ist schon an diesem kleinen persönlichen Beispiel zu sehen, wie sehr Geld und wissenschaftliche Arbeit zusammenhängen. Obwohl das anthroposophische Kunstschaffen nunmehr sein 100-jähriges Jubiläum feiert, gibt es immer noch keine universitäre Forschungsstelle und keinen Lehrstuhl dafür! Da sage mir einer, das sei „Zufall“ oder bestenfalls ein „bedauerliches Versehen“. Warum ist Geld für all die anderen Kunstwissenschaftler an den Universitäten da, und nicht für die, die anthroposophische Kunst erforschen und in der Lehre vertreten?

Meine Kritik am aktuellen Umgang offizieller Stellen mit anthroposophischer Kunstgeschichte habe ich auch am Beispiel der Ausstellung „Kosmos Rudolf Steiner“ (2011) formuliert, deren Entscheidungsträger wohl eher dem Auftrag ihrer Geldgeber folgten, als redliche kunstwissenschaftliche Vermittlungsarbeit zu leisten. Da bildeten dann im gleichen Jahr die Ausstellung „Rudolf Steiner – Die Alchemie des Alltags“ mit ihrem Katalog einen wohltuenden Kontrapunkt, der einen zunehmend positiveren und vor allem qualifizierteren Umgang mit der anthroposophischen Kunstgeschichte signalisierte.

Und nun „Aenigma – Hundert Jahre anthroposophische Kunst“, im tschechischen Verlag Arbor vitae erschienen, 400 Seiten stark im Katalogformat: Eine visuelle Fundgrube an Künstlerviten und Bildbeispielen. Faszinierend, auch für mich, wie viele Künstler sich Rudolf Steiners Kunstimpulsen angenähert haben und in diesem Katalog dokumentiert wurden. Neu in der Literatur sind vor allem die Kapitel zur tschechischen und polnischen Entwicklungsgeschichte anthroposophischer Kunst, auch das macht dieses Ausstellungsprojekt mit seinem Katalog überraschend. Chapeau! Ein weiterer wichtiger Schritt in die richtige Richtung! Ich bin beeindruckt. Gleichwohl dürfte klar sein, dass eine kritische wissenschaftliche Aufarbeitung dieser Kunstrichtung und deren Protagonisten (inkl. der Führung der Anthroposophischen Gesellschaft) nicht nur Schmeichelhaftes bescheinigen würde. Insbesondere das hundertjährige Repetieren von Steiner-Zitaten innerhalb der Bewegung signalisiert Perspektivlosigkeit und Stagnation, die nicht sein müsste: Transzendierung der Materie, eine der Kernpunkte anthroposophischer Farbenlehre, findet heute auch in den Lightshows von Rockkonzerten sowie der Entwicklung virtueller Realitäten Niederschläge, deren Wurzeln durchaus in der Anthroposophie zu suchen wären.

Aus der Verlagsinformation: Die Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts schien jede größere Kunstbewegung beschrieben und chronologisch eingeordnet zu haben. Allerdings hat niemand vorhergesehen, wie die Theosophin und Anthroposophin Hilma af Klint in den letzten Jahren die kodifizierte Geschichte der abstrakten Kunst in Erschütterung versetzen würde. Af Klint repräsentiert jedoch nur einen kleinen Teil jener großen Kunstbewegung, über die international erstmals in der Monographie Aenigma / Hundert Jahre anthroposophische Kunst umfassend publiziert wird. Die Anfänge dieser Bewegung sind mit München und Stuttgart (1907–1913), vor allem aber mit dem nahe Basel gelegenen Dornach verbunden, wo 1913 rund um den Bau des ersten Goetheanum eine reformorientierte Künstlerkolonie entstand. An der Schwelle des Ersten Weltkriegs fanden hier esoterisch orientierte Kultureliten aus West- und Osteuropa, Skandinavien und Russland Zuflucht und folgten Rudolf Steiner – dem charismatischen österreichischen Philosophen, Naturwissenschaftler, Pädagogen, Architekten und Re-Designer der Welt. Die Monographie stellt neben Studien zur anthroposophischen Kunst 125 Künstlerpersönlichkeiten vor, die im Zeitraum 1913–2013 auf vielen Gebieten interdisziplinär tätig waren: Architektur, Bildhauerei, Malerei, Grafik, Kunsthandwerk und Design, Textilkunst, Spielzeugdesign, Buchgestaltung (von Kinderbüchern bis hin zum Samisdat), Bühnenbild, Eurythmie, Poesie und moderner Musik. Es existiert eine bisher weitgehend ungeschriebene und unerforschte Geschichte anthroposophischer Kunst von europäischem Format.