»Findet Ihr denn kein Hasenbrot?«
Brilon – Meine frühe Kindheit 1924-1931
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Eine meiner ersten Erinnerungen habe ich an unser Wochenendhaus, das idyllisch gelegen inmitten von vier Morgen Tagwerk Wald stand. Zu Ostern versteckte mein Vater dort die Ostereier, und das restliche Jahr über harte Brotkanten. Wenn wir gerade nicht aufpassten, warf er sie weg und fragte uns dann scheinheilig: »Findet ihr heute überhaupt kein Hasenbrot?«

»Nö«, sagten wir mit kleiner Stimme. »Wir finden kein Hasenbrot.«
»Ja, aber ich sehe es von hier aus!« rief er und klatschte in die Hände.
Dann suchten wir das uralte Brot und aßen es mit Vergnügen, es war steinhart. Zu Hause hätten wir es nie angerührt, aber hier im Wald schmeckte es köstlich!

Ich war wie ein Wiesel und wollte die Flinkste sein, und natürlich von meinen Geschwistern bewundert werden: »Veronika, Veronika hat’s schon wieder gefunden!«
Noch heute höre ich unsere fröhlichen Stimmen, wie wir am Wochenende im Garten spielten und durch die Wälder streiften. Das Wochenendhaus war unsere erste Heimat. Es stand rund sieben Kilometer von unserem Haus in Brilon entfernt. Samstags setzte Vater uns Kleinen in den Bollerwagen und die größeren Geschwister mussten ziehen. Wenn es den Berg hoch ging, schob er von hinten den Wagen mit einem Stock.

Vater war immer ganz stolz, wenn er mit seinen zwölf Kindern zum Wochenendhaus zog und ihn die Menschen auf der Straße grüßten. »Jetzt kommt wieder die Familie Obermüller!« Aber auch ich war stolz, dass wir so häufig angesprochen und gelobt wurden, wir sahen immer wie aus dem Ei gepellt aus. Nur meine Mutter war ganz selten bei den Ausflügen ins Wochenende dabei. Sie war oft krank oder froh, dass sie endlich in Ruhe den großen Haushalt machen konnte. Zu mir sagte sie oft: »Du bist mein Sonnenschein im Haus!« Ich war immer fröhlich und guter Dinge.

Unterwegs bekamen wir von den Bauern für fünf Pfennig ein Glas Milch. Das war unsere Ration, damit wir schneller laufen konnten. Mein Vater hat mit uns alles angestellt, was Spaß machte, und dabei hat er schelmisch gegrinst.

Ich habe ihn sehr bewundert. Beruflich leistete er viel, baute zwei Häuser für uns – eines in Brilon mit 9 Zimmern und eines in Arensburg mit 14 Zimmern, kaufte zwei weitere große Grundstücke mit Obstbäumen – und eben das Wochenendhaus, das wir alle liebten. Wir hatten ein sehr großes Vermögen mit zwölf Kindern und waren als reiche Leute sehr angesehen: Reich an Kindern, aber auch reich an Vermögen.

Vater war versiert im Bauwesen und sehr sozial eingestellt. Als sich ihm die Gelegenheit bot, baute er in Arnsberg für notleidende Familien mit 10 bis 15 Kindern die erste Armensiedlung. Wir Kinder mussten alle mithelfen, wo immer wir konnten. Jeden Tag saßen bei uns am Mittagstisch noch andere Kinder, die nichts zu essen hatten. So waren bei uns oft 16 bis 18 hungrige Mäuler zu stopfen. Besonders stolz war ich, wenn ich neben Vater sitzen durfte. Da musste ich mich natürlich noch besser benehmen, was mir nicht immer leicht viel, weil ich ein so munteres Wesen war! Am liebsten wollte ich immer nur plappern und lachen, doch am Tisch durfte – mit Ausnahme des Nötigsten – nicht gesprochen werden! Da jüngste Kind saß neben Mutter.

Kinder konnte mein Vater nie genug um sich haben, und er hat uns auch allen eine wirklich schöne Kindheit geschenkt! Aber folgen mussten wir auf die Sekunde. Er schaute uns nur an, dann wussten wir sofort und ohne Worte, woran wir waren. Im übrigen passten meine großen Geschwister auf uns auf, meine älteste Schwester Agnes hatte uns eisern im Griff, denn meine Mutter war immer ein wenig kränklich, was nicht verwundert, wenn man sieben Kinder in zehn Jahren zur Welt bringt, darunter auch Zwillinge. Wer nicht auf die Sekunde genau zu Hause war oder folgte, bekam Hausarrest, Strafschreiben oder musste sofort ins Bett.

Geboren wurde ich in Brilon als das viertjüngste von zwölf Kindern. Ich war ein echtes Kind der Liebe, meine Eltern waren sehr froh bei der Geburt, obwohl meine Mutter immer etwas kränkelte. Mein Vater Theodor war Vermessungs-Oberinspektor und ist später Vorsitzender des Vereins der Kinderreichen geworden. Auch war er Hauptvertreter der Allianz Versicherung für Nordrhein-Westfalen. Vater war sehr vielseitig und hatte viele Posten, die ihm halfen, uns durchzubringen. Meine Mutter Franziska musste durch das viele Kinderkriegen natürlich viel leiden. Das begreift man erst, wenn man selbst Kinder geboren hat. Später wurde Mutters Mutterkreuz mit einem Foto der Familie im Stadtmuseum von Arnsberg ausgestellt. Die Familie Obermüller war stadtbekannt und angesehen.

Vater feierte die Feste, wie sie fielen: Jeden Namenstag, jeden Geburtstag, Ostern, Christi Himmelfahrt… alles, was kam, nahm er mit. Schon die Vorbereitungen machten ihm Spaß. Die Weihnachtsdekoration bastelte er mit uns, er war ein geschickter Handwerker. Wenn er am 20. Dezember Geburtstag hatte, hörte er am 6. Januar erst mit dem Feiern auf. Er war einfach ein Mann der Feste, der mit uns die ideale Familie hatte, denn man kann sich gut vorstellen, wie viel es bei uns zu feiern gab! Allein die Geburts- und Namenstage meiner Geschwister: Rudolf, mein ältester Bruder, dann kam Agnes, Hubertus, Annemarie, Paula, Franziska, Edeltraud, Theodor, ich, Adelheid, Heinrich. Resi – Theresa – war die Jüngste. Sie kam noch auf die Welt, als unsere Mutter bereits fünfzig und mit einer Schwangerschaft schon nicht mehr zu rechnen war.