Es gibt wenig Bücher zum kreativen und biographischen Schreiben, die ich mit so viel Freude, Gewinn und Dankbarkeit studiere wie die Werke Lutz von Werders – so auch diese 2. Auflage von erinnern wiederholen durcharbeiten – Die eigene Lebensgeschichte kreativ schreiben.

Gleichwohl macht mich diese Edition nicht ganz glücklich, so wie die anderen Bücher aus der Schreibwerkstatt des Meisters, die ich hier vorgestellt habe: Die Welt romantisieren sowie Schreiben von Tag zu Tag. Deshalb will ich meine kleine Mäkelei kurz begründen, bevor wir uns der Substanz des Werks und damit dem Erfreulichen widmen.

In der heutigen Zeit, wo sich die Ausbreitung verfügbaren Wissens innerhalb kürzester Zeit verdoppelt, halte ich den unveränderten Nachdruck von Sachbüchern, die älter als zehn Jahre sind, für problematisch. Anfangs ist mir die Altersdimension dieses Buchs (erste Auflage 1996) nicht aufgefallen, denn das Vorwort zur 2. Auflage mit Datum vom Januar 2009 signalisierte Aktualität und Frische. Doch je länger ich las, desto häufiger zog sich mir die Stirn in Falten.

Wenn am Ende des Buchs zur Veröffentlichung autobiographischer Texte das Gebiet der „Books on Demand“ fehlt, mag das auf den ersten Blick marginal erscheinen – gleichwohl hat diese neue Technologie des Digitaldrucks seit 1998 in Deutschland nicht nur die Buchbranche revolutioniert, auch das moderne Heer der neuen Biographiedienstleister und publizierten Autobiographien wären ohne den Buchdruck in der „Auflage 1“ nicht denkbar. Jeder Schreibkurs bietet heutzutage seinen Teilnehmern an, die Texte als „Print on Demand“ und im Internet zu veröffentlichen. Einen ersten Eindruck finden Sie bei www.bod.de, und für die Branche der Biographiedienstleister im Biographiezentrum – der Vereinigung deutschsprachiger Biographen, sowie bei den „Urvätern“ der Bewegung – den Personal Historians in den USA.

Überhaupt das Internet für die weitere Entwicklung des biographischen Schreibens als Bewegung unerwähnt zu lassen, mag 1996 hinnehmbar sein, doch im Jahr 2009 ist es weit mehr als nur ein etabliertes Kommunikationsmittel geworden. 

Inhaltlich zentral und damit relevant, aber aus Aktualitätsmangel bei Lutz von Werder ebenfalls nicht weiter ausgeführt, erscheint mir der gegenwärtige Trend, das autobiographische Gedächtnis sowie das „Zellgedächtnis“ mittels „Körperarbeit“ zu reaktivieren und für das biographische Schreiben nutzbar zu machen. Erste Anregungen bieten Herbert Gudjons u.a. in ihrer vorbildlich bearbeiteten und aktualisierten Neuauflage des Klassikers: Auf meinen Spuren. Übungen zur Biografiearbeit (1. Aufl. 1986, Neuauflage 2008). Selbsterfahrungs- und biographische Schreibgruppen nähern sich seit einiger Zeit zusehends aneinander an, was auch die Qualität der biographischen Schreibarbeit beeinflusst. Hier hätte ich mir mehr Informationen gewünscht (vor allem zu dem Kapitel „2.2.18 Körperautobiographie“, um diesen Minimaltexten Substanz zu verleihen).

Schließlich – und damit beende ich die kleine Krittelei: Meiner Ansicht nach liegt in der akademisch anmutenden Didaktik des Buchs eine zu starke Gewichtung auf Brainstorming, Cluster, Mind-Maps und Freewriting, also auf Zettelkasten- und Notizsystemen, die der Vorbereitung, aber weniger dem biographischen Schreiben selbst dienen. Ich hätte mir mehr gute (oder besonders schlechte) Beispiele zu den vielen inspirierenden Übungen gewünscht (wobei ich einige Anregungen, z.B. die „Methode 635“, aus der Beschreibung heraus nicht verstanden habe. Manche Anregungen werden schlichtwegs nur angerissen und für mein Gefühl zu wenig ausgeführt).

Womit wir jedoch beim richtigen Stichwort sind: Das Buch ist nach wie vor eine Fundgrube, eine übersprudelnde Quellen- und Rezeptesammlung für Kursleiter des Kreativ-Biographischen Schreibens, und es ist für Fortgeschrittene geeignet, die geübt im literarischen Schreiben sind. Lutz von Werder zitiert reichhaltig aus Psychologie, Kreativem Schreiben, Literaturgeschichte und anderen Disziplinen. „Jeder Mensch“, schreibt er am Anfang seines Buchs, „besitzt eine Autobiographie, auch wenn er sie nicht als Text aufschreibt… Die Spuren der ungeschriebenen Autobiographie sind jedem Menschen eintätowiert, und oft stellen Lebenskrisen auch die Umstände bereit, wo im Menschen der Impuls erwacht, die ungeschriebene Autobiographie aufzuschreiben.“

Gegliedert ist das Buch in fünf Teile.

Teil 1 bilden „Moderne Autobiographie und Kreatives Schreiben“. Hier dominieren die 30 „Regeln für lange autobiographische Schreibreisen“. Hilfreich auch die Zusammenfassung zu E. P. Farrow: Bericht einer Selbstanalyse. Sicher erkennen Sie den Titel des Buchs: Er stammt aus dem gleichnamigen Aufsatz Sigmund Freuds. In dieser Dreigliederung von „Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten“ sind die folgenden Kapitel geordnet.

Teil 2: „Erinnern. Kleine Übungen zum autobiographischen Schreiben.“ Hier zeigt sich eine der Stärken dieses Ratgeber-Buchs: Mit originellen Übungen an die biographischen Erinnerungen heranzugehen, z.B. „Mit der schreibungewohnten Hand schreiben, eine halbe Seite.“ Sein eigenes (kleines) Leben im universellen Ganzen zu sehen, ist eine reizvolle Aufgabe, die u.a. in der „Tagmemics-Technik“ vorgestellt wird. „Aristoteles‘ Suchbegriffe zur persönlichen Dimension des Lebens“ und zu anderen Kategorien schaffen den Bezug zur Welt der Antike – diesen lebensphilosophischen Brückenschlag über Jahrtausende hinweg schätze ich besonders an Lutz von Werders Arbeit, da ich nicht an die Wiedergeburt von Personen glaube, aber an die Wiedergeburt von Ideen und Gedanken. Deshalb gefällt mir die philosophische Tiefe, die Lutz von Werder seinen Werken verleiht.

Teil 3 bildet „Wiederholen: Die eigene Autobiographie schreiben.“ Dieses Kapitel ist in seinem Elementen am meisten traditionell: Grundregeln des autobiographischen Schreibens, Erstellen einer Zeitleiste, Fotobetrachtung, Träume, Umgang mit Trauer und Tränen. Interessant fand ich die Liste der „Typen von autobiographischen Gliederungen“: „Meine Jahre in Berlin“ als „Autobiographie des Lebens an einem Ort“, oder „Mein Kampf gegen den Krebs“ als „Autobiographie einer Krise oder Krankheit.“ Generell die Grundthese Lutz von Werders: Alle Autobiographie ist Krisenautobiographie. Hierzu liefert er zahlreiche Beobachtungen und Literaturhinweise. Hilfreich auch viele Checklisten, autobiographische Texte aufzulockern und zu optimieren. Fragen Sie sich selbst zu Ihrem Schreibstil: „Sage ich, was ich meine?“

„4. Kapitel: Durcharbeiten: Von der autobiographischen Erfahrung zu literarischen Texten“ – eine Kunst, die in diesem Abschnitt des Buchs behandelt wird. Zu beherzigen: „Wenn Sie gute Literatur schreiben wollen, müssen Sie oft brutal und grausam mit Ihren Texten und mit Ihrem Leben umgehen. Der Umstand, dass etwas wirklich so passiert ist, macht aus diesem Umstand noch keine Literatur.“

Bravo! Kompakter lässt sich dieser Ratschlag an Autobiographen kaum formulieren.

„5. Kapitel: Die Veröffentlichung autobiographischer Texte“. Alles richtig und pointiert, was hierzu geschrieben wird, aber eben von 1996…

Kurzum: Sieht man vom Datum der Erstauflage ab, ein unbedingt empfehlenswertes Buch für alle, die kreativ-biographisch schreiben!