»Ihr stinkt ja wie tausend Ochsen!«
Mein Pflichtjahr 1938 im Münsterland

Wie alle anderen Mädchen im Deutschen Reich, musste ich vor meiner Lehre zuerst das Pflichtjahr absolvieren. Vater schickte mich ins Münsterland zu Tante Klara. Auf ihrem Landgut lebten neben Onkel Hermann und Tante Klara neun Kinder, eine Magd und ein Pferdeknecht. Das älteste Kind war 13 Jahre alt, ich war nur ein Jahr älter!

Kaum war ich eingetroffen, wurde die Magd entlassen, weil sie 25 Mark im Monate kostete, und ich ja nur drei Mark. Schnell merkte ich, wie geizig Tante Klara war. Öhm, der Pferdeknecht, musste im Stall über den Pferden schlafen. Oft saßen noch Hilfsarbeiter am Tisch, die nur für ein paar Stunden arbeiteten, aber dafür fast kein Geld bekamen, sondern gerade mal eine warme Mahlzeit.

Tante Klara war nicht nur eine äußert geizige, sondern auch eine energische Frau. Sie brachte ihre Kinder zur Welt, legte sie in die Wiege und ging wenige Stunden später wieder aufs Feld. Sie war zu geizig, um jemanden anzustellen und ihm auch nur ein paar Pfennig zu gönnen. Die Kinder wurden in der Wiege nie an die frische Luft gestellt. Als ich eines der Babys im Sommer nach draußen stellte, lief es blau an. Erschrocken trug ich es wieder in die Stube zurück – das Kind hatte einen Sauerstoffschock bekommen. Mit meinem Onkel sprach ich das ganze Jahr kein Wort, so sehr lebte er in seiner eigenen Welt. Auch zu seiner Frau schien er keine Verbindung zu haben, sie lebten konsequent nebeneinander her.

Von Anfang an hatte ich viel zu tun in dem nagelneuen Haus mit vierzehn Zimmern. Jedes Kind hatte sein eigenes Zimmer, das kannte ich aus meiner Familie überhaupt nicht! Auf jeder Etage ein Bad, zwei große Wohnzimmer, ein großes Esszimmer, eine Stube mit Kamin, eine Backküche. Die Waschküche musste ich täglich sauber halten. Tante Klara war pingelig bis ins Detail. Jeden Freitag schob sie die Schränke und die Kommode von der Wand und schaute, ob noch Staub dahinter sein könnte oder eine frische Spinnwebe. Der Stall musste geschrubbt werden, jede Fliese, jedes Fenster musste glänzen.

Aber ich ließ mich nicht einschüchtern. Ich habe geputzt und gesungen. Die Bauern hörten mich immer singen, sie nannten mich »die lustige Vroni«. Ich riß alle Fenster auf und machte mir nichts daraus, dass mich jeder hören konnte.

Ich musste auch kochen, und das war das allerschlimmste, dass wir selbst nicht genug zu Essen bekamen. Eine Woche lang gab es nur Kartoffeln mit Rüben, eine Woche lang Kartoffeln mit Zwiebeln, mit Speck, mit Kohl, mit Kohlrabi, mit Spinat – mittags und abends. Abends gab es immer den Rest vom Mittag mit Pfannkuchen. Da kamen zwei Eier rein und ein Liter Milch, der Rest war Wasser und Mehl.

In der Früh bekamen wir eine Scheibe dünnes, selbstgebackenes Brot, mit einer Scheibe Schinken drauf. Jeder bekam das gleiche, der Knecht genauso wie der Onkel, der als Millionär eigentlich sich ein besseres Essen hätte leisten können. Aber das war egal. Tante Klara teilte alles ein, und jeder bekam seine Scheibe Brot. Selbstverständlich durften wir nur das essen, was sie auf den Tisch gestellt und was ich gekocht hatte. Als wir uns heimlich aus der Speisekammer bedienten, bemerkte sie es sofort und übergoß das Essen in den Töpfen mit Schweineschmalz, damit sofort zu sehen war, wen jemand darin rumgewühlt hatte. Alles andere war ja abgepackt in Dosen und Tüten. Trotzdem klauten wir Eier aus dem Hühnerstall und kochten sie heimlich. Aber das bemerkte sie auch, weil sie irgendwann die Eierschalen fand, die wir versteckt hatten. Das gab einen riesigen Ärger, aber wir hatten einfach Hunger, schließlich waren wir junge Leute!

Nur sonntags bekamen wir Fleisch zu essen. Außerdem erhielt Onkel Hermann jeden Sonntag sein Priemchen Kautabak, das aber nur 20 Pfennig kosten durfte. Mehr gestand seine Frau ihm nicht zu, als diese kleine Ration, auf der er dann eine Woche lang rumkauen musste. Ich musste sie ihm immer mitbringen, wenn wir sonntags von der Kirche kamen. Morgens um halb fünf gingen wir aus dem Haus, um rechtzeitig in der Kirche von Borkum zu sein. Das waren fünf Stunden Weg, hin und zurück. Außerdem mussten wir ein Pfund Zucker mitbringen.

Ich war damals nicht groß, so um die 1,5o, also ein kleines, zartes Mädchen. Samstags musste ich alle Kinder baden, anschließend sollte ich mich auch noch in das dreckige Wasser setzen. Da hab ich mich lieber nur kalt gewaschen – oder heimlich gebadet, wenn Tante Klara auf dem Markt war.

Als ich endlich Urlaub bekam und Anton, der älteste Sohn meiner Tante, mit zu uns nach Hause fahren durfte, schrie meine älteste Schwester, als wir zur Tür reinkamen und sie mir den Koffer abnahm: »Ihr stinkt ja wie tausend Ochsen!« Agnes steckte uns erst mal in die Badewanne und schrubbte uns tüchtig ab, dann konnten wir die 14 Tage Urlaub genießen, bevor es wieder zurück ging zu Tante Klara. Anton wollte gar nicht mehr nach Hause, so gut gefiel es ihm bei uns. Selbst seine jüngste Schwester musste daheim mit fünf Jahren schon die Kühe melken und immer arbeiten.
Als ich meinen Eltern schrieb, dass ich weglaufen würde, wenn sie mich nicht sofort abholten, weil ich es nicht mehr aushielt, wurde die Tante so böse, dass ich noch mehr zu arbeiten bekam. Kartoffeln schrubben, den Schweinetopf machen, die Kinder versorgen – wegzulaufen traute ich mich allerdings auch nicht. Irgendwie überlebte ich dieses Jahr dann doch.