»Ich will nicht erschossen werden.«
Wie ich meinen Mann Adi kennen lernte – Kempten 1942–1946

Kaum kam ich in Kempten an, erhielt ich wieder einen Stellungsbefehl und musste mich bei einem Zahlmeister melden, der mir erzählte, dass er aus Hagen in Westfalen käme. Er schaute mich an in meinem Dirndl und sagte: »Nee, Mädel, Du bist mir zu schade. Du hier in die Kaserne, in der Nähstube arbeiten? Da hast du keine Ruhe vor den Kerlen! Nee, diese Verantwortung übernehme ich nicht.«

Er half mir durch eine Empfehlung, dass ich eine Stelle als Modistin bekam. Zuerst wohnte ich bei Frau Hefele, und dann später bei Frau Herkommer in der Kornhausstraße im Obergeschoss. Eine Etage tiefer lebte ein Waffensammler, ein netter kleiner Mann um die siebzig, dem ich beim Polieren seiner Waffen half. Es waren wertvolle Sammlerstücke, teilweise aus Gold.

Als die Amerikaner 1945 in die Stadt einzogen, forderten sie mit Flugblättern alle Waffenbesitzer auf, ihre Waffen sofort im Kornhaus abzugeben. Der Sammler bat mich, ihm beim Vergraben seiner Waffen im Garten zu helfen. Die Hausbesitzerin war einverstanden, so wickelten wir die Waffen in Ölpapier, ich grub eine Grube und deckte danach alles wieder schön mit Laub zu, so dass niemand das frische Grab sehen konnte.

Dann kam ein zweites Flugblatt, direkt an die Waffenhändler gerichtet. Angedroht wurde, dass jeder, der seine Waffen nicht abgäbe, standrechtlich erschossen würde. Da bekam ich es mit der Angst zu tun, und der alte Mann weinte bitterlich.

»Das hilft alles nichts«, sagte ich. »Ich will nicht erschossen werden! Wir müssen die Waffen wieder ausgraben und abgeben.«

Ich trug sie allein ins Kornhaus, der alte Mann war dazu nicht mehr fähig. Ich kam in einen großen Saal, der bis zur Decke gestapelt drei Viertel voll war mit Waffen, die die Amerikaner später mit Lastwagen und Schiffen nach Amerika abtransportierten.

Erst kamen die Engländer nach Kempten, dann die schwarzen US-Soldaten, und dann wurden die Gefangenen, die in Kempten inhaftiert gewesen waren, freigelassen: Franzosen, Russen, die jedoch der Zivilbevölkerung gegenüber unaggressiv waren, während die Amerikaner sich nicht sehr vornehm benahmen. Besonders als Frau musste man vorsichtig sein, Vergewaltigungen waren an der Tagesordnung. Abends traute ich mich nicht mehr aus dem Haus.
Die Ernährung war in diesen Jahren nicht gerade üppig, aber gerecht. Jeder bekam das Gleiche. In Kempten hatte ich natürlich reichlich zu essen, denn die Kunden schenkten mir viel. Vor allem die Käser-Frauen hatten alles: Fleisch, Wurst, Gemüse und Käse ohnehin reichlich. Immer wieder legten sie mir etwas unter die Theke, damit ich bloß nicht verhungerte. So wurde ich immer dicker und dicker, wog bald 140 Pfund und schickte meine Lebensmittelkarten nach Hause, damit die Familie mehr zu essen hatte. Alle meine Lebensmittelkarten, die ich per Post schickte, kamen ordentlich daheim an. Wer Beziehungen hatte, bekam alles und ist auch nicht verhungert. Nur für Kleinkinder war die Situation schwierig, da war Unterernährung durchaus ein Problem, und auch die Gefangenen in den Lagern hatten mit dem Hunger zu kämpfen. Da wurden auch Würmer und Schnecken verschlungen, um zu überleben. Aber normalerweise reichten 1000 Kalorien am Tag völlig. Heute machen die Leute Diätkuren, um abzunehmen. Wir haben nicht gehungert.

Ich arbeitete bei der Modistin Blenck, deren Sohn in Obergünzburg Richter war und noch am letzten Kriegstag eingezogen worden war und am gleichen Tag in Donauwörth fiel. Das war für die alten Leute furchtbar. Bei uns im Geschäft kaufte übrigens die Frau des Generals Rommel ihre Hüte, die ich für sie genäht hatte. Rommels Frau lebte versteckt in Kempten, ich durfte Ihren Namen niemals aussprechen oder etwas darüber sagen, aber ich hatte sie natürlich durch die Fotos in den Zeitungen erkannt. Auch dem Opernsänger Richard Tauber habe ich in Kempten die Hüte genäht.

Entsetzt waren die Blencks, als ich eines Tages einen Mann nach Hause brachte und ihn vorstellte. »Veronika, was wollen Sie? Den Mann heiraten?«
»Nee, nee. Das ist nur ein Freund«, sagte ich – wir waren ja noch nicht so weit.
»Aber das versprechen Sie uns, den heiraten Sie nicht. Das ist kein Mann für Sie.« Und dann ist er es doch geworden. Weihnachten 1946 kündigte ich in Kempten.

Kennen gelernt hatte ich Adi als Soldat im Gasthaus Haslach, wo ich auch zuerst gewohnt hatte, als ich nach Kempten kam. Das Rote Kreuz hatte immer einige Zimmer reserviert, die Neuankömmlingen zugeteilt wurden, bis sie eine feste Wohnung gefunden hatten.

An diesem Tag kamen auch die letzten 24 Mann einer Division nach Kempten, die in dem Gasthaus zusammengelegt wurden. Unter den Soldaten war mein späterer Mann. Ich half der Wirtin Frau Häfele in der Küche und bei der Wäsche. Weil die Männer so verhungert aussahen, legte ich ihnen immer eine Extraportion Fleisch zu ihrem Stammessen, verdeckt durch das Gemüse, damit die Soldaten es nicht sofort sahen.

An meinem 21. Geburtstag lud ich das Lehrmädchen und eine Arbeiterin, mit denen ich mich etwas angefreundet hatte, zum Kaffee ein. Da kamen zwei Soldaten in das Café, die ich bereits aus dem Gasthaus kannte. Weil ich nicht mit meinen Leuten Wein trinken und Kuchen essen und die Soldaten, die von der Front kamen, zuschauen lassen konnte, ging ich zu ihnen hinüber und lud sie zu uns an den Tisch ein. Sie nahmen die Einladung gern an. Heimlich hatte ich zuvor geschaut, ob sie Eheringe trugen, weil ich große Angst vor Soldaten ohne Ehering hatte. Sie trugen welche, wobei einer der beiden den Ehering schnell in die Tasche steckte. Ich bemerkte es sofort und sagte: »Jetzt sind Sie bitte so lieb und machen das rückgängig.«

»Sie sind aber sehr aufmerksam! Doch es ist nur ein Verlobungsring.«

Ich sagte ihm, dass ich Angst vor Soldaten hätte. Darüber lachten sie. Einer von ihnen hieß Adolf.
Wir verbrachten einen netten, lustigen Nachmittag und haben viel gelacht. Aus dem Radio kam ein Lied: »Zum Abschied reiche ich dir die Hände und sage ganz leise auf Wiedersehen.«
Da sagte Adolf: »Schau, das tun wir auch. Darf ich Sie nach Hause bringen?«

Ich erlaubte es ihm und wir unterhielten uns gut, denn es war ein weiter Weg. Bei der Verabschiedung fragte er mich, ob er mich wiedersehen dürfte.
»Ja, wieder im Cafe.«
»Nein, nein«, meinte er, »zum Spazieren gehen.« Ich war damit auch einverstanden. Also habe ich diesen Adolf wiedergetroffen und sechs Wochen lang wunderschöne Spaziergänge mit ihm unternommen, bevor er wieder versetzt wurde. Bei einem dieser Spaziergänge stellte er verwundert fest: »Du bist überhaupt nicht aufgeklärt, du weißt ja nicht einmal, was ein Mann und was eine Frau ist.«

Da musste ich ihm Recht geben, denn ich wollte davon überhaupt nichts wissen, weil ich schon immer Angst vor Männern hatte. Man hat ja nie etwas Schönes darüber von Freundinnen und Bekannten gehört. Und so wusste ich auch nicht, was oder wie es zwischen den Geschlechtern läuft.

Adolf war dann so nett und fragte mich, ob es mir recht wäre, wenn er mich aufklären würde, was er dann auch getan hat mit so lieben und verständlichen Worten, wie es kein Vater und keine Mutter besser hätten machen können. Ich war ihm dafür sehr dankbar, denn ich wusste ja nicht einmal, wo die Kinder herkommen, weil in meiner Familie dieses Thema niemals erwähnt wurde, man hat darüber einfach nicht gesprochen, nicht einmal mit den Geschwistern.

Als Adolf weg war, trat Adi wieder auf den Plan. Weihnachten 1944 wollte ich nach Hause nach Brilon fahren, bekam aber keinen Bezugsschein. So fuhr ich Silvester. Adi, der wie ich wusste, mit einer Frankfurterin verlobt war und mit dem ich daher nur eine lockere Kameradschaft pflegte, brachte mich zum Bahnhof. Der Zug war schon gerammelt voll, die Leute kletterten durch das Fenster in die Abteile oder standen eng zusammen gepresst draußen auf den Plattformen zwischen den Zügen. So fuhren wir 13 Stunden und länger im Schneckentempo bei winterlicher Kälte durch Deutschland.

Adi fragte mich, ob er mir schreiben dürfte, wenn ich wieder nach Kempten zurück käme und er nicht mehr in der Stadt wäre.
»Ja«, sagte ich. »Sie können mir ruhig schreiben. Warum sollten Sie mir nicht schreiben?«

So ist unsere Beziehung langsam durch Briefe gewachsen, vor allem, als er mir erzählte, dass er bei seiner Braut in Frankfurt gewesen wäre und feststellen musste, dass sie ein Kind von einem Amerikaner erwartete. »Ich hab zu ihr gesagt: Ich mache Schluss mit dir, denn Kinder kann ich selber haben. Dafür brauche ich keinen Amerikaner.«
Er schrieb mir eindringliche Briefe voller Liebe und Zärtlichkeit, dass nur ich es wäre, die er begehrte. Wenn wir uns zwischendurch trafen, erzählte er mir häufig, wie schlecht er es zu Hause habe, wie sehr ihn seine Eltern schikanierten und lieblos behandelten. Er hatte weder eine schöne Kindheit noch eine schöne Jugend. Die Mutter war schon 60 Jahre alt, als er zehn war, der Vater war ähnlich alt. Sie hätten seine Großeltern sein können! Seine Mutter hatte überhaupt keine Beziehung zu Kindern, alles machte das Dienstmädchen. Auf diese Weise konnte keine Mutterliebe entstehen. Adi wurde streng erzogen, er musste lernen, was der Vater wollte, der lieblos in einem Internat aufgezogen worden war. Aber Adi war ein sehr guter Schüler, wie mir später die Nachbarn erzählten. Oft weinte er, was mich irritierte: von einem Soldaten erwartete man ein anderes Verhalten. Aber mit seinem Heulen erreichte er alles, was er wollte. Er fragte mich, ob ich seine Frau werden möchte, und ich sagte ja. Weil er aber wieder nach Russland zurück musste, dachte ich mir nichts weiter dabei.

Dann wurde Adi als Kriegsgefangener nach England verfrachtet, von wo er am 28. Juli 1945 zurück kam. Erst als er wieder in Ottmarshausen war, merkte ich, dass er es ernst meinte. Meine spätere Schwiegermutter erzählte mir, dass sie genau dieses Datum seiner Rückkehr geträumt hätte. Er schrieb mir an diesem Tag folgenden Brief, den mir ein Soldat überbrachte:

Mein Liebes!             28. 7. 45
endlich ist der Tag der Entlassung gekommen. Ich bin zur Zeit noch auf der Fahrt nach Hause und hoffe, morgen, Montag zu Hause bei meinen Eltern zu sein. Nachdem ich über die Verhältnisse zu Hause noch nicht informiert bin, kann ich dir nichts genaues schreiben. Wenn es mir möglich ist, werde ich eventuell in der nächsten Woche mit dem Rad nach Kempten kommen und mehr zu schreiben ist das Papier zu wenig. Näheres kann mündlich besprochen werden. Ich habe ja die Absicht, mir in Kempten oder Umgebung eine Arbeit zu suchen. Sei bis zum Wiedersehen herzlich gegrüßt mit einem zärtlichen Kuss,
Dein Adi
An Tante Fanny (meine Vermieterin) auch herzliche Grüße.

Einige Monate später besuchte er mich in Kempten und wollte wissen, ob ich seine Frau werden wollte. Ich habe gelacht: »Ich will nicht heiraten. Ich habe nie vorgehabt, einen Mann zu ehelichen.«
»Ja, warum nicht?« wollte er wissen. »Sie haben mich doch jetzt so sehr verwöhnt, und wenn Sie mich weiterhin so verwöhnen, dann kann ich mir vorstellen, dass Sie unbedingt einen Mann brauchen zum Verwöhnen. So stelle ich mir das vor.«

Er war ein Charmeur und hat es dann tatsächlich geschafft, aber wir waren immer noch per Sie bis kurz vor der Verlobung. Später sagte er zu mir: »Du bist mir immer vorgekommen wie ein Engel, ich durfte dich nicht anrühren.« Das hat er auch nicht gemacht, er hat mich wohl mal an der Hand genommen oder meinen Arm berührt, aber nichts weiter. »Du warst mir einfach zu schade!«

Mit meinen Geschwistern und Eltern daheim hatte ich immer Kontakt. Wir schrieben uns viele Briefe, daher wusste ich, dass eine der Schwestern meines Vaters, die früher mit ihrer großen Künstlerfamilie in Geldern gelebt hatte, zu uns nach Brilon geflüchtet war. Onkel Josef war Maler und Bildhauer, von ihm gibt es noch viele Denkmäler, die er geschaffen hat. Vielleicht kommt von daher meine künstlerische Neigung. Seine Frau, Tante Paula, hatte ebenso wie wir viele Kinder, zwölf bis fünfzehn. Sie waren sehr wohlhabend und versteckten ihren Schmuck und die anderen Wertsachen in einer großen Truhe, die sie bei uns im Wintergarten aufstellten und die nur mit einer Decke bedeckt war.

Obwohl meine Eltern immer wieder SS-Leute und nach Kriegsende amerikanische Soldaten aufnehmen mussten, fragte niemand jemals danach, was in der Truhe wäre. Alle Soldaten, Deutsche ebenso wie Engländer und Amerikaner, saßen abwechselnd auf der Schatztruhe und jeder in der Familie zitterte. Aber mein Vater war zu allen gastfreundlich, ob es Juden waren, die er im Keller versteckt hatte, arme Leute oder Soldaten, er bemühte sich immer darum, dass es allen bei uns gut ging. Angesichts des Elends der Welt sagte er oft: »Der Tag kommt, da wird sich die Erde spalten und das Wasser wird alles überfluten. Dann ist diese Welt zu Ende.«