Lieber Herr Serg,

wie versprochen, habe ich Ihren 5-seitigen Text heute gelesen – durchaus mit Interesse. Vieles darin ist auch gut – allein schon die Tatsache, dass Sie dieses Genre des autobiographischen Texts gewählt haben.

Sie schreiben detailliert zur Vorgeschichte der Fußball-WM 2006 in Deutschland und wie Sie darin zum Fanfest-Volunteer in Hannover wurden. Sie berichten von Ihren einzelnen Einsätzen, von den „Schichten am Waterlooplatz schieben“. Das ist sachlich interessant und so haben Sie es auch geschrieben. Doch einen guten, lebendig geschriebenen autobiographischen Text machen weitere Elemente aus, die ich in Ihrem Schreiben leider vermisse.

Ich vermisse an erster Stelle Sie als Erzähler, als Person, als jungen Mann, den ich kaum in dem Text wiederfinde: Wie sehen Sie aus? Was für ein Typ sind Sie? Wie sprechen Sie? Was sind Ihre Leidenschaften – außer dem Fußball? Die Figurenzeichnung – so nennt man das in der Kunst des Schreibens – fehlt in Ihrem Text. Nehmen wir dazu dieses Beispiel:  

„Die frohe Kunde, dass ich unter den Auserwählten war, erreichte mich per Handy, als Moni, Kevin und Fred und ich gerade auf dem Leipziger Fanfest waren und uns Frankreich gegen Südkorea ansahen, das nur wenige hundert Meter entfernt im Zentralstadion stattfand.“

Fragen wir uns: Wer sind Moni, Kevin und Fred? Schauen Sie: „Namen sind Schall und Rauch“, sagt Goethe, und wenn dem Leser nur Namen und keine Figurenzeichnung und Handlung zu den Namen geliefert wird, ist das sinnlose Information. Da könnte genauso „Michi, Doro und Theo“ stehen und wäre genauso überflüssig.

Gehen wir weiter in Ihrem Text: „Die Stimme am anderen Ende fragte mich, ob ich Lust hätte, einer derjenigen zu sein, die vor dem Spiel Polen gegen Costa Rica in Hannover auf den Platz laufen und die FIFA Fahne aus dem Mittelkreis vom Spielfeld tragen würden. Ich hatte schon davon gehört, dass die Organisatoren versuchen wollten, dieses Erlebnis möglichst vielen Volunteers zu ermöglichen. Dass ich nun aber tatsächlich ausgewählt wurde, freute mich dermaßen, dass ich während des Telefonats meine Umgebung kurzzeitig durch einen verschwommenen Schleier sah.“

Das ist eine sehr wichtige, emotionale Szene in Ihrer WM-Autobiographie. Hier wäre ein Dialog angebracht, damit man die „Stimme am anderen Ende“ auch hören kann, und natürlich das, was Sie antworteten. Vielleicht war das nur ein Stottern, oder ein „Oh geil, ich fass es nicht!“ Im Hörfunk nennt man das bei Reportagen „O-Ton“ – der Leser möchte jetzt ganz dicht bei Ihnen sein und alles hören und fühlen, was Sie in diesem Moment gehört und gefühlt haben. Der „verschwommene Schleier“ ist dafür ja ein schönes Bild.

Nehmen wir ein anderes Beispiel: „Im Vorfeld der Partie war von Seiten der Polizei zu hören, dass polnische Hooligans in Hannover unterwegs seien und eventuell abends am Fanfest für Ärger sorgen wollten.“

Auch hier wäre ein Dialog spannend! Wer sagt Ihnen das? Was hat derjenige genau gesagt? Wie haben Sie und Ihre Kollegen reagiert? Wo haben Sie davon erfahren? Neben der Figurenzeichnung fehlt in Ihrem Text leider auch das Lokalcolorit: Wie sieht der Waterlooplatz aus? Wie sieht es dort aus, wo Sie und die Fans agierten?

Und zum Schluss: „Wir rüsteten uns mit Fahnen der beiden Länder aus, tranken im Biergarten noch ein paar Halbe, trafen dabei den Trainer eines Schweizer Zweitligisten, mit dem es einiges zu fachsimpeln gab und sahen schließlich einen 2:0 Sieg der Eidgenossen über die Südkoreaner. Auch Robert hatte nun also sein ganz eigenes Stückchen WM abbekommen und fuhr dementsprechend zufrieden wieder nach Blessingen zurück, während ich gleich in Hannover blieb, da am nächsten Tag die Arbeit rief.“

Sie bleiben letztlich beim einfachen Berichten, lieber Herr Serg. Doch eine Grundregel des lebendigen Schreibens lautet: „Show, don’t tell.“ Führen Sie dem Leser die WM bildhaft und sinnlich vor Augen, und zwar durch Ihre Augen gesehen! Das machen autobiographische Texte aus: „Die Welt“ bzw. einzelne Szenen daraus mit den Augen eines Menschen gesehen und erlebt. Deshalb ist es so wichtig, dass Sie als Person dem Leser vor Augen treten und ihm dadurch vertraut werden.

Gute Autoren schreiben so lebendig und facettenreich, als erzählten sie es ihrem besten Freund. Lesen Sie Autobiographien – meinetwegen von Fußballspielern und -trainern, auch wenn das oft keine großen Sprachkünstler sind. Vor einigen Jahren habe ich die Autobiographie des Fußballtrainers Rudi Gutendorf geschrieben („Mit dem Fußball um die Welt“), das kann durchaus als Lehrbuch spannender Fußballer-Autobiographien gelten. 

Also nicht verzagen, Herr Serg: Trainieren Sie täglich das Schreiben, so wie sich „unsere Jungs“ täglich auf dem Fußballfeld abrackern!

Mit besten Grüßen
Andreas Mäckler