Ich freue mich über jedes Feedback meiner Kurs-Teilnehmer, so auch über dieses von Johanna Holze, das mich vorgestern erreichte:

Sehr geehrter Herr Dr. Mäckler,
am Ende von Biographiebrief Nr. 10 (Abschluss von Teil I) baten Sie um ein Feedback über die bisherige Arbeit. Da ich länger unterwegs war, habe ich nicht gleich antworten können. Aber der Arbeitsplan läuft ja zum Glück nach individuellem Tempo. Aber auch wenn ich die Maschine nicht dabei habe: ein Heft ist immer dabei, und immer wieder Augenblicke Zeit für Notizen.

Also: Ich hatte irgendwann mal auf Grund einer Anregung zum biographischen Schreiben angefangen, die einzelnen Wohnorte und Wohnungen meines Lebens unter die Lupe zu nehmen. Da habe ich eine beträchtliche Anzahl zu verzeichnen (13 Wohnorte, ca. 20 Wohnungen). Einiges hatte ich schon zusammengeschrieben, ehe Ihr Vorschlag mit den Blättern für jedes Lebensjahr kam.

Mit einem Mal hatte ich das Gefühl, ich könnte so etwas wie eine Struktur in meine Aufzeichnungen kriegen. Ich fing also an zu schreiben, zu sammeln. Besorgte mir auch eine Chronik des 20. Jahrhunderts, die allerdings bei 1984 endet. Da werde ich mir für die weiteren Jahre noch ein ergänzendes Exemblar beschaffen.

Was dann passierte, das war fast so eine Art Dammbruch. Wo ich anfangs glaubte, nichts Wesentliches erlebt zu haben, da fingen in der Beschäftigung mit meinem Leben plötzlich die Erinnerung aus der Tiefe herauszusprudeln. Erst diffuse Bilder oft, und sobald es an die Versprachlichung ging, fügte sich ein Detail an das andere, drängte sich ein Bild hinter dem anderen aus dem verschwommenen Dunkel der vergrabenen Erinnerungen hervor.

Bei meinem Vater, der vor nicht allzu langer Zeit erst im Alter von 93 Jahren starb, machten wir Geschwister die Erfahrung, dass ein „Erzähl doch mal von früher“ oder „Wie war es mit…“ usw. Nicht ausreichte. Wir waren oft enttäuscht, dass er uns nur so wenig erzählen konnte aus seiner Vergangenheit, die doch eine besondere Vergangenheit war (zwei Weltkriege, NS-Zeit, Mauer, 2 Deutschland, Wiedervereinigung etc.). Sein Erzählen erschöpfte sich jedesmal schnell bei dem, was wir von ihm schon kannten.

Mir wird jetzt anhand Ihrer ausgearbeiteten Anregungen deutlich: wir hatten nicht die richtigen Fragen gestellt, nicht die richtigen Hinweise gegeben. Die Fragen sind es, die den Blick in versunkene Ecken richten und diese ganz neu auszuleuchten in der Lage sind.

Das merke ich jetzt und jedesmal neu, wenn ich an so versunkene Ecken gerate. Ich habe noch die Möglichkeit, meine alte Mutter, andere sehr alte nahe Verwandte mit neu gestellten Fragen zum neuen Erzählen zu bringen und erfahre dabei unglaublich viel nicht nur über mein Leben, sondern auch über das ihre, das ja mein Leben beeinflusst und ihm manche Richtung gegeben hat.

Mir steht zum einen mein „Museumsleben“ oft wieder bildhaft deutlich vor Augen (d.h. ich habe Dinge ge- und erlebt, die werden heute in Heimatmuseen gesammelt und zur Schau gestellt).

Zum andern staune ich beim Stöbern durch die Chronik des 20. Jhs, wieviel Weltgeschichte so ein Menschenleben, mein Leben! fasst, was alles im täglichen Kampf um Bestehen im Beruf, Kindererziehung, Haushalt, Hobby, Lebenseinbrüchen zwar oft erschüttert hat, dann aber wieder den näherliegenden Alltagserfordernissen „geopfert“ werden musste.

Ich bin dankbar, dass ich mir mit Hilfe Ihrer Anregungen jetzt die Zeit nehmen kann, alle diese Jahre noch einmal unter die Lupe zu nehmen. Denn auch bei meinen mittlerweile erwachsenen Töchtern erlebe ich, dass sie nicht fragen. Mir liegt daran, ihn oder vielleicht sogar meinen Enkeln Einblick zu geben in  mein Leben, Denken, Fühlen. Leben verstehen hilft Leben verzeihen und den Blick nach vorne richten zu können. Es ist deshalb so schade, wenn Lebenslücken so groß sind, dass der Weg zum Verstehen vielleicht unnötig schwierig wird.

Inzwischen versuche ich nach und nach, das, was ich über die „Wohngen meines Lebens“ zusammengeschrieben habe, in die „Jahresblätter“ einzufügen.

Die Arbeit schreitet voran, ein großes Puzzle, zum großen Teil noch nur aus einzelnen unzusammenhängenden Teilchen bestehend. Aber bei einzelnen Eckchen ist schon vorstellbar, was daraus werden könnte. Spannend! Und ich bin gespannt. wie es weitergeht.

Herzliche Grüße Ihnen,
Johanna Holze