Ein schwieriger Tag

Heute ist so ein Tag, an dem es gut ist, dass mir hier keiner in die Quere kommt, vor allem nicht die Oma. Warum, es gab eigentlich keinen Grund. Ich hatte nachts sehr gut geschlafen, für mich ist das nach vierzig Jahren extremer Schlafprobleme etwas Besonderes. Hab morgens noch mit Libero im Bett gekuschelt und bin dann aufgestanden. Sofort merkte ich, dass mein operierter Zeh mehr wehtat als am Tag zuvor, das störte mich schon mal gewaltig. Die Nase war auch wieder zu, hatte leichte Halsschmerzen, seit mehreren Wochen eine ständige leichte Erkältung, war schon beim Lungenarzt. Außer einem Lungenemphysem, was ja schlimm genug ist und weshalb ich auch überhaupt nicht mehr rauchen sollte, hat er nichts fest gestellt. Warum ich dauernd heiser bin, weiß niemand. Ein Allergietest wurde gemacht, da ist ebenfalls nichts bei rausgekommen. Na, jedenfalls nerven diese Dinge mich heute wieder einmal gewaltig.


Frühstück, da fiel der Kaffee um beim Apfelschneiden, als ich merkte, dass mir die Brille fehlte, die wollte ich aber nicht holen, weil mir der Fuß wehtat. Also ohne Brille schneiden, hab mir aber fast in den Finger geschnitten. Libero bellte vor der Haustür, also musste ich doch laufen und ihn reinlassen, so humpelte ich über den Flur zur Haustür. Dann fiel mir ein, dass ich nachts wieder einmal Krämpfe in den Beinen hatte, bis in den operierten Fuß, was höllisch wehgetan hatte. Warum das schon wieder? Ich nahm doch Magnesium, hoffentlich war jetzt die Operationsnarbe nicht entzündet.

Irgendwie saß ich dann am Tisch, trank nicht gerade fröhlich meinen Kaffee, löffelte säuerlich meinen Quark mit Äpfeln, blätterte lustlos in der Zeitung. Jetzt quengelte auch noch der Hund und wollte mit mir spielen. Ich aber nicht! Jetzt brauchte ich eine Zigarette, hatte mir schon so viel ungesunde Dinge abgewöhnt, meine ganzen Suchtproblematik in den Griff gekriegt, aber ab und zu brauchte ich die Pause vor der Tür – und auch vor mir selbst.

Dann kam der Nachbar, ich wollte aber allein sein. Er erzählte mir, dass die Lampe an der Hausecke dauernd flackerte. Ja, das wusste ich schon ein paar Tage, aber wie sollte ich das abstellen? Er kann mir ja helfen! Jetzt wollte ich aber nach oben. Ich glaubte, durch Fahrradfahren auf dem Heimtrainer würde meine Laune besser. Ich stellte das Radio an und legte los. Musste natürlich mit meinem Fuß aufpassen. Die Laune wurde nicht besser. Jetzt tat es auch noch an der Hüfte weh, ein Knie machte Probleme, der Hals war äußerlich total verspannt, es störte mich plötzlich alles an meinem Körper. Das war ein Gefühl, als wenn ich im falschen Körper sitze und ihn mir am liebsten ausziehen würde. Solche Zustände hatte ich ab und zu, da wusste ich einfach nicht, wohin mit mir, und alle möglichen Dinge störten, mich. Gut, dass Oma das heute nicht mehr erlebte, denn da wäre ich garantiert wieder ausgerastet. Wenn ich sie mit ihrem Alter und den körperlichen äußeren Alterserscheinungen an so einem Tag sah, wurde meine schlechte Laune noch schlimmer. Ich bekam Angst, dass ich auch bald so dasitzen würde und alles noch schlimmer wäre. Ich sah wie in einen Spiegel, und das könnte ich gar nicht mehr aushalten. Meine Mutter dagegen konnte das verdammt gut, darin beneidete ich sie wirklich. Sie war ohnehin viel gelassener und nahm Dinge einfach hin, solange sie nicht lebensbedrohlich waren.

Am besten weglaufen, flüchten wie immer, aber wohin? Altern war nun mal normal und davor weglaufen konnte ich an keinem Ort auf dieser Welt. Ich wollte aber nicht ständig mit diesen ganzen Schwierigkeiten leben – ich wollte fit sein, jung sein, keine Probleme haben, nicht leiden müssen! Oh nee, und wenn ich dann auch noch meine Mutter sah, fast dreißig Jahre älter als ich, das wollte ich nicht! Da brauchte sie nur irgendetwas zu sagen – was, war egal, es wäre alles falsch gewesen! Ich explodierte einfach, bis ich nur noch schrie, und meine arme Mutter bekam die ganze Ladung Unwohlsein ab. Hinterher entschuldigte ich mich zwar immer, aber erstmal verletzte ich sie mit meinen Worten.

Ja, und heute war so ein Tag. Libero hab ich auch schon angeschnauzt, ist ja sonst niemand da. Im Radio kam ein Beitrag über ein neu erschienenes Buch über das Älterwerden. Wie sagte der Moderator? Man kann dem Alter humorvoll entgegengehen oder voller Frust. Natürlich, das wusste ich auch und musste plötzlich lachen. Soviel zum Thema Leben. Früher hatte ich mich mit irgendwelchen Mitteln von mir weggebeamt, wenn ich nicht zum Aushalten war. Dieses Wegdriften ging schon lange nicht mehr, weil ich aufgehört hatte mit diesem Selbstbetrug, und deshalb schrie ich einfach nur, so als wenn alles Unwohlsein rausgeschrien werden wollte. Nun, heute konnte ich außer dem Hund niemanden anbrüllen.

Beim Fahrradfahren kam ich voll ins Schwitzen und musste mich duschen. Das ging auch nicht gut, da ich nicht wusste, wie ich meinen Fuß hinstellen sollte. Dann fiel mir das Handtuch runter, ich kam nicht dran, dann klingelte das Telefon, dann bellte der Hund. „Oh, lasst mich doch alle mal in Ruhe!“, schrie ich nur noch.

Das Anziehen lief auch erschwert ab, weil ich mit dem operierten Zeh am Hosenbein anhakte. „Aua, Mensch!“, brüllte ich, und zu meinem Hund, weil der schauen wollte, was los war: „Hau ab!“ Dann redet ich mit mir selber und Libo meinte, da kommt jemand, lief die Treppe runter und bellte heftig. Irgendwie kam ich in meine Klamotten rein. Jetzt aufräumen, der Fuß tat aber weh, den musste ich erst verbinden und meinen Spezialschuh anziehen. „Oh, und diese Nase!“, brummte ich, „Mensch!“

Wieder das Telefon, wo war das jetzt? Nur die Sprachbox. Es war Konstantin, der mir sagen wollte, dass ich den Fernseher anstellen solle, um die Kanzlerwahl zu sehen. Ja, ich weiß, aber das passt jetzt gerade nicht – nur dann ist Konstantin sauer! Ich wollte eigentlich gleich am Computer schreiben. Computer angestellt, kann schon mal warm laufen, jetzt den Fernseher. Oh Schitt, warum ging die Fernbedienung wieder nicht, jetzt war er ja ganz aus, na toll! Ich saß auf der anderen Bedienung. Hoffentlich kriegte ich das wieder hin. Jetzt also noch Druck im Kopf, der immer kam, wenn etwas Unvorhergesehenes passierte. Ich kriegte Angst oder ein ungutes Gefühl, etwas kam auf mich zu, ich könnte es nicht schaffen. Früher hieß das, ich kann es nicht, heute, es könnte sein, dass ich es nicht kann. Immerhin eine Verbesserung. Also ich drückte auf den Fernbedienungen rum, es ging mir alles viel zu langsam. Jetzt verpasse ich die Amtseinführung doch noch. Endlich kam ein Bild. Gott sei Dank, der Fernseher war nicht verstellt. Gut, da krieg ich ja noch den Rest mit. Prompt rief auch Konstantin noch mal an, als ich schon am PC saß und angefangen hatte, zu schreiben.

Was macht mich heute nur so kirre!, dachte ich zwischendrin.
Vielleicht dieses! Ich wollte eigentlich nach Witzenhausen fahren und mein Bild in der Malschule fertig malen, aber ich konnte unmöglich hier weg, wenn der Libo nicht vorher draußen war. Die Stefanie, die ihn die letzten Tage zum Laufen abgeholt hatte, kam wohl heute nicht. Und beides bekam ich mit dem lädierten Fuß nicht hin. Ja, mal richtig wieder spazieren gehen, das fehlte mir schon die letzten zwei Wochen. Und der Fuß tat ja nun heute vermehrt weh. Eben, ich konnte mich nicht so bewegen, wie ich wollte, war eingeschränkt, dann noch der Hund. Den brauchte ich, weil ich sonst ja ganz allein war, niemanden zum Knuddeln hatte, und hier in der Pampa brauchte ich einen Wachhund. Da war es wieder dieses Gefühl von eingesperrt sein, nicht weg können, nicht flüchten können. Das Zauberwort hieß: Annehmen, akzeptieren. Nur damit hatte ich mein Leben lang schon Schwierigkeiten. Bloß weg aus einer Situation, die ich nicht wollte. Und am Liebsten gleich weg aus meinem gesamten Körper und Leben.

Früher habe ich diese Zustände mit „Stoff“ betäubt, seit Jahren blieb mir nur die Flucht auf den Beinen oder mit dem Auto. Aber das ging gerade nicht, welches Ventil soll ich jetzt nehmen?

Ich bin allein

Meine Mutter ist tot und ich bin hier in meinem Elternhaus allein mit meinem Hund. Gerade habe ich mir einen Fernsehfilm mit einer Hochzeit angeschaut und mir ist schmerzlichst bewusst geworden, dass ich immer allein war und heute wieder bin. Beziehungen kamen und gingen, nichts war von Dauer, immer schwierige Konstellationen, so als wenn neben meiner Mutter niemand anderes Bestand haben konnte, und jetzt ist auch sie tot und ich bin wirklich ganz allein. Allein in einem Haus, nur mit meinem Hund, und ich bin im Moment in einem Zustand, wo ich am Liebsten gar nicht mehr da sein möchte.

Mir wird bewusst, dass ich wieder mal im Abseits stehe, wie in einem tiefen dunklen Loch, aus dem ich nicht raus komme. Ich verstehe es auch wunderbar, die wenigen Einladungen von anderen Menschen zu torpedieren, um dann diesen unglaublichen Schmerz aushalten zu müssen oder zu können. Als Kind wurden meine Freundschaften kontrolliert, oder ich durfte überhaupt keine haben, und jetzt könnte ich raus, irgendetwas anderes noch mit meinem Leben anfangen, aber ich tue es nicht. Es ist ein ständiger innerer Konflikt oder Kampf gegen mich, gegen die Freiheit, für den Knast.

Heute wollte ich gern in einen Film in Witzenhausen gehen. Habe meinen Tagesablauf so hinbekommen mit Hund mit Laufen, dass ich wunderbar Zeit dazu gehabt hätte. Was tue ich, rede mir irgendwelche Dinge ein, warum es besser wäre, zu Hause zu bleiben, bis es dann Gott sei Dank zu spät ist. Lara war sogar hier, leider haben wir uns verpasst, aber noch miteinander telefoniert, und sie wollte mit mir zusammen in diesen Film gehen.

Was tue ich, sage ab und bekomme sogar noch Durchfall, sodass ich noch ein wunderbares Alibi habe! Anschließend schaute ich meine Serie im Fernsehen, die ich inzwischen wie mein eigenes Leben brauche. Ich schaue zu, wie andere Menschen leben. Schon als Kind stand ich immer daneben und musste zuschauen, wenn andere Kinder spielten, weil ich nicht mitmachen durfte. Ich stand da und war traurig, und genauso mache ich es immer noch. Jetzt bin ich gesundheitlich gehandicapt, und das Alter macht die Dinge auch nicht gerade einfacher. Es ist ein inneres Gefühl wie beim Autofahren: Gas geben und bremsen gleichzeitig. Dieses Zerrissenheitsgefühl und ständiger Kampf innerlich! Ich will, ich will nicht, und natürlich unterstützt von jeder Menge Angst.

Diese inneren Konflikte haben mich auch vor vierzig Jahren zu Alkohol und später Schlaf- und Beruhigungstabletten gebracht. Es ist tatsächlich ein Zustand, der schwer auszuhalten ist. Nur haben mich viele Jahre Therapien zumindest heute soweit gebracht, dass ich weiß, dass es überhaupt nichts bringt, mit Drogen mich zu beruhigen oder gefühlsmäßig innerlich abzutöten. Dann muss ich auch noch diesen ganzen Dreck aushalten, es bringt einfach nichts. Vor allem weiß ich inzwischen, diese Tiefs gehen vorbei, es wird heller, und dann plötzlich scheint die Sonne wieder. Eigentlich wie in der Natur, ich muss es annehmen, wie es kommt.

Am Schlimmsten sind die Wochenenden. Früher hatte ich einen Beruf, bei dem ich an den Wochenenden arbeiten musste und in der Woche freihatte. Das war für mich am besten, weil ich meist an den Wochenenden die größten Probleme hatte, denn da gingen Familien spazieren oder unternahmen sonst irgendwelche schönen Dinge.
Als Kind war ich meist an diesen beiden Tagen auch allein, weil sich meine Eltern mal wieder heftig stritten und gerade an diesen Tagen der Zoff am größten war. So saß ich dann traurig vor der Tür oder verkroch mich ins Bett, um möglichst nicht aufzufallen, denn sonst gab es am Ende wegen mir auch noch zusätzlichen Ärger. Vielleicht sollte ich mir auch jetzt irgendeinen Job für diese zwei Tage suchen, aber was? Es gibt kaum freie Stellen, und mit meinen körperlichen Handicaps, wo soll ich etwas finden?

In den letzten zwanzig Jahren habe ich viele Dinge im alltäglichen Leben ohne Mut machende Stoffe gelernt, vor allem Pflichten wahrzunehmen, vorwiegend in Arbeitsstellen, als alleinerziehende Mutter bei meinen Kindern und später bei meiner Mutter. Aber alles, was darüber hinausging, habe ich bis heute nicht richtig gelernt. Werde ich mal eingeladen ins Kino oder bei meinen Cousins zum Geburtstag oder zu anderen Feierlichkeiten, sage ich ab oder es geht mir immer schlechter, je näher der Termin kommt. Dann kriege ich zunehmend Angst und werde manchmal sogar krank, sodass ich dann absagen muss. Nur kann ich nicht gerade sagen, dass es mir zu Hause wirklich gut geht. Ich bin zwar erleichtert, dass, wie man so sagt, der Kelch an mir vorbeigegangen ist, aber ich bin auch traurig, dass andere feiern und ich zu Hause sitze.

Genau wie früher in meiner Kindheit. Ich wollte zum Beispiel zum Schlittenfahren mit anderen Kindern, dann kam ich nach Hause, habe mich gefreut, doch ich durfte nicht. Die Freude war dahin und ich musste zusehen, wie andere Kinder fröhlich zusammen waren, und dann kam ich noch am nächsten Tag in die Schule und wurde angequakt, warum ich wieder mal nicht dabei war. Ich wurde in meiner Schulzeit zum Außenseiter gemacht von meinen Eltern, vorwiegend von meiner Mutter. Zudem musste ich teilweise unmögliche Kleidungsstücke anziehen, die auf alle Fälle warm waren, da meine Mutter immer Angst hatte, dass ich krank werden könnte. So hatte ich manchmal im Sommer, wenn andere Kinder schon Söckchen trugen, dicke lange Strümpfe an, und somit sah ich äußerlich schon ganz anders aus, tatsächlich wie von einem anderen Stern. Dann kam dazu, dass ich bei allen möglichen Aktivitäten unter Kindern nicht mitmachen durfte, zum Beispiel sich im Dorf treffen oder eben zusammen Schlitten fahren. Ich durfte nicht und wenn, dann nur mit meiner Mutter zusammen. Das kam alles nicht gut an bei meinen Mitschülern. Ich wurde regelrecht gemobbt. Man lachte über mich, rempelte mich an, eine ganze Meute lief grölend hinter mir her und wollte mich verprügeln. Manchmal ging das durch das ganze Dorf bis vor die Molkerei, in der meine Mutter arbeitete und mir zur Hilfe kam, wenn sie mal wieder die schreiende Meute hörte: ich vorneweg, die anderen hinterher. Nur machte das die ganze Sache nicht besser. Ich hätte mich selber wehren müssen, aber das konnte ich nicht. Ich hatte immer nur Angst und lief weg. Außerdem schämte ich mich noch zusätzlich vor Leuten aus dem Dorf, wenn sie diese Auftritte sahen.

Vielleicht kam daher der ständige innere Drang, immer aus einer Situation wegzulaufen, ständig zu fliehen. Zu allem Übel hatte ich auch noch lange Haare, die meine Mutter anfangs zu Zöpfen flocht: Daran konnte man wunderbar ziehen und wieder lachen. Dann machte meine Mutter mir einen Haardutt auf dem Kopf, denn irgendwo mussten ja meine langen Haare hin, und abschneiden durfte ich sie nicht. Jetzt war alles komplett. Nun bekam ich allerlei Dinge in den Dutt gelegt, wie einmal ein volles Tintenfass. Ich saß heulend und zitternd in der Schulbank, die Meute drum herum, und einer stellte mir lachend ein Tintenfass in meinen altertümlichen Haarschmuck, und alle anderen lachten ebenfalls fürchterlich. Einen Mitschüler, der es am schlimmsten trieb, sehe ich heute noch vor mir. Er hatte selbst einen große Narbe im Gesicht, weil er als kleines Kind vom Tisch auf einen Topf gefallen war, und gerade der spielte sich zum Anführer auf und riss alle anderen mit.

Wenn ich heute manchmal in der Zeitung von Amokläufern in der Schule lese, die fürchterliche Blutbäder unter ihren Mitschülern angerichtet haben, dann kann ich diese Täter manchmal verstehen. Es ist furchtbar, wenn Schüler von einem Mitschüler umgebracht werden, aber irgendwie kann ich einen Teil von diesen Menschen nachempfinden. Kinder oder Jugendliche können untereinander furchtbar grausam sein, man wird regelrecht zum Außenseiter gemobbt, und das ist kein Thema unserer heutigen Zeit, mir ist es vor über fünfzig Jahren passiert, die inneren Verletzungen sind immer noch da. Ich habe still und friedlich geschluckt, mich nie aufgebäumt, einfach alles mit mir machen lassen, höchstens geweint. Wenn diese Traurigkeit und das Verletztsein in Aggression umschlägt, kann ich mir solche Amokläufe gut vorstellen. Da kommt eine unglaubliche Wucht zum Ausdruck, alles, was sich aufgestaut hat.

Meine Ängste, unter fröhliche Menschen zu gehen, das Gefühl, nicht richtig angezogen zu sein, mich irgendwie lächerlich zu machen, ist einfach nicht wegzubekommen. Das führt dann auch dazu, dass ich mich unter Menschen überhaupt nicht wohlfühle und schnellstens wieder weg will.

Als ich früher Alkohol getrunken habe, wurde ich mutiger, ja ein ganz anderer Mensch. Ich hatte keine Angst, ich ging hin, wohin ich wollte, mischte auch unter fröhlichen Leuten mit. Doch nachdem ich mit meinem Mutwässerchen aufgehört habe, sind die alten Ängste wieder da. Ich traue mich nirgendwohin, wenn ich nicht unbedingt muss, und ziehe mich ständig zurück. Es kostet oft eine unglaubliche Anstrengung, diesen Teufelskreis zu durchbrechen und das zu tun, was ich gerne möchte, denn ich beneide die anderen Menschen ja wegen ihres zwanglosen Beisammenseins. Wenn ich das doch nur auch so könnte! Oft sage ich dann, mir liegt nichts daran, oder ich brauche den Film nicht zu sehen, oder ich möchte heute lieber zu Hause bleiben. Im Grunde sind das aber immer nur Ausflüchte, damit ich mich diesen alten Ängsten nicht zu stellen brauche. Wenn ich aber doch irgendwo mit hingehe, ist es meistens schön, denn eigentlich bin ich ein fröhlicher, humorvoller und keineswegs ungeselliger Mensch. Doch immer vorher diese Ängste!

In den AA-Gruppen wird oft von Betroffenen gesagt: Alkohol hat mich zunehmend einsamer gemacht. Ich passte da nie rein, denn mich hat Alkohol überhaupt erst unter Menschen gebracht. Wahrscheinlich hätte ich nie einen Mann nüchtern in meinem Leben kennengelernt. Die Nüchternheit, der Abstand von Alkohol hat mich einsam gemacht. Einem Therapeuten habe ich mal gesagt: „Am liebsten wäre ich so, wie ich bin, wenn ich etwas Alkohol getrunken habe.“ Eigentlich müsste ich üben, raus zu gehen, so wie mein Hund schreckliche Angst in der Stadt hat. Er ist in der Pampa groß geworden, jetzt zwei Jahre alt. Leider habe ich ihn früher selten mitgenommen. Er blieb bei Oma, ich fuhr allein. Jetzt ist meine Mutter nicht mehr da und ich will ihn nicht immer hier im Haus lassen. Doch er hat es nicht gelernt, zwischen vielen Menschen zu laufen, dazu noch jede Menge fremder Geräusche und fremden Dingen, wie Kinderwagen, Koffer, Schilder. Ich würde gerne hin und wieder durch Göttingen oder Kassel bummeln, denn Zeit habe ich, aber er macht mich mit seiner Angst verrückt. Er erschreckt sich laufend, springt mir vor die Füße, zerrt an der Leine, sodass ich ihn kaum halten kann, und schreckt vor allem Möglichen, für ihn fremden Dingen, zurück. Er müsste üben, üben, üben: am besten jeden Tag in die Stadt, dann würde er die Angst verlieren.

Genauso müsste ich es machen, immer und immer wieder genau die Dinge tun, vor denen ich eigentlich Angst habe. Ich drücke mich oft und lerne so nicht, mich freier zu bewegen, und er lernt es nicht, weil ich selten mit ihm übe. An ihm kann ich sehen, wie kompliziert und anstrengend es auch für die Umgebung ist, wenn man vor so vielem zurückschreckt. Er ist wie ein Spiegelbild für mich, hat außer mir niemanden, und somit ist er total auf mich fixiert.

Bei meinen Kindern habe ich sehr darauf geachtet, dass sie immer rauskamen unter andere Menschen, mit Gleichaltrigen ihren Spaß hatten, gemeinsam an Unternehmungen teilnahmen. Oft bin ich damals über meinen Schatten gesprungen, bin mit zu schulischen Ereignissen gegangen, meist auch noch allein, aber meine Kinder sollten niemals diese inneren Ängste vor ihren Mitmenschen haben. Eigentlich habe ich mich als Kind nirgendwo sicher gefühlt. In der Schule wurde ich gemobbt, da ging ich nur unter größten Ängsten hin, und zu Hause war ständig Zoff zwischen meinen Eltern mit Streit, Gebrüll bis hin zu Schlägen. Mein früherer Therapeut hat mal gesagt: „Es ist ein Wunder, dass sie das überstanden haben.“

Ich hatte schon immer eine große Phantasie und habe mich tagsüber und auch nachts in andere Seinszustände geträumt und darin gelebt. Heute schaue ich gerne Fernsehserien, schaue zu, wie andere Menschen leben. Und das brauche ich am besten jeden Tag, sonst fehlt mir ein Stück Tagesablauf.