Unverstandene Depressionen

Eigentlich wollte ich meine Geschichte mit meiner Kindheit beginnen, aber momentan gibt es in der Presse einige Berichte über Depressionen: Menschen, die berühmt waren, unter Depressionen litten und selbst ihr Leben beendeten. Ich fühle mich durch diese Berichte sehr an frühere Zeiten erinnert, als ich nicht mehr weiter wusste und mehrmals versucht habe, mich umzubringen. Da ich jedes Mal ein Gemisch aus Alkohol und Tabletten zu mir genommen hatte, hieß es halt immer nur, die ist tabletten- und alkoholsüchtig. Ich wurde in irgendeine psychiatrische Klinik gesteckt, auf Entzug gesetzt. Um meine seelischen und Gemütszustände kümmerte sich kaum jemand. Ich war süchtig, das musste man behandeln. Das Warum interessierte fast niemanden.

Kein Mensch wird sein Leben einfach mal so wegschmeißen oder beenden. Da gibt es ganz gewaltige, nicht auszuhaltende Gefühlsschwankungen vorher – oder eben noch schlimmer: eine totale Leere, ein riesiges schwarzes Loch, aus dem man einfach nicht herauskommt. Es geht nicht vor und nicht zurück, eigener Stillstand, und doch geht es draußen weiter. Kein Mensch kann mich verstehen, ich fühle mich unnütz auf dieser Welt, ja die Menschen um mich herum wären besser dran, wenn es mich nicht gäbe.

Um sein Leben zu beenden, gehört sehr viel Mut, denn es ist ja nicht mal ein Urlaub, aus dem ich wieder zurückkommen kann, mein Leben ist dann zu Ende. Nur die furchtbaren inneren Qualen sind noch schrecklicher, als der Weg in den Tod. Man will einfach nur, dass diese Qual aufhört, und damit wird sie wohl aufhören.

Wenn ich zurückdenke, habe ich immer ein anderes Leben gesucht, mit liebenden verständnisvollen Menschen und einem geborgenen Zuhause. Ich war immer allein, ohne Geschwister, und meine Eltern hatten mit sich jede Menge Probleme, dass sie mich oft gar nicht bemerkten. Ja, ich machte mich zeitweise auch fast unsichtbar, damit es nicht noch wegen mir Krach geben sollte. Meine Mutter hat mir schon früh erzählt, dass ich nicht geplant war, sie meinen Vater gerade kennengelernt hatte und sie nur wegen mir meinen Vater heiraten musste, sie sogar Abtreibungsversuche gemacht hatte, z.B. mit heißen Bädern, auf dem Feld von Steinen runtergesprungen sei oder von Treppen. Irgendwie hatte ich dann immer das Gefühl, mich wollte ja niemand und ohne mich ginge es meinen Eltern besser. Natürlich haben meine Eltern sich um mich gekümmert, viel zu sehr, so sehr, dass ich keine Luft bekam und selbst gar nicht gesehen wurde. Ich hatte das zu tun, was man mir sagte. Da wurde, denke ich, schon die Stimmungslage geboren, dass es besser für mich wäre, gar nicht auf der Welt zu sein.

Dazu dann die vielen Angriffe und Mobbing in der Grundschule. Ich habe als Kind oft irgendwo gesessen, zum Himmel geschaut und überlegt, wie es da oben wohl wäre. Das schlimmste damalige Ereignis war einmal Weihnachten. Meist gab es auch an solchen Feiertagen Streit zwischen meinen Eltern, das war ja nicht neu. Nun, dieses Weihnachten wollte ich alles tun, damit das nicht passiert. Ich fuhr mit meinem Vater nach Witzenhausen zum Einkaufen. Ich unterhielt mein Vater ständig mit irgendwelchen Erzählungen, weil ich so das Gefühl hatte, ihn unter Kontrolle zu haben. Dieses Reden habe ich mir in bestimmten Situationen bis heute nicht abgewöhnt.

Als wir nach Hause kamen, es war bereits Heiligabend, stand die Haustür auf und meine Mutter putzte noch den Hausflur und die Treppe. Mir fiel gleich das Herz in die Hose, denn sofort wusste ich, das war nicht gut. Und richtig, mein Vater stiefelte die Treppe hoch, ich mit eingezogenem Kopf hinterher und heftig an den Fingern kauend. „Musst du jetzt noch putzen, kannst du nicht einmal fertig sein, wenn ich nach Hause komme?“, schrie mein Vater und trat gegen den vollen Putzeimer, sodass der gegen die Wand flog und auskippte. Sofort fing meine Mutter an, zu schreien, und der schlimmste Streit war im Gang. Ich verzog mich leise, es bemerkte mich niemand. Meine Mutter lief die Treppe hoch, weinte, schloss sich in einem Zimmer ein. Mein Vater rief nach mir, ich solle ihm etwas zu Essen machen. Auf alle Fälle wurde es immer dunkler, meine Mutter kam nicht die Treppe runter, mein Vater ging hoch, klopfte an die Tür, sie kam aber nicht raus. Dann ging er in sein Zimmer und weinte auch. Ich stand hinter irgendwelchen Türen, hörte angespannt nach oben und biss meine Finger vor Aufregung und Anspannung fast ab.

Ich war damals vielleicht acht Jahre alt, es war Heiligabend, meine Eltern hatten sich eingeschlossen. Es gab noch keinen geschmückten Weihnachtsbaum, kein Weihnachtsessen, keine Plätzchen, auf Geschenke hätte ich verzichtet, so wie ich damals auf alles verzichtet hätte, wenn nur meine Eltern sich wieder verstanden. Ich war allein. Zu Tante Lina, zu der ich immer in solchen Situationen lief, wollte ich heute an Heiligabend auch nicht gehen. Ich setzte mich vor die Haustür auf die kalte Steintreppe, saß zusammengesunken, den Kopf zwischen den Händen stützend, und war zum ersten Mal richtig verzweifelt. Immer hatte ich geglaubt, dass ich zwischen meinen Eltern vermitteln kann, nur jetzt war alles aus. Damals wollte ich das erste Mal in meinem Leben mit acht Jahren am liebsten nicht mehr da sein. Ich gab auf, es hatte alles keinen Sinn. Ich saß hier im kalten Winter an Heiligabend allein auf der Treppe vor meinem Zuhause. Es gab keinen Weihnachtsbaum, keine Lichter, nichts. Ich war todtraurig, ich konnte es nicht fassen. Ich hätte zu meinen Verwandten rechts oder links gehen können, denn die saßen bestimmt an einem festlich geschmückten Tisch am Weihnachtsbaum, aber ich war wie gelähmt vor Trauer, und ich hätte mich auch geschämt, dass es bei uns eben kein Weihnachten gab.

Irgendwann stand ich auf, ging traurig ins Bett, und anstatt zu schlafen, hörte ich in die Nacht hinein, ob sich im Haus etwas tat. Immer hatte ich die Ohren auf, immer stand ich unter Angst, was jetzt schon wieder passierte. Wo war mein Vater, wo war meine Mutter, es war Heiligabend und ich war allein. Sie hatten mich völlig vergessen, was sollte ich auf dieser dunklen Welt?

Dieses Gefühl, nicht wichtig, nicht willkommen zu sein, hat mich mein ganzes Leben begleitet. Später wurde es durch Therapien und vor allem durch meinen Glauben besser. Ich beschäftigte mich mit vielen Religionen und fand im Buddhismus die größte Stütze. Was brachte es mir, mich umzubringen, wenn ich doch wiedergeboren wurde und dann ähnliche Aufgaben gestellt bekam, wie in diesem Leben? Ich stellte mir das Leben wie ein Soll- und Haben-Konto vor. Habe ich zu viel Miese auf dem Konto, muss ich sie abarbeiten, habe ich dagegen viel im Haben, werde ich mit Aufgaben und das vielfach dazugehörige Leid verschont. Also es half nichts! Ich musste weiter leben. Bis ich soweit dachte, musste ich noch einige schwierige Lebensabschnitte bewältigen und habe mehrere Male versucht, mich tatsächlich umzubringen.

Heute habe ich in der Zeitung gelesen, dass die meisten Suizidversuche nicht unbedingt ein Beenden des eigenen Lebens zum Ziel haben, sondern ein Aufschrei oder Hilferuf sind, dass man so nicht weiter leben kann. Das stimmte auch bei mir, nur hatte ich zu damaliger Zeit niemanden, der mir helfen konnte. Schon früh fragte ich, warum ich denn überhaupt leben soll, was ist der Sinn des Lebens? Was soll das alles: Ich werde geboren, gehe in die Schule, muss arbeiten, und dann muss ich doch sowieso sterben, warum dann nicht gleich?

Meine Eltern waren mit solchen Fragen völlig überfordert. Meine Mutter sagte immer: „Mädchen, was sollen diese Gedanken, du hast dir das Leben nicht gegeben, du darfst es dir auch nicht nehmen!“ Meine Mutter und mein Vater waren einfache Menschen, die damals von Psychologie überhaupt keine Ahnung hatten. Sie haben so gelebt und mich so erzogen, wie sie es konnten. Dass das für mich nicht immer richtig war, wussten sie nicht, denn Schwierigkeiten gab es in jeder Ehe und Erziehung. Ich war halt von Anfang an ein Mensch, der sich nicht gewehrt hat, sondern alles über sich ergehen ließ. Ich rebellierte nie. Meine Mutter sagte immer: „Solange du in die Grundschule gegangen bist, warst du ein ganz braves Mädchen, ich konnte dich überall mit hinnehmen.“

Ich kannte es nie oder habe es gleich als Kleinkind verlernt. Das Wort: Nein! Rebellieren, so wie die meisten jungen Menschen es tun, gab es bei mir nicht. Vor fremden Menschen hatte ich später immer Angst, vor allem vor jungen Menschen in meiner Altersklasse – und besonders vor jungen Männern. Ich fühlte mich total unwohl in deren Gesellschaft, wollte aber mitmachen und merkte sehr schnell, dass ich mit Alkohol viel freier war und nicht diese Ängste hatte. Eigentlich verabscheute ich Alkohol, aber um mir Mut zu machen, trank ich immer öfter eine kleine Menge, es half ungemein. Natürlich hatte ich so nicht unbedingt einen klaren Blick oder konnte Männer gut einschätzen. Ich wollte einfach nur geliebt werden und dabei sein, gesehen werden. Leider suchte ich mir immer schwierige Beziehungen aus, die meist von Anfang an zum Scheitern verurteilt waren. Eine Therapeutin sagte mir mal: „Sie suchen sich diese Männer aus, um kämpfen zu müssen, um betrogen zu werden, um schlimme Gefühle aushalten zu müssen, so wie sie es auch schon als Kind mussten.“ Wenn dann wieder so eine Verbindung in die Brüche ging, war das für mich gleichbedeutend mit sterben müssen. Ich konnte dann einfach nicht weiter leben, es gab überhaupt keine Möglichkeit. Man wollte mich wiedermal nicht, ich wusste nicht weiter und mir blieb nur, mich in meinen schrecklichen Gefühlen abzutöten. Das konnte ich dann gut mit einem Alkohol-Tablettengemisch. Gott sei Dank wurde ich rechtzeitig gefunden, der Magen wurde ausgepumpt, der Kreislauf stabilisiert, ein paar Gespräche, und das Drama Leben ging weiter.

Einmal versuchte ich mir die Pulsadern aufzuschneiden, auch da hat man mich rechtzeitig gefunden. Beim letzten Mal nach dem Tod des Vaters meiner Tochter Melanie hätte ich es fast geschafft. Ich konnte einfach nicht weiterleben. Er war der erste Mensch, der sich mit meinem Innenleben auseinandersetzte und mich immer wieder motivierte, mir Dinge erklärte, die ich nicht verstand. Zum ersten Mal hatte ich wirklich das Gefühl, geborgen zu sein, es gab jemanden, der nicht ständig an mir rummeckerte, er sah mich und meine Bedürfnisse, zudem war er auch noch Arzt, sodass ich glaubte, solange er bei mir ist, kann mir überhaupt nichts passieren. Als er dann plötzlich verstarb, wusste ich überhaupt nicht, wie ich weiterleben sollte. Die ganze Welt erschien mir damals wie eine riesige Arena mit wilden Tieren, die mich vernichten wollten. Es gab einfach kein Entrinnen, keinen Weg aus diesem dunklen gefährlichen Loch. Ich ging damals zu einem Psychiater und bat ihn, mich auf eine geschlossene Station zu bringen, damit meine Tochter nicht auch noch ihre Mutter verlieren sollte, sie war gerade mal ein knappes Jahr alt. Der meinte nur: „Wenn Sie das so sagen, passiert Ihnen nichts, da brauchen Sie keine stationäre Behandlung!“ Einen Tag später lag ich in Göttingen in der Anästhesie und wurde künstlich beatmet.

Ich war in den Wald nahe unserem Wohnort gefahren. Davor hatte ich mir in Göttingen jede Menge frei verkäuflicher Schlaftabletten besorgt und eine Flasche Martini, damit es schneller wirken sollte. Mein Auto blieb dann mitten im Wald im Gestrüpp stecken. Ich nahm eine Decke unter den Arm, meine Flasche und die Tabletten und lief noch ein Stück weiter in den dichten Wald. Es sollte mich niemand finden. Ich breitete die Decke aus und freute mich richtig, bald nicht mehr dieses furchtbare Leben aushalten zu müssen. Dabei schluckte ich alle Tabletten mit dem Martini so weit es ging hinunter. Die Tabletten schmeckten schrecklich, doch ich würgte sie irgendwie rein, dann weiß ich nichts mehr.

Meine Mutter hatte an diesem Tag ein ungutes Gefühl, als es Abend wurde und ich nicht nach Hause kam. Sie sagte zu meinem Vater: „Ich habe so eine Angst in mir, dass der Ingeborg etwas passiert ist. Sie wollte noch spazieren gehen und sicher ist sie wieder in Berlepsch, fahr doch mal dort hoch und schau, ob du sie finden kannst.“ Mein Vater wollte nicht, da er gerade sein Auto putzte, überlegte es sich dann doch und fuhr los. In Berlepsch traf er einen Förster, den er kannte und der ihm Folgendes sagte: „Was es doch für Leute gibt, da steht mitten im Wald ein Auto.“ Mein Vater wurde sofort hellhörig, fragte nach der Automarke und wusste dann irgendwie gleich, dass ich das sein musste. Sie fanden mich im Dickicht, bewusstlos. Die leere Flasche und leeren Tablettenschachteln um mich herum. Es muss ein furchtbarer Anblick für meinen Vater gewesen sein, er ist später nie mehr in diesem Teil des Waldes gewesen.

Der Förster rief einen Rettungswagen und ich wurde nach Göttingen transportiert. Man gab damals meinem Vater meine ganzen Sachen mit, weil sie nach ärztlichem Ermessen nichts mehr für mich tun konnten. Ich wurde zwar an ein Beatmungsgerät angeschlossen, aber man glaubte nicht, dass ich durchkommen würde, da ich bereits eine Untertemperatur von 15 Grad hatte – und wenn ich doch wieder aufwachte, wäre mein Gehirn so stark geschädigt, dass ich noch nicht mal mehr meinen Namen kennen würde.

Ich lag tatsächlich drei Wochen im Koma und dann wachte ich wieder auf. Neben mir saß der Pfarrer aus unserem Dorf – und ich hörte etwas laut schnarchen, das war das Beatmungsgerät. Weiter wusste ich nichts. Danach kam eine schreckliche Husterei und ständiges Gefühl des Erstickens, das war sehr schlimm, das weiß ich noch. Die Tabletten mussten zum Teil ausgehustet werden. Da bekam ich Todesangst. Angst, keine Luft mehr zu bekommen und zu ersticken. Davor wollte ich sterben, welche Ironie. Ich konnte mich an nichts mehr erinnern, konnte noch nicht einmal bis zehn zählen. Es dauerte Wochen in einer Reha, bis mein Gehirn allmählich wieder funktionierte. Es war eines meiner unglaublichen Wunder, von denen ich einige erlebte.

Danach habe ich nie mehr versucht, mir das Leben zu nehmen. Ich fing an, mich mit Glaubensdingen auseinanderzusetzen und sagte von da an: „Da ich das überlebt habe, denke ich, dass man mich da oben noch nicht will, wahrscheinlich habe ich doch einiges auf dieser Erde zu erledigen.“

Bis heute hat sich an diesem Denken nichts geändert. Auch jetzt gibt es immer wieder dunkle Tage, an denen mir das Leben zu schwer erscheint, aber eines habe ich gelernt: Nach jedem Dunkel wird es wieder hell, und immer wieder geht die Sonne auf. Es ist ein unglaubliches Gefühl, wenn sich der dunkle Zustand lichtet und es wieder heller und leichter wird. Wie in einem dichten, dunklen, unheimlichen Wald, wo plötzlich sich die Bäume lichten und die Sonne die Oberhand über das Dunkel gewinnt.

Es hat viele Jahre gedauert, bis ich verinnerlicht hatte, dass diese depressiven Zustände sich nach einiger Zeit wieder lösen. Auch diffuse Ängste, die mich ständig übermannten, habe ich gelernt besser zu bewältigen, mit ihnen zu leben. Es gab Zeiten, da konnte ich nicht alleine bleiben, aber auch nicht unter Menschen sein, nicht einfach raus gehen, nicht über Plätze, nicht über Straßen gehen. Vieles davon habe ich in langwieriger Kleinarbeit mir selbst abtrainiert, geblieben sind Höhenängste, Angst vor großen Hunden und Gewitter. Manchmal geraten auch diese realen Ängste außer Kontrolle, aber irgendwann sind solche Zustände wieder vorbei und das Leben ist leichter.

Allgemein braucht man für all diese, für andere nicht sichtbare inneren Kämpfe und Leidensdruck eine unglaubliche Kraft. Es kann vorkommen, dass ich dann von einem Spaziergang nicht erholt nach Hause komme, sondern fix und alle bin, weil unterwegs ein großer herrenloser Hund von Weitem sichtbar war und ich so schnell ich konnte die Flucht ergriffen habe und voller Panik zum Auto gelaufen bin. Warum dann diese Ängste sich bis zur Panik steigern, weiß ich nicht. In diesem Fall sehe ich dann in meinem Kopfkino, wie dieser Hund sich zur Bestie entwickelt, immer größer wird, mich sofort angreift und nicht nur beißt, sondern regelrecht zerfleischt, meinen eigenen Hund ebenfalls, als wenn es ein hungriger Wolf oder Bär wäre. Dann bin ich jedes Mal froh, wenn ich heil in meiner vertrauten Umgebung bin.

Diese Ängste schränken mich natürlich auch sehr ein. Städtereisen würden mich zum Beispiel sehr interessieren, wie Sankt Petersburg, Moskau, Venedig, Rom – um nur einige zu nennen. Doch niemals könnte ich in so einer Stadt mit einer Reisegruppe sein! Ständig würde ich vor irgendwelchen Abgründen, Brücken und dergleichen weglaufen oder einfach stehen bleiben. Früher wurde ich auch noch regelrecht von der Tiefe angezogen, ein furchtbares Gefühl. Das ist zum Glück heute etwas besser. In einem Hochhaushotel könnte ich nie im Zimmer bleiben vor lauter Angst, dass ich in die Tiefe springen würde. Auf Bahnhöfen habe ich ein reichlich ungutes Gefühl, wenn Züge schnell vorbeifahren, Angst, mich nicht unter Kontrolle zu haben und vor einen Zug zu springen.

Ich fahre keine Autobahn, weil ich vor vierzig Jahren mal mit dem Auto von einer Spur zur anderen geschleudert bin. Danach habe ich mich nie mehr mit meinem Auto auf die Autobahn getraut. Ich hatte diese Schleudern wunderbar bewältigt, den Wagen abgefangen und in die richtige Spur gebracht, da hätte ich doch stolz sein müssen – nein, hinterher fuhr ich die nächste Ausfahrt von der Autobahn runter und nie mehr drauf. Dann erst zitterte ich.

Früher hat mich das auch nicht weiter gestört, da ich immer einen Mann hatte, der mich gefahren hat, nur heute stört es mich gewaltig, dass ich nicht meinen Hund nehmen, ein paar Tage an die See fahren kann oder zu meinem Sohn nach Berlin oder zu Melanie nach München. Immer muss ich schauen, dass ich meinen Hund unterbringe, damit ich mit dem Zug fahren kann. Somit ist mein Leben, obwohl ich alleine bin und nicht mehr zu arbeiten brauche, sehr eingeschränkt.

Manchmal bin ich auch sehr traurig darüber, doch beruhige ich mich damit, dass ich es nicht brauche und hier in einer wunderschönen Gegend lebe und eigentlich immer in Urlaub bin. Natürlich fehlen mir die neuen Eindrücke, aber die Angst vor der Angst ist schlimmer, als hier in Ruhe vor mich hinzuleben. Mir hat mal ein Arzt gesagt: Eine halbe Stunde Angst aushalten ist genauso anstrengend, wie vier Stunden im Garten zu graben. Ja, für all diese depressiven Verstimmungen, Ängste und meine enormen Schlafprobleme habe ich in meinem Leben die meiste Kraft verbraucht.

Oft haben die Leute um mich herum nicht verstanden, wieso ich so müde und kaputt war. Cooper, mein langjähriger Therapeut, hat mal zu mir gesagt: „Sie brauchen gar nichts zu arbeiten, was sie innerlich leisten, ist Schwerstarbeit.“ Auch hier im Haus fühle ich mich nicht wirklich wohl allein, vor allem abends und nachts. Gut, dass ich meinen Hund habe, sonst würde ich hier wohl kaum bleiben.

Wohin mit mir, diese Frage stellt sich schon mein ganzes Leben. Mich mit all meinen Ängsten, depressiven Verstimmungen und jetzt auch noch Alterserscheinungen und Schmerzen in den Gelenken auszuhalten, ist für mich selbst manchmal, gelinde gesagt, ein schwieriges Dasein. Ich sage dann immer, es gibt noch Schlimmeres.
Ich bin auch sehr mitfühlend mit Menschen, die an solchen Erkrankungen scheitern, ihr Leben beenden oder aus betäubenden Zuständen sich nicht mehr befreien können. Mich halten am meisten die Gedanken an meine Kinder am Leben. Ich kann sogar sagen, sie haben mich gerettet. Vor allem Konstantin, denn bei meiner Tochter war ich noch nicht so weit, sie wurde bis zu ihrem 10. Lebensjahr von meiner Mutter betreut, weil ich dazu nicht in der Lage war. Als mein Sohn auf die Welt kam, war niemand da, der ihn mir hätte abnehmen können. Ein kleines Baby – auf mein Kind nicht richtig aufzupassen und mich meinen Betäubungsritualen hingeben, das konnte ich nicht. Die Mutterliebe und die Vorstellung, dass meinem Kind etwas zustoßen könnte, waren stärker als meine damalige Sucht. Damals fing ich an, in kleinen quälenden Schritten mein Leben zu ändern, mich meiner Krankheit zu stellen… Ich wollte, dass es meinen Kindern gut geht und sie nicht eine Mutter haben sollten, die mehr in einer Psychiatrie zu Hause war, als bei ihnen. Ich bin zwar nie mehr in einer „Klapse“ gelandet, aber es war teilweise eine unmenschliche Kraft, die ich aufbringen musste.

Melanie hat mal gesagt: „Von meiner Mutter kann man lernen, wie man aus der dicksten Scheiße wieder raus kommt.“ Das war das schönste Kompliment, das ich für mein Leben bekommen konnte. Trotz allem ist so eine Krankheit für alle Familienmitglieder sehr belastend. Das weiß ich heute, das ist auch ein Grund, warum ich mich nicht intensiv nach einem neuen Partner umsehe. Ich weiß, wie schwierig das Zusammenleben mit mir ist, obwohl ich mir manchmal wünsche, ab und zu einen Partner zu haben, der für mich da ist, mit dem ich ins Konzert, Theater oder einfach nur einen Ausflug machen könnte, der mich in den Arm nimmt und ich das Gefühl von Geborgensein hätte, einfach nicht mehr allein wäre.

Meine Kinder sind weit weg und leben ihr eigenes Leben, ich möchte gar nicht, dass sie sich um mich kümmern müssen und ich sie in ihrem Leben störe. Es ist für mich unglaublich schön, zu sehen, wie sie nicht vom Weg abgekommen sind bei so einer chaotischen Mutter, sondern ihr Leben ohne größere Ängste und körperlichen Einschränkungen meistern. Schwer ist es nur, wenn ich von Verwandten oder Bekannten abgelehnt werde, weil ich ab und zu nach außen hin nicht der Norm entspreche. Abgelehnt werden, weil man anders ist, das tut einfach weh, aber auch damit müssen sich viele Menschen auf dieser Welt auseinandersetzen. Einen Beinbruch sieht man, aber nicht die inneren Brüche.

Da meine Mutter nicht mehr da, heißt es, ich bin wirklich auf mich reduziert. Ich muss mich nicht mehr kümmern, ich muss nicht mehr meine Interessen hintenanstellen. Das wollte ich immer, ich wollte frei sein, mal tun und lassen können, was ich will. Die Schwierigkeit bin nun aber ich mit meinen vielen Einschränkungen und Problemen. Das heißt: Es ist zwar niemand da, der mir irgendwelche Vorschriften macht, auch keine Droge, die mich bestimmt, und trotzdem bin ich nicht frei. Ich sitze hier genauso wie als Kind in meinem Elternhaus mit einem Hund und schaue meistens zu, was andere Menschen alles auch im dritten Lebensabschnitt noch tun können. Keine Mutter, kein Vater, Mann, Kinder, Drogen – niemand hält mich, und trotzdem bin ich immer noch in einem Gefängnis und träume von der Freiheit da draußen. Es hat sich in fünfzig Jahren nicht viel verändert. Heute lerne ich nur, immer mehr zu akzeptieren, mich nicht von mir selbst unterkriegen zu lassen. Viel hilft mir mein Glaube dabei, dass ich die gestellten Aufgaben für mich in diesem Erdenleben zu Ende bringen will, ohne vorher davor wegzulaufen. Einfach ist das nicht.

In all den schwierigen Phasen meines Lebens konnte ich immer zu meinen Eltern kommen. Sie waren für mich da, und ich konnte zwischendurch wieder Zuhause wohnen, bis ich erneut einen Anlauf nahm, um draußen am Leben teilzunehmen. Meine Mutter ist überall hingereist, wenn es mir wieder mal schlecht ging und ich nicht weiter wusste. Zwischendurch gab es auch Zeiten, vor allem nach irgendwelchen Therapien, wo ich nicht gut auf meine Mutter zu sprechen war. Sie hatte mich nun mal nicht gerade zu einem selbstständigen Menschen erzogen. Nur irgendwann sah ich auch ihre Seite und Lebensentwicklung, sodass ich ihr das nicht mehr übel nahm.

Jetzt ist sie tot und ich kann nicht mehr sagen: Nun rufe ich meine Mutter an und erzähle ihr von meinen Sorgen. Denn eines war sie auch später für mich, eine richtige Freundin. Auch als ich Familie hatte, ist der Kontakt nicht abgebrochen. Sie hatte immer Anteil an meinem Leben und ich bin auch regelmäßig zu ihr gefahren, um ein paar Tage Auszeit zu haben und mich verwöhnen zu lassen. Das war natürlich anders, als in der eigenen Wohnung zu leben, und das war dann auch ein echtes Problem. Erstens war sie alt und konnte mich nicht mehr umsorgen, sondern ich war für alles zuständig, und meine Fluchtmöglichkeit nach Hause war auch weg, denn nun lebte ich hier. Doch meine Mutter war eine wirkliche Konstante in meinem Leben. Auf sie konnte ich mich immer verlassen, und ich hatte sie ja auch sehr lang, 61 Jahre. Sie hat alles für mich getan, egal, um welche Uhrzeit ich die unmöglichsten Wünsche hatte, nur die emotionale Seite kam immer zu kurz: Sie zeigte keine Gefühle und mochte auch keinen Körperkontakt.

Jetzt lebe ich zwar weiter in meinem Elternhaus und habe auch einige Veränderungen hier im Haus vorgenommen, aber sie fehlt mir jeden Tag. Als meine Mutter noch lebte, wollte ich manchmal regelrecht ausbrechen, ich wollte allein sein, mich nicht immer um sie kümmern müssen. Nun ist sie weg, und das ist jetzt gar nicht schön. Manchmal denke ich, den Tod müsste es probeweise geben. Dann würde man vielleicht doch einiges ändern. Nur er kommt nicht wie ein Urlaub und ist dann wieder zu Ende. Er gibt den verlorenen Menschen nicht wieder her, man muss lernen, mit diesem Verlust zu leben. Dass der betreffende Mensch nicht wieder kommt, musste ich zum ersten Mal schmerzlichst bei Melanies Vater erleben. Erst nach einigen Monaten merkt man wirklich, er kommt nicht wieder, ich kann auf der ganzen Welt nach ihm suchen, es gibt ihn einfach nicht mehr, und das ist dann ganz schwer auszuhalten. Damals habe ich es nicht aushalten können und wollte mich auch von dieser Welt verabschieden. Auch meine kleine Tochter konnte mich nicht halten. Heute weiß ich, dass Zeit tatsächlich Wunden und Verluste heilt, um das Leben jeden Tag weiterzuleben. Der verlorene Mensch ist immer noch da in meinen Gedanken und Gefühlen, aber nicht sichtbar.

Der zweite große Verlust war mein Vater, der vor zwanzig Jahren verstorben ist. Er hatte lange Alzheimer und lebte zwei Jahre im Pflegeheim. Immer, wenn ich ihn besucht hatte, war ich hinterher sehr traurig. Das ist so unwürdig, ein Mensch, der sein Leben immer gearbeitet und immer seinen Mann gestanden hatte, am Schluss in so einem desolaten Zustand vorzufinden, dass er von anderen versorgt werden musste und wahrscheinlich gar nicht mehr richtig mitbekam, dass er noch auf dieser Erde lebte. Für ihn war es wohl eine Erlösung, endlich sterben zu dürfen.

Ich habe viele Verluste in meinem Leben hinnehmen müssen: Beziehungen, Arbeitsstellen, Häuser, Wohnungen, Unzulänglichkeiten bei mir selbst. Alle waren für mich kleine Tode, mit denen ich mich auseinandersetzen musste. Und immer hatte meine Mutter ein hilfreiches Ohr für mich. Ganz ohne sie weiter leben, das ist jetzt wirklich eine neue Herausforderung für den Rest meines Lebens.