Kurzes Intermezzo in Bad Pyrmont

Ich zog also nach Pyrmont, mein Vater brachte mich bei dickem Schnee mit dem Auto hin. Meine Mutter blieb die ersten beiden Wochen da und wurde in diesem Privatsanatorium, meiner neuen Arbeitsstelle, gleich mit angestellt. Sie besserte Wäsche aus und verstand sich sehr gut mit der Eigentümerin.

Ich hatte ein kleines Zimmer zur Untermiete bei einem älteren Ehepaar. Die Tätigkeit gefiel mir nicht wirklich gut, denn die Klinik war sehr klein, exklusiv und dementsprechend liefen mir dauernd die Besitzer über den Weg und hatten ständig neue Ideen. Meine Selbstständigkeit war in diesem Haus sehr eingeschränkt. Meine Mutter fuhr wieder nach Hause und ich musste mich nun dort allein durchschlagen, aber ich hatte ja ein großes Paket mit Tabletten. Und die waren bereits nach einem Monat verbraucht und ich wusste nicht, was ich nun machen sollte. In die Apotheke sollte ich nicht gehen, der Arzt in dem Sanatorium, der mich auch betreute, verschrieb mir nichts, und ich war zunehmend nervös, stand unter Angst und Anspannung, von Schlafen keine Spur. So ging das nicht, und da kam ich auf eine unglaublich „tolle“ Idee. Ich dachte mir, wenn keine Tabletten, könnte ich doch Alkohol trinken, denn seit Göttingen hatte ich nichts mehr getrunken, ich hatte ja Tabletten. Jetzt waren keine Tabletten mehr da, also probier ich es mit Alkohol. Der absolute Oberhammer war, dass ich dachte, Bier oder Wein besser nicht zu trinken, es gab doch den „guten Pott“. Meine Mutter hatte bis an ihr Lebensende Klosterfrau Melissengeist genommen, dann konnte ich doch den guten Pott trinken. Bevor ich mir eine Flasche kaufte, rief ich meine Mutter an und jammerte am Telefon: „Mutti, du musst sofort kommen, mir geht es furchtbar schlecht, ich glaube, ich muss sterben, ich zittere nur noch und habe furchtbare Angst.“

Meine Mutter sagte zu und wollte am nächsten Tag da sein. In der Nacht zuvor trank ich also den guten Pott und nicht nur ein Glas, im Laufe der Nacht die ganze Flasche, ich hatte wirklich regelrecht Panik. Das war ein richtiger Entzug von dem Pillenpaket – und jetzt noch Alkohol drauf! Irgendwann schlief ich wohl narkotisiert ein, denn so viel starken Schnaps hatte ich noch nie getrunken. Alkohol war überhaupt immer nur Mittel zum Zweck. Er hat mir nie geschmeckt, manchmal musste ich mir die Nase zuhalten, damit ich ihn nicht roch, und anschließend den Mund, um ihn nicht wieder auszukotzen. Und jetzt eine ganze Flasche hochprozentigen Alkohol!

Am nächsten Tag stand ich nicht auf. Die alten Leute wunderten sich, und dann kam meine Mutter. In dem Moment, als meine Mutter die Tür aufmachte, hatte ich meinen ersten Krampfanfall. Sie alarmierte sofort den Arzt, und bis der kam, hatte ich noch zwei Anfälle. Ich wurde sofort in ein Krankenhaus eingeliefert und mit Medikamenten ruhiggestellt. Danach erklärte mir ein Neurologe, dass ich schwere Entzugsanfälle gehabt hätte, dass ich sofort mit den Pillen und Alkohol aufhören müsste, sonst könnte das tatsächlich im Exitus enden oder in schweren Gehirnstörungen.

Ich wollte aber nicht in dieser Klinik bleiben, sondern nach Hause oder nach Göttingen. Ich unterschrieb die vorzeitige Entlassung und machte mich mit meiner Mutter mit dem Zug auf den Heimweg. Tabletten bekam ich keine mit, und das war das Schlimmste. Meine Mutter musste meine Sachen und eine vor Angst halb wahnsinnige Tochter mitschleppen. Mein Vater weigerte sich, uns abzuholen. Unterwegs machten wir Station in einem kleinen Dorf bei dem dortigen Arzt, den ich förmlich um Beruhigungspillen anbettelte: So abhängig war ich bereits! Irgendeinen Quatsch erzählte ich ihm, nur nicht die Wahrheit, und tatsächlich bekam ich ein paar Pillen, aber nur eine geringe Ration.
 
Zwischenstation zu Hause

Kaum zu Hause angekommen war ich sofort am Telefon, um in Göttingen einen Termin zu machen, ich brauchte „Stoff“. Nachts schlief ich bei meiner Mutter im Ehebett, weil ich Panik hatte, auch bekam ich wieder einen Krampfanfall. Meine arme Mutter war fix und alle. Am nächsten Tag fuhren wir nach Göttingen und man machte ein EEG mit mir. Dann stritten sich vier Ärzte in meinem Beisein über den Befund: „Das sind eindeutige Kurven einer Epilepsie.“ „Nein, wenn ich so viel Tabletten genommen hätte und so wenig geschlafen, hätte ich dieselben Werte.“ So ging das hin und her.

Schließlich einigte man sich. Ich wurde als Epileptiker eingestuft und ich bekam neue Pillen, die ich regelmäßig nehmen sollte, damit kein Anfall mehr ausgelöst würde. Dann klärte man mich über Verhaltensregeln auf, beispielsweise nicht zu schwimmen, auf keine Leiter zu steigen und kein Auto allein zu fahren. Das verordnete Medikament sollte müde machen und den Schlaf fördern. Ich sollte 8-10 Stunden schlafen.

So kam ich dann noch mehr unter Druck mit meiner Schlaferei und verlor nie mehr die Angst, nicht schlafen zu können. Eine Therapie lehnte ich wieder ab.
 
Hannover

So verbrachte ich einige Zeit zu Hause, wo ich mich recht schnell erholte. Nur innerliche Ruhe hatte ich keine.

Ich suchte und fand eine Stelle in Hannover in einem riesigen Krankenhaus und einer ebensolchen riesigen Krankenhausküche. Da ging es wirklich wie auf einem großen Bahnhof zu. Mehrere Köche, Diätassistentinnen und jede Menge Küchenhilfen rannten förmlich durcheinander. Zum ersten Mal hatte ich Kolleginnen, bisher war ich in meinem Beruf die alleinige Vertreterin in den jeweiligen Häusern gewesen. Es gab sogar ein Essensband, wo das Essen draufgestellt und auf den Stationen in die Zimmer verteilt wurde. Und vor allem gab es strenge Diätformen, die ich schon fast verlernt hatte. Alles in allem war es eine sehr schwierige Arbeitsstelle für mich, wo ich mich mit meinen Ängsten einfach nicht einarbeiten konnte. Ich nahm fleißig meine vorgeschriebenen Tabletten, die machten zwar müde, aber die Angst nahmen sie nicht. Ich trank also wieder Alkohol dazu, natürlich nicht so stark, aber der vertrug sich nicht gut mit dem Epilepsiemittel, und zusätzlich besorgte ich mir von einem Arzt auf der Station Beruhigungstabletten. Damals waren das vorwiegend Librium, Limbatril und Adumbran.

Natürlich erzählte ich nichts von meiner Diagnose. Jetzt hatte ich einen echt tollen Mix an Wirkstoffen! Es kam, wie es kommen musste: Eines Abends brach ich im Zimmer zusammen. Anschließend Krankenhaus und dann Aufenthalt in einer großen psychiatrischen Klinik in Hannover, Langenhagen. Dort kam ich als Erstes in einen großen Beobachtungsraum. Alle neuen Patienten wurden dort rund um die Uhr beobachtet. In dem Raum waren bestimmt zwanzig Betten, und auf einem Podest saßen abwechselnd Schwestern. Außerdem wurden die persönlichen Sachen und natürlich auch die Pillen konfisziert, und jeder bekam ein blauweiß gestreiftes Kleid an. Seitdem kann ich keine Streifen mehr sehen und schon gar nicht an irgendwelchen Kleidungsstücken tragen. Nachmittags durften wir in den Krankenhausgarten und liefen alle im Kreis rum, wirklich wie im Knast.

Also dort wollte ich nun wirklich nicht bleiben! So einfach kam man da aber nicht raus, also verhielt ich mich erst einmal ruhig, soweit das in meinem Zustand möglich war. Dann hatte ich ein paar vernünftige Gespräche mit den Ärzten und entließ mich wieder selbst mit der Auflage, unbedingt in Göttingen in die Klinik zu gehen. Ich rief zu Hause an, doch mein Vater hatte langsam genug von diesen „Spielchen“, er weigerte sich wieder, mich abzuholen und aufzunehmen. Er hatte wirklich den Durchblick und absolut recht.

Schlussendlich holte mich einer meiner Cousins ab, allein hätten die mich nie rausgelassen.
 
Kurze Zeit zu Hause, dann Arbeitsstelle in Bad Sooden-Allendorf

Also wieder zu Hause. Meine Mutter fuhr nach Hannover, um mein Zimmer aufzulösen. Sie war immer die Feuerwehr und hat einige Zimmer und Wohnunterkünfte von mir räumen müssen. Mein Vater erkannte meine abwärts laufende Lebensspirale sehr schnell und weigerte sich, meine Aktionen auch noch zu unterstützen, doch meine Mutter konnte mir nie eine Bitte abschlagen. In der Kindheit war sie zu streng, aber später tat sie alles, um mir zu helfen.

Irgendwann sagten die Ärzte meinen Eltern, sie sollten mich nicht weiter unterstützen, mich sogar rausschmeißen – dass konnten meine Eltern aber nie. Und so lernte ich: Egal, was ich tat, nach Hause konnte ich immer wieder kommen!

Nun überlegte ich mir, in der Nähe eine Stelle zu suchen. Nach kurzer Zeit fand ich eine in einer großen Kurklinik in Bad Sooden-Allendorf. Das Vorstellungsgespräch fiel positiv aus, denn ich konnte recht gut meine Ausfallszeiten im Arbeitsbereich kaschieren. Und außerdem fiel zu dem Zeitpunkt immer noch mein gutes Examen ins Auge.

Der Chefarzt war ein recht großer, muskulärer Typ im mittleren Alter, braun gebrannt und dann noch im weißen Kittel. Zudem war er unglaublich charmant und unterhielt sich lange mit mir. So einen Mann hatte ich noch nie kennengelernt, ich war beeindruckt. Die Klinik war auch toll, etwas ganz anderes als diese Massenabfertigung in einer stinkenden Großküche, wie im Krankenhaus in Hannover. Hier in Bad Sooden-Allendorf könnte es mir sicher gefallen, dachte ich.

Leider bekam ich es zunehmend mit der Angst, je näher der Anfangstermin kam. Hoffentlich schaffte ich den Job! Wie waren die anderen Mitarbeiter, meine Kollegin? Wir waren zwei Diätassistentinnen, wie lief das in der Küche? Wie waren die anderen Ärzte? Mir wurde zunehmend mulmiger, denn dort zu arbeiten wäre sicher toll, nur allmählich merkte ich im Unterbewusstsein, dass ich gewaltige Probleme hatte. Meine Tabletten gegen die Anfälle hatte ich in allen Taschen und nahm auch mehr, als ich sollte – sowie andere noch dazu, ich musste und sollte doch schlafen!

Dann starb Tante Frieda und wurde beerdigt. Zur Beerdigung wollte ich nicht mit, denn inzwischen schämte ich mich zunehmend vor meinen Verwandten, ich täuschte Unwohlsein vor, doch meine Angst wurde immer größer, denn wohl fühlte ich mich zu Hause nun auch nicht und wäre doch wohl lieber mitgegangen. Es trudelte richtig in meinem Kopf! Ich nahm ein paar Pillen, aber es wurde nicht besser. Wenn ich das nun wieder alles versiebe… ach, eigentlich ist es doch egal, ob ich noch lebe… Ich kriege es einfach nicht hin und mach meinen Eltern nur Sorgen und Schande. Tot müsste man sein, wie Tante Frieda…

Ich ging ins Bad und nahm, wie in Trance, von meinem Vater eine Rasierklinge und begann, an meinen Pulsadern zu säbeln. So richtig tun wollte ich es nicht, ich spielte damit und plötzlich lief Blut und ich machte weiter. Es wurde auf einmal ganz leicht, ich hatte keine Angst mehr, legte mich auf die Couch und dämmerte vor mich hin. Irgendwann ging die Tür auf, ein Riesengeschreie, und ich wurde wieder ins Krankenhaus gebracht. Ein paar Dinge bekam ich noch wie durch einen Schleier mit.

Ich wachte auf mit zwei verbundenen Händen. Man sagte mir, dass ich Glück hatte, denn fast hätte ich die Sehnen durchschnitten. Selbst das lief falsch! Man schneidet nicht quer, sondern längs!

Was nun? Ich sollte in Bad Sooden anfangen, jetzt lag ich im Krankenhaus. Immerhin entschuldigte ich mich telefonisch damit, dass ich mich in der Küche geschnitten hätte. Mein Vater fuhr auf Anraten einer Sozialarbeiterin zu dem Chefarzt der neuen Klinik, um sich mit ihm zu unterhalten und mein Fehlen zu entschuldigen. Er war nicht nur Internist, sondern auch Psychosomatiker und würde mir vielleicht sogar helfen können. Genau das passierte dann auch. Der Anstellungsvertrag wurde nicht aufgehoben, sondern er rief persönlich im Krankenhaus an und sagte: „Ihr Vater ist hier und hat mir alles erzählt. Deshalb bitte ich Sie, schnell gesund zu werden und hier zu erscheinen, wir haben einen Vertrag, ich kümmere mich um sie.“

Jetzt hatte ich den Salat, also kein Ausbüxen mehr! Wäre das jetzt nicht so gelaufen, hätte man mich vom Krankenhaus aus in die Psychiatrie gebracht, gegebenenfalls gegen meinen Willen. Gut, ich begab mich in mein Schicksal und bereitete mich vor, in Bad Sooden-Allendorf anzufangen. Einen Tag vorher lief ich mit Holzsandalen im Haus die Kellertreppe hoch, rutsche ab und knallte mit dem großen Zeh gegen die Steinstufe: Zeh gebrochen! Auch das noch! Aber ich musste da hin. Manchmal, wenn es drauf ankam, war ich verdammt hart im Nehmen.