Bad Homburg

Ich richtete mich in der Wohnung meiner Vorgängerin mit neuen Möbeln ein, einige konnte ich auch von ihr übernehmen. Es war richtig hübsch, und die Arbeitsstelle machte mir auch sehr viel Spaß. Ich musste Vorträge halten, Ernährungslehre vor Kurteilnehmern geben und Hausfrauenkurse an Wochenenden. Nach Hause fuhr ich selten, erstens war es für mich über die Landstraße zu weit, und außerdem hatte ich nicht jedes Wochenende frei. Dafür besuchte mich meine Mutter mit Melanie. Ja, meine Mutter reiste mir überall nach. Ich brauchte bloß husten, und sie war da.

Das Beste war natürlich, dass ich diesen „netten und verständnisvollen Arzt“ hatte, der mir meine Tabletten verschrieb. Wenn ich mir heute überlege, welche Mengen ich damals konsumiert habe und mit welch hohen Dosen ich überhaupt vor der Klasse stehen konnte, dann ist das selbst für mich nicht mehr nachvollziehbar. Eine dieser Tabletten würde mich heute mindestens zwei Tage im Trancezustand halten, und damals nahm ich mindestens drei oder vier davon am Tag und konnte dann erst richtig arbeiten. Es ist unglaublich, was ein Körper alles aushalten kann! Allerdings ernährte ich mich richtig gesund, abgesehen von meinen Fressattacken, doch diese „ungesunde“ Nahrung holte ich ja wieder raus.

Eines Abends wartete ich auf einen jungen Mann, den ich auf einer Hochzeit kennengelernt hatte, der noch ein paar handwerkliche Dinge in meiner Wohnung erledigen wollte. Er kam nicht und ich trank den Wein, den ich für ihn besorgt hatte, alleine aus. In der Wohnung war es mir dann zu langweilig, und die Disco in Bad Homburg kannte ich noch nicht, also fuhr ich mit Tabletten und einer Flasche Wein intus kreuz und quer durch das Städtchen. Plötzlich hatte ich einen platten Reifen. Das bekam ich immerhin noch mit.

Ich stand mit dem Wagen in der Nähe einer Tennisbar, wo auch Tanz war, man aber Eintritt bezahlen musste – es war eine etwas edlere Diskothek. In meinem tranigen Kopf dachte ich: “Prima, da gibt es bestimmt einige Männer, die mir den Reifen wechseln können!“ Ich ging also schnurstracks rein, denn mit meiner Dosis Wein und Tabletten hatte ich keinerlei Hemmungen. Ich sprach an der Bar einen Mann an, der auch bereit war, den Reifen zu wechseln. Als ich wieder raus wollte, kam ein anderer Mann auf mich zu und wollte mit mir reden. Na gut, ich setzte mich mit ihm hin und er entpuppte sich als Therapeut, der wohl ziemlich schnell gemerkt hatte, was mit mir los war – angeblich könne er mir helfen, das wollte ich aber zu dem Zeitpunkt nicht. Während des Gesprächs bemerkte ich an der Bar zwei Männer, die von Weitem aussahen wie Ralf und meine große Liebe Eckhard aus Bad Wildungen. Ich wurde ganz aufgeregt und bewegte mich schnurstracks auf die beiden zu. Es waren aber zwei andere Männer, die ich in meinem nebligen Kopf verwechselt hatte. Die beiden verwickelten mich in ein Gespräch und ich blieb bei ihnen stehen. Sie tranken Wodka und boten mir auch einen an. Harte Sachen habe ich eigentlich nie getrunken, Wodka schon mal gar nicht, doch ich wollte nicht abseitsstehen und trank mit. Von da an hatte ich einen Filmriss.

Die beiden nahmen mich mit nach Hause, ich fuhr angeblich noch mein Auto, und einer von den beiden verbrachte mit mir die Nacht, von der ich überhaupt nichts wusste. Erst am nächsten Morgen, als ich langsam nüchtern wurde, merkte ich, wo ich war und was ich wieder angestellt hatte. Ich wollte nur weg und verabschiedete mich schnellstens. Natürlich hatte ich viel erzählt, unter anderem auch, wo ich arbeitete und wo ich wohnte. So besuchte mich der, mit dem ich zusammen genächtigt hatte, am nächsten Tag an meiner Arbeitsstelle. Da hatte ich echt was angestellt, denn dieser Mann war gar nicht mein Typ! Er war zwar nett, aber ich wollte z.Zt. weder ihn noch irgendeinen anderen Mann. Er ließ aber nicht locker und war dann abends in meiner Wohnung. Er versuchte auch gar nicht, mir wieder näher zu kommen, sondern wir führten richtig tolle Gespräche, die mir gefallen haben.

Wir verabredeten dann, dass ich ihn ein paar Tage später besuchen sollte – das war einige Kilometer von Bad Homburg entfernt über die sogenannte Saalburg nach Usingen. Ich war da zwar noch nie, aber das würde ich schon finden, dachte ich.

An bewusstem Tag hatte ich sehr viel in der Akademie zu tun und war außerdem reichlich übernächtigt, da ein Handwerker mir privat abends noch einige Regale in meiner Wohnung angebracht und wir die halbe Nacht über seine gescheiterte Beziehung gequatscht hatten. Mittags gab meine Kollegin Sekt aus, da trank ich was mit, bis zum Abend war ja noch lang. Nun, je später es wurde, um so unsicherer wurde ich, ob es richtig war, nach Usingen zu dem netten Mann namens Michael zu fahren. In meiner Wohnung stand noch eine halbe Flasche Wein, wovon ich 2 Gläser trank und ein paar Tabletten schluckte, und so war ich für das „Abenteuer“ Usingen gewappnet.

Ich fuhr die breite Straße über die Saalburg. Sie ist mehrspurig und ich merkte ziemlich schnell, dass ich todmüde wurde und Mühe hatte, nicht am Steuer einzuschlafen. Das passierte mir mehrmals, und so hielt ich bei der nächsten Gelegenheit an einer Telefonzelle an. Ich wollte Michael Bescheid geben, dass ich nicht mehr fahren konnte, er solle mich abholen. Da ging plötzlich die Tür der Telefonzelle auf und davor standen zwei Polizisten. „Gehört der Wagen dort drüben Ihnen?“ Sie zeigen mit dem Finger auf mein Auto.
„Ja“, sagte ich spontan.
„Dann kommen sie mal mit.“

Ich wusste überhaupt nicht, was sie von mir wollten. Ich stieg in das Polizeiauto und sie nahmen mich direkt mit in das Krankenhaus nach Usingen, dort wurde mir gleich Blut für eine Blutprobe abgenommen. Unterwegs erzählten sie mir, dass sie von einem Autofahrer angerufen worden sind, der hinter mir fuhr, als ich über alle vier Spuren Schlangenlinie gefahren bin.

Natürlich kam bei der Blutprobe genügend raus, etwas über zwei Promille. Sie nahmen mich mit auf die Polizeiwache und beratschlagten, wo sie mich hinbringen wollten. Da kam mir die rettende Idee, Michael anzurufen. Der kam auch tatsächlich und saß dann mit mir in der Polizeistation. Es gab nun zwei Möglichkeiten: Entweder sollte ich in die Psychiatrie nach Köppern oder Michael würde mich mitnehmen. Mein Führerschein wurde eingezogen und mein Auto blieb erstmal dort, wo ich es abgestellt hatte. Natürlich entschied ich mich für Michael, da er sich auch sofort bereit erklärte, mich mitzunehmen. So begann unsere langjährige Beziehung auf der Polizeiwache in Usingen.
 
Michael

Eigentlich hatte ich richtig Glück, dass ich diesen netten Mann kennengelernt hatte, denn sonst wäre ich ganz schön aufgeschmissen gewesen. Dass man mir den Führerschein entzogen hatte, war zwar bedauerlich, doch im Inneren wusste ich schon, dass ich oft mit ein bis zwei Promille Auto gefahren bin und dass das ganz schön gefährlich war – nicht nur für mich selbst, sondern vor allem für andere Menschen, die sich auf der Straße bewegten. Einmal kam ich mit einem eingebeulten Kotflügel in der Schule an und wusste überhaupt nicht, wo das passiert war.

Michael kannte einen guten Anwalt, der sich mit meinem Fall befasste. Ansonsten war ich oft über Nacht bei ihm in Usingen und er fuhr mich dann morgens zur Schule. Nachmittags oder abends konnte ich den Bus bis zu meiner Wohnung nehmen. Unsere Beziehung entpuppte sich als recht schön, bis auf meine kleinen Abstürze, die immer wieder passierten – vor allem, wenn ich allein war. Wir redeten darüber und Michael hatte anfangs sehr viel Verständnis, ich konnte ihn auch immer anrufen, wenn etwas war, er kam sofort. Mein schönes Auto, das ich noch zur Hälfte von Manfred hatte – ein hellblauer VW-Käfer metallic – wurde verkauft, denn ein Jahr oder länger war mein Führerschein sicher weg.

Ein Abend in meiner Wohnung ist mir besonders in Erinnerung geblieben. Michael hatte inzwischen einen Zweitschlüssel, war aber ein paar Tage geschäftlich unterwegs. Nun konnte ich endlich nach Herzenslust futtern, so richtig „vollfressen“. Also besorgte ich nach der Arbeit mehrere Tüten mit Fressalien – alles Mögliche, Schokolade, Mohrenköpfe, Plätzchen und auch etwas Pikantes wie Fisch, Wurst, Käse, Puddings. Ganz entspannt setzte ich mich in meiner Wohnung in einen Sessel, neben mir auf dem Tisch und rundherum meine Fressalien sowie eine Kanne Wasser, denn zwischendurch musste ich immer trinken, damit alles im Magen gut vermischt wurde, sonst ließ es sich nicht wieder auskotzen. Ich saß ganz aufgeregt da, riss die Verpackungen auf und stopfte so schnell ich konnte alles in den Mund. Dann trank ich Wasser dazu, und als der Magen so voll war, dass nichts mehr reinging, brach ich auf der Toilette alles wieder aus. Das klappte wie auf Kommando, ich brauchte nicht mal einen Finger in den Hals zu stecken.
Was waren das für Gefühle? Erst das Süße oder Sahnige auf der Zunge, und dann wuchs das Ganze wie eine unheimliche Gier nach Mehr, so schnell konnte man überhaupt nicht essen, nur reinstopfen! Der Bauch füllte sich, die innere Leere fühlte sich besser an, aber ich wurde nur im Magen voll, nicht in meiner Seele. Ich wollte weiter essen, immer rein, rein, rein, es ging dann aber zwischendurch nichts mehr rein, und so musste ich alles wieder rausholen. Das war dann auch eine Riesenerleichterung, als wenn aller Mist aus dem Inneren mit rauskam! Ich habe immer gesagt, von allen Süchten war dieses Fressenmüssen am schlimmsten. Sobald nur ein Krümel „verbotene Nahrung“ in den Körper kam, ging die Suchtmaschine los und war nicht mehr zu bremsen. Schlimm war das vor allem, wenn ich irgendwo eingeladen worden war und ich aß ein Stück Kuchen, dann ging es los und ich hätte alles, was auf dem Tisch stand, in mich reinstopfen können. Das ging natürlich nicht bei einer Einladung, und dieses Suchtgefühl dann aushalten zu müssen, war ganz furchtbar. Das kann man nicht beschreiben, es ist eine Gewalt, die man nicht steuern kann. Man wird mitgerissen, wie ein Strudel, der sich immer schneller dreht – man ist drin und kann nicht raus. An etwas anderes zu denken geht nicht, es gibt nur das Suchtmittel, und davon immer mehr. Alles dreht sich nur darum, der Kopf und der ganze Körper ist voll davon. Rien ne vas plus: Nichts geht mehr!

Na, jedenfalls ging an dem Abend, als ich da zwischen meinen aufgerissenen Verpackungen saß und mich vollstopfte, meine Wohnungstür auf und Michael stand in der Tür. Ich war ja nicht von Alkohol oder Tabletten benebelt, sondern bis auf die Fresserei nüchtern. Ich habe mich in dem Augenblick, als er zur Tür reinkam und mich sah, so geschämt, wie wohl in meinem ganzen Leben nicht mehr. Am liebsten wäre mir gewesen, der Boden hätte sich aufgetan und ich wäre einfach verschwunden. An unser Gespräch kann ich mich nicht mehr erinnern, aber Michael war mir nicht böse. Irgendwie hatte er ziemlich viel Geduld mit mir.

Nach einem Jahr bekam ich meinen Führerschein zurück und kaufte einen neuen Wagen, einen roten Polo. Eine Zeit lang konnte ich mich – von einigen Ausfällen abgesehen – gut über Wasser halten. Ich war mehr in Usingen bei Michael als in meiner Wohnung, und so fielen die Extremausfälle, wenn ich allein war, schon mal weg. Irgendwann zog ich ganz zu ihm und gab meine Wohnung auf, ich hatte ja meinen Führerschein wieder, ein neues Auto und konnte somit allein zur Arbeit fahren. Allerdings passte mir das auch nicht, so viel unter Kontrolle zu sein, und wenn ich allein zu Hause war, nahm ich manchmal doch mehr von meinen tollen Pillen und lag öfters schlafend im Bett, wenn Michael nach Hause kam. Sicher sah er dann einige Unordnung in der Wohnung, die auf meinen benebelten Kopf hinwies. An viele Dinge kann ich mich gar nicht erinnern, und somit weiß ich auch nicht, wie es damals in meiner Umgebung aussah und was ich für ein Durcheinander hinterließ, bevor ich im Bett verschwand.

Eines Tages oder besser Abends kam Michael nach Hause, ich lag im Bett und er drehte völlig durch. Er schrie, zerrte mich aus dem Bett, packte meine Koffer und sagte dauernd: „Jetzt reicht es! Das kann ich nicht mehr aushalten, du hast mir so oft versprochen, damit aufzuhören, es wird stattdessen immer schlimmer! Ich fahre dich jetzt zu deinen Eltern, ich kann nicht mehr. Du musst wieder in eine Klinik!“

Schlagartig wurde ich halbwegs nüchtern im Kopf und versuchte ihm wieder alles zu versprechen, aber er ließ sich darauf nicht mehr ein. Er verfrachtete mich und die Koffer in seinem Auto und fuhr los. Das war nun was ganz Neues! Bisher hatte das noch niemand gemacht, mich rausgeschmissen. Meinen Eltern war sogar vom Arzt empfohlen worden, mich mal vor der Tür stehen zu lassen und sich nicht mehr um mich zu kümmern. Sie haben es aber nie fertiggebracht – vielleicht hätte es ja geholfen, oder ich wäre tatsächlich in der Gosse gelandete, wie das mal eine Frau über mich sagte.

Meine Eltern schickten mich mit Michael gleich weiter nach Göttingen in die Klinik. Am nächsten Tag, als ich nüchtern wurde, wollte ich wieder weg. Es war keine geschlossene Station und somit ließ man mich gehen. Auf dem Flur standen zwei Ärzte, die sich über mich unterhielten. Ich musste an ihnen vorbei und bekam ihr Gespräch mit. „Warum lassen Sie diese Frau gehen, die ist doch völlig fertig?“, sagte der eine. „Genau deshalb, sie ist ganz schnell wieder hier, ihre Akte ist sehr lang, wir können nichts mehr für sie tun, sie ist ein Fall für die Langzeitpsychiatrie, sie wird ohne Aufsicht nie draußen leben können“, erklärte der andere.

Ich war völlig geschockt, als ich das hörte. Ich wollte nur weg, bloß raus hier. Aber wohin? Ich lief aufgescheucht durch die Stadt und kam irgendwann am Bahnhof an. Mein Kopf arbeitete fieberhaft und mir war ganz schlecht. Ich fuhr zu meinen Eltern. Meine Mutter machte die Tür auf und schlug förmlich die Hände über dem Kopf zusammen. „Was willst du denn hier? Wir denken, du bist in der Klinik?“

„Ich bleibe jetzt hier und mache einen richtigen Entzug, allein. Kein Arzt und keine Klinik, das kann ich allein, jetzt reicht es! Macht euch keine Sorgen, mir ist es ernst, wirklich ernst.“ Dieses Gespräch der beiden Ärzte, das ja nicht für meine Ohren bestimmt gewesen war, hatte wie eine Bombe eingeschlagen.

Ich schlief bei meiner Mutter im Ehebett oder besser lag ab und zu im Bett, ansonsten turnte ich durch die Gegend. Die Unruhe nahm immer mehr zu. Das kannte ich ja schon, nur diesmal war ich zu Hause und kein Arzt konnte mir im Notfall eine Spritze geben oder eine Tablette. Ich schwitzte, ich hatte Angst, ich hatte Herzrasen, aber ich wollte durchhalten. Irgendwie musste es doch gehen! Wenn ich keinen „Stoff“ mehr nahm, konnte ich nicht abstürzen, soweit dachte ich immerhin, und dann werde ich auch nicht eingesperrt. Diese Gedanken schwirrten zusätzlich durch meinen wirren Kopf. Nachts bekam ich sogar einige Krampfanfälle, meine Mutter muss Furchtbares miterlebt haben. Sie sagte, das ganze Bett hätte von meinem Zittern und Krampfen gewackelt. Als das Schlimmste überstanden war, rief ich unseren Hausarzt an und fragte ihn, ob er mich irgendwo in eine Suchklinik einweisen könne, ich wolle jetzt endlich ohne Tabletten leben lernen, nur wüsste ich nicht, wie.

Er kümmerte sich sofort darum, denn zum ersten Mal sah meine Umgebung eine wirkliche Ernsthaftigkeit meinerseits. Ich mag mir gar nicht ausdenken, wie schlimm diese Wochen auf meine kleine Tochter gewirkt haben müssen. Ein kleines Kind sieht die Dinge aus einer anderen Perspektive, es ist alles viel schlimmer als für die Erwachsenen. Ich weiß ja, wie viel Angst ich als Kind um meine Mutter hatte, und das waren nicht so schlimme Auftritte!

Ich bekam sehr schnell einen Platz in einer Suchtklinik in Bad Neustadt/Saale, einer BfA-Klinik. Ich brauchte einen Einweisungsschein mit Diagnose, und so rief ich meinen Neurologen in Bad Homburg an. Er sagte mir die Einweisung zu und fragte mich doch allen Ernstes, ob er mir ein Rezept mit meinen bevorzugten Tabletten schicken solle. Natürlich verneinte ich, aber irgendwie konnte ich das nicht verstehen. Da kämpfte ich mich allein durch einen Entzug, und ein Facharzt bot mir gleich wieder die „Droge“ an.

Nachdem ich gepackt hatte, fuhr mein Vater mich nach Bad Neustadt – wieder für ein halbes Jahr. Ich habe irgendwann einmal ausgerechnet, wie lange ich insgesamt wegen meiner psychischen Erkrankung in Kliniken verbracht habe. Es kamen etwa drei Jahre heraus.
 
Bad Neustadt

Nach Bad Neustadt fuhr ich in einer ganz anderen Verfassung, als zu den Klinikaufenthalten davor. Ich hatte mich alleine durch einen Entzug gekämpft. Jetzt wollte ich lernen, wie man überhaupt ohne diese furchtbaren Suchtgefühle leben könnte. In der ersten Suchtklinik ist an mir alles vorbeigerauscht, da wollte ich gar nichts lernen, aber jetzt wollte ich.

Es war ein schöner, großer Bau inmitten des Städtchens. Ich bekam ein hübsches Zimmer und hatte den Eindruck, gut aufgehoben zu sein. Die ersten vier Wochen gab es die sogenannte Kontaktsperre, die von allen nicht gerade begrüßt wurde. Sie war aber nötig, um Abstand von Zuhause zu bekommen und vor allem, um nicht beeinflusst zu werden. Man sollte sich ganz auf sich selbst konzentrieren. Die meisten hatten natürlich Angehörige oder Partner, denen sie Nachrichten zukommen lassen wollten, da manche erst in der Klinik nüchtern wurden und dann natürlich heftige Angst bekamen, dass ihre Partner sie verlassen würden. Und so wurden durch irgendwelche Schlupflöcher Briefe nach draußen geschmuggelt – und wieder rein. Auch ich schrieb einen Brief an Michael und meine Eltern und bekam tatsächlich auch eine Antwort von Michael zurück. Ich war erstaunt und natürlich auch erfreut, denn Hoffnungen hatte ich mir auf ihn keine mehr gemacht.

Die Therapie war wieder aufgeteilt in Einzel- und Gruppengespräche, Beschäftigungstherapie, wo gemalt und gebastelt wurde, und später auch noch Arbeitstherapie, in der man wieder mit ganz normaler Arbeit auf draußen vorbereitet wurde, wie z.B. Küchentätigkeit, Schneiderei, Schreinerei oder Gärtnerei. Dazwischen hatten wir genügend Gelegenheit, Gespräche mit Mitpatienten zu führen oder auch einfach mal fernzusehen oder zu lesen. Der Ausgang war in Gruppen eingeteilt, je nachdem, wie lange ein Patient bereits in der Klinik war. Am Anfang durfte man nur in der Gruppe raus, dann mit einem Mitpatienten, und zum Schluss auch allein. Gab es einen Rückfall, wurde man zurückgestuft oder sogar entlassen. Die Teilnahme an den Therapiemaßnahmen war natürlich Pflicht, denn einen geregelten Tagesablauf mussten wir ja auch wieder lernen.

Ich hatte keinen Rückfall in dieser Zeit, bis auf meine Fresserei. Am Anfang war das ganz schön schwierig, ich musste ja jemanden finden, der mir aus der Stadt etwas mitbrachte, da ich noch nicht raus durfte. Das erforderte ein ziemliches Organisationstalent, denn ich ließ mir von mehreren Personen gleichzeitig etwas mitbringen, damit die Mengen nicht auffielen. Dieser Drang zu essen war auch unterschiedlich stark, es gab später sogar Tage, wo ich nichts zusätzlich brauchte. Warum ich damals meiner Therapeutin nichts von meiner Fresssucht erzählt habe, weiß ich nicht. Irgendwie habe ich mich dafür geschämt und wusste nicht, dass auch diese Form der Sucht unter Menschen verbreitet ist – ich sprach nicht darüber.

Es war eine lehrreiche und auch schöne Zeit, zumal ich sehr nette Mitpatienten hatte, mit denen ich später auch viel unternahm, beispielsweise kleine Tagesfahrten in benachbarte Städte. Eine etwas intensivere Freundschaft entwickelte sich mit einem netten Mann aus Berlin, mit dem ich heute noch telefonisch und brieflich in Kontakt stehe.
Bleibend war auch die Teilnahme an Selbsthilfegruppen, wie beispielsweise die AA, die ich regelmäßig auch in späteren Jahren besuchte. Für mich war es sehr hilfreich, immer wieder zu hören, was andere Menschen für Probleme hatten und die leider nicht einfach verschwinden, indem man versucht, sich emotional mit irgendwelchen Betäubungsmitteln wegzubeamen. Die Ursachen, die mich einmal zu all den Mitteln getrieben hatten – wie Verletzungen, Ängste, fehlendes Geborgenheitsgefühl – waren ja nicht verschwunden, wenn man die Stoffe absetzte. Ich musste mich ihnen endlich stellen, aufarbeiten und regelrecht trainieren. Hatte ich beispielsweise Angst, über eine Straße zu gehen, musste ich so lange üben, bis ich sie allein überqueren konnte. Dieses jahrelange Versteckspielen hatte mir nichts gebracht! Jetzt konnte ich mich entscheiden, wollte ich so weiterleben und dann irgendwann für immer in der Psychiatrie verschwinden, oder fing ich an, meine Schwierigkeiten zu bearbeiten? Allein geht das nicht, und so ist es sehr hilfreich, auch später immer wieder Selbsthilfegruppen zu besuchen. Dort sitzen echte Profis, die ähnliche Probleme haben, und man braucht sich überhaupt nicht zu schämen oder zu verstecken. Inzwischen gibt es Millionen Menschen auf der ganzen Welt, die ihre AA-Gruppen besuchen und mit deren Hilfe ihr Leben wieder meistern können. Ein Satz meiner damaligen Therapeutin ist mir sehr prägend in Erinnerung geblieben: „Sie müssen lernen, nicht alles zu schlucken, Sie müssen sich wehren lernen, für sich einstehen, dann schlucken Sie auch keine krankmachenden Substanzen.“

Natürlich ist das ein weiter Weg, das restliche weitere Leben! So weit kann man und soll man nicht denken, denn dann würde jeder in so einer Situation wieder umfallen. Und so gibt es wunderbare AA-Ratgeber-Literatur, die Mut macht und hilft, wie z.B. „Gestern-Heute-Morgen: Es gibt nur einen Tag, an den ich denken soll, das Heute, nur 24 Stunden ohne Stoff leben. Morgen ist ein anderer Tag. Nur heute will ich versuchen, diesen einen Tag zu leben und nicht alle meine Lebensprobleme auf einmal zu lösen. In zwölf Stunden kann ich manches tun, vor dem ich zurückschrecken würde, wenn ich heute schon wüsste, es ginge mein Leben lang so weiter. Achte gut auf diesen Tag, denn er ist das Leben – das Leben allen Lebens. In seinem kurzen Ablauf liegt alle Wirklichkeit und Wahrheit des Daseins, die Wonne des Wachsens, die Größe der Tat, die Herrlichkeit der Kraft – denn das Gestern ist nichts als ein Traum und das Morgen nur eine Vision. Das Heute jedoch – recht gelebt – macht jedes Gestern zu einem Traum voller Glück und jedes Morgen zu einer Vision voller Hoffnung. Drum achte gut auf diesen Tag.“ – Wenn ich das einmal kann, habe ich keine Probleme mehr, doch leider ist das nicht so einfach, denn die Mechanik in unserem Körper ist eine andere.
Ein Mitpatient ist mir in Erinnerung geblieben, ein sehr bekannter Anwalt aus München. Er war bekannt für seine guten Plädoyers im Gerichtssaal. Hier in der Klinik war er ohne seine Tabletten ein Häufchen Elend. Er lief oft hinter mir her, konnte kaum richtig sprechen und war völlig hilflos mit den einfachsten Gesprächen oder kleinen Tätigkeiten. Oft sagte er zu mir: „Inge, wann hört diese Angst endlich auf, ich kann das nicht mehr aushalten.“

Ja, diese verdammten Ängste wurden durch die Stoffe in den Pillen nicht besser – am Anfang schon, aber dann wurde alles viel heftiger, denn diese sogenannten Tranquilizer und vermeintlichen Angstlöser schädigen Nerven und Psyche nachhaltig. Ich weiß nicht, was aus dem Anwalt geworden ist, aber die Rückfallquote nach einer solchen Entziehungskur ist sehr hoch.

Mein Freud aus Berlin hat es mit einem Anlauf geschafft, ich leider nicht, da kamen noch viele Jahre Arbeit auf mich zu, aber das wusste ich damals noch nicht. Es gab auch ein mehrtägiges Angehörigen-Seminar, wo Patienten und Angehörige Schwierigkeiten gemeinsam mit Therapeuten angehen konnten. Auch Michael erklärte sich bereit und machte dieses Seminar mit. Natürlich fand ich das ganz prima, damit hatte ich nicht gerechnet. Zum Einen kannten wir uns nicht so lange, und zum Anderen hatte er ja schon ziemlich viele Abstürze von mir miterlebt. Es sah tatsächlich so aus, dass er wieder mit mir zusammenleben wollte. Damals fand ich das ganz toll und glaubte auch, dass mein Leben nach dieser Kur ganz normal laufen würde und ich meine Probleme nunmehr im Griff hätte.

Ich kann mich an ein AA-Meeting dort erinnern, als ein Patient ganz klar sagte: „Ich weiß, wie viele Schwierigkeiten draußen auf mich zukommen und wie viel Kraft mich das kosten wird, mein Leben zu meistern. Da kann ich niemanden neben mir haben, und ich kann das auch keinem Partner zumuten, ich werde von meinen Angehörigen Abstand nehmen und erst einmal allein leben, da habe ich genug zu tun.“ Irgendwie wusste ich innerlich, dass dieser Mann recht hatte, aber ich wollte das damals nicht wahrhaben, denn die Vorstellung, allein zu sein, war doch viel heftiger, als mit einem Mann zu leben. Heute weiß ich es besser, denn ich musste mich in erster Linie auf mein Innenleben konzentrieren, mich innerlich stärken und nach und nach an äußeren Aufgabenstellungen teilnehmen. Es ist wirklich so, als wenn man neu laufen lernen muss. Ein Partner ist aber in dem äußeren Leben voll integriert und will natürlich, dass seine Partnerin da mitmacht. Da reicht es nicht nur, dass man keinen Alkohol in Gesellschaft trinkt, man ist einfach ängstlich, gehemmt, macht ständig irgendwelche Fehler und Rückzieher, man spielt automatisch wieder Theater, nur ohne Mutmacher, und das ist oft kaum zu bewerkstelligen, zumindest nicht in kurzer Zeit. Für den Partner ist das überhaupt nicht nachvollziehbar. Er denkt: Jetzt braucht die oder der doch keine Drogen mehr, also ist dieser Mensch wieder fit, er war doch gerade in Kur. Dort lernt man – in einem Glashaus -, wie es ohne Mutmacher laufen kann, aber sowie der geringste Druck dazukommt, bricht innerlich alles zusammen. Der Partner kann nicht verstehen, warum ein Mensch von Mitte Dreißig vor allen möglichen Dingen Angst hat, z.B. einfach nur mit Freunden zusammenzusitzen und fröhlich zu sein. Wie soll ich es plötzlich können, wenn ich fast zwanzig Jahre Angst davor hatte? Nach dem Stehenlassen der Mutmacher beginnt erst die eigentliche Arbeit. Und da kommt es natürlich auch darauf an, wie viel ich schon im Leben draußen gelernt hatte, bevor ich diese ganzen Stoffe zu mir genommen habe. Wenn ich aber völlig falsch zusammengesetzt bin, muss ich ja erst einmal innerlich mich richtig sortieren und wachsen, bevor ich äußere Verpflichtungen wahrnehmen oder sie sogar gut machen kann.

Ich wollte aber wieder alles auf einmal – wie gehabt: nicht abseitsstehen, nicht als Außenseiter gelten! Ich wollte wieder in einem Job arbeiten! Freizeit gestalten! Für meinen Partner da sein, und meine Tochter sollte auch nicht zu kurz kommen. Das konnte einfach nicht gut gehen. Was innerlich nicht mitgewachsen ist, kann auch nicht mit dem größten Willen plötzlich groß und erwachsen sein. Das braucht Zeit. Wenn ich die nicht habe und wegen all der Aufgaben wieder mit irgendwelchen Stoffen dazwischen funke, gibt es Rückschläge und wieder innerlichen Stillstand.
Als mein Abreisetag kam, fuhr ich mit meinem Auto, das mir von Michael und meinem Vater gebracht worden war, nach Hause zu meiner Tochter. Ich war voll motiviert, aber auch ängstlich. Das begann schon auf der Fahrt nach Hause, denn weitere Strecken waren nun mal nicht meine Sache.

Melanie freute sich, mal eine nüchterne Mutter zu haben, war aber dann wieder sehr enttäuscht, dass ich bald wieder in den Taunus fuhr. Wann habe ich mein Kind mal nicht enttäuscht?
 
Nach der Kur

Michael freute sich, dass ich wieder in seinem Leben war, und stellte sich die Zukunft reichlich rosig vor, ich auch. Erst einmal blieb ich eine Weile zu Hause und suchte in der Nähe eine Tätigkeit. Jetzt hatte ich plötzlich noch mehr Angst als vorher. Angst, allein zu Hause zu bleiben, Angst, raus zu gehen, Angst, mit dem Auto zu fahren, Angst vor Menschen überhaupt, und Angst, wieder nicht schlafen zu können. Dazu kamen dann noch einige besondere Wünsche, die ich im Haushalt und an meinem Äußeren beachten sollte, denn Michael war etwas sehr pingelig. Einfach war das alles nicht, doch ich schluckte nichts.

Ich suchte mir eine AA-Gruppe in der Nähe und einen Therapeuten. Zu Letzterem machte ich mit einigen Psychologen nicht die besten Erfahrungen, aber das kannte ich ja schon aus den Kliniken. Von den meisten Gesprächen habe ich überhaupt nichts behalten. Sie brachten mir rein gar nichts. Es ist halt – wie mit den Ärzten – nicht immer leicht, den richtigen zu finden. Am besten fühlte ich mich in der AA-Gruppe aufgehoben. Den meisten dort ging es aber auch gut, sie hatten weder Schwierigkeiten mit dem Schlafen, noch mit so vielen Ängsten. Mit Tablettenabhängigkeit und Alkohol ist es auch ein bisschen langwieriger, was wieder mal sehr viel Geduld von mir forderte, die ich aber nicht hatte.

Damit ich nicht wieder zu irgendwelchen Schlafmitteln griff, ging ich zu einer Neurologin. Sie verschrieb mir erst einmal Brom-Baldrian-Bäder. Ich wollte wirklich alles machen, um endlich besser leben zu können, und dazugehörte in erster Linie schlafen. Die meisten Menschen machen sich überhaupt keine Gedanken, was es heißt, nachts im Bett zu liegen und nicht schlafen zu können. Es lautet ein schöner Spruch: „Lieber Gott, lass es Abend werden, Morgen wird’s von selber.“ Leider traf das auf mich nicht zu! Wenn es nur mal eine Nacht gewesen wäre… nein, es war ständig. Tagsüber war ich dann so überreizt und müde, dass ich ein ständiges inneres Zittern hatte – wie eine überheizte Glühbirne. Ich konnte mich nicht richtig konzentrieren, alle Tätigkeiten im Äußeren gingen nur mit allergrößter Kraftanstrengung. Die Menschen um mich rum sahen das ja nicht, außer, dass ich zeitweise sehr mitgenommen und schlecht aussah und vor allem in solchen extremen Zeiten ständig abnahm. Meine Mutter sagte dann immer, wenn sie mich zu Gesicht bekam: “Mädchen, du musst mehr essen, du wirst ja ganz dünn.“

Klar, ich brauchte ja auch doppelt so viel Kalorien wie andere Menschen, nachts noch mehr als am Tag, allein schon durch diese enorme Anspannung und regelrechten Kämpfe mit mir. Oft sagte ich: „Heute Nacht habe ich wieder mit einem Löwen gekämpft“ – so fühlte ich mich am nächsten Morgen. Wenn dann noch jemand neben mir lag, der sich einfach hinlegte, umdrehte und einschlief, dann war das überhaupt nicht auszuhalten. Junge Menschen, die mal eine Nacht wenig schlafen, hängen am nächsten Tag oft völlig in den Seilen. Bei mir herrschte Schlaflosigkeit seit Jahren, ich funktionierte trotzdem meistens, und sehen oder nachvollziehen konnte das kein Außenstehender. Bei Ärzten oder Therapeuten hatte ich zumindest manchmal das Gefühl, verstanden zu werden, doch wie soll ein Mensch wissen, wie Zahnschmerzen sind, wenn er noch nie welche hatte? Dass jemand so extreme Schlafprobleme hatte, war eben höchst selten.

Klar, das war wieder alles zu viel, was ich nach der Kur wollte. Also setzte ich mich jeden Tag in diese Baldrianbäder, trank heiße Milch mit Honig, ging vor dem Schlafengehen noch spazieren, zählte Schafe, machte wirklich alles – es ging nicht! Michael rümpfte auch gewaltig die Nase, wenn die ganze Wohnung nach Baldrian stank. Geduld haben, nicht dran denken… ja, mach das mal, wenn der ganze Körper förmlich glüht vor Überhitzung, weil die Lampe sich nicht abstellen ließ!

Trotzdem fing ich wieder an zu arbeiten, diesmal in einer Klinik in Bad Homburg. Lange konnte ich das nicht durchhalten, denn dort musste ich auch morgens um 6.00 Uhr anfangen. Das hieß meistens nach einer Stunde Schlaf gegen 4.00 Uhr morgens um 5.00 Uhr wieder aufstehen, nach Bad Homburg fahren und arbeiten. Nach einigen Wochen hatte ich wirklich die Wahl: wieder Tabletten schlucken oder den Dienst quittieren. Ich tat Letzteres. Zu Hause bleiben ging aber auch nicht, ich wollte arbeiten und Geld verdienen. Das war sicher ebenfalls eine Sucht, denn dieser Drang übertönte alles.

Vielleicht sollte ich mir wieder ein Reformhaus suchen, dachte ich mir, damit ich nicht so früh anfangen musste. Das fand ich dann auch in Bad Nauheim. Da ich inzwischen ausgebildete Reformhausfachberaterin war, war das nicht schwer für mich, dort anzufangen. Die Tätigkeit machte mir Spaß und ich hatte einen sehr guten Draht zu meiner Chefin, die sich bald auch privat mit mir traf. Michael und ich konnten sogar mal drei Wochen ihre Ferienwohnung auf Lanzarote benutzen. Aus dem Reformhaus nahm ich dann auch alle möglichen Nervenaufbaupräparate in der Hoffnung ein, meine ramponierten Nerven auf diesem Wege wieder zu reparieren.

Das lief natürlich nicht so schnell, und so bekam ich von meiner neuen Neurologin wieder ein Schlafmittel verschrieben, das garantiert nicht süchtig machen sollte. Angeblich gab es das schon seit vielen Jahren auf dem Markt und eine Sucht war nie bemerkt worden. Ich nahm es nun in gutem Glauben, konnte endlich wieder einigermaßen schlafen und somit wurde das Leben etwas leichter. Alkohol vermied ich die erste Zeit nach der Kur ganz, und meine Bulimie bekam ich immer besser in den Griff. Ich musste in erster Linie auf Zucker und Schokolade verzichten, dann wurde dieses Suchtgefühl nicht so schnell ausgelöst.

Davor gab es eine Begebenheit in einer Gießener Klinik, zu der Michael mit mir hinfuhr, da ich zeitweise am Hals aussah, als wenn ich Mumps hätte. Irgendetwas konnte nicht stimmen. Die Ärzte untersuchten mich und diagnostizierten, dass meine Ohrspeicheldrüsen verstopft wären und man das operativ beheben könne, was aber nicht ganz ungefährlich wäre, da der Trigeminusnerv im Gesicht verletzt werden könnte. Nun, das war mir zu riskant, also ließ ich es, und wir fuhren wieder nach Hause. Ich hörte von einem guten Hals-Nasen Ohrenarzt in der Nähe und so wurde ich bei ihm vorstellig. Dieser Arzt sagte: “Sie müssen Ihre Speicheldrüsen gewaltig belastet haben, das kann schon mal passieren, wenn man häufig brechen muss. Sie können das vielleicht mit viel Kauen, z.B. mit Kaugummi, beheben.“

Mir fuhr es wie eine Bombe durch meinen Körper. Ich wurde ganz rot im Gesicht und hätte mich am liebsten versteckt, da ich sofort wusste, woher das also kam: von meiner ständigen Fresserei und Brecherei! Natürlich sagte ich das keinem, aber ich fing an, mich anders zu ernähren, und siehe da, die Sucht nach übermäßigem Essen und Brechen nahm rapide ab.