Bad Sooden-Allendorf

Humpelnd fing ich meine neue Stelle in Bad Sooden-Allendorf an. Der Fuß tat höllisch weh und war geschwollen, trotzdem lief ich damit in der Küche und Klinik rum. Ich biss die Zähne zusammen und ließ mir nichts anmerken. Vielleicht wurde ich dadurch auch von meiner Angst abgelenkt, denn jetzt hatte ich ja etwas Sichtbares, das wehtat.

Die Küche war hell und modern eingerichtet. Meine Kollegin war in meinem Alter, für eine Diätassistentin allerdings zu dick. Dann gab es noch drei Köche, einen Küchenchef, eine Köchin und Küchenhilfen. Von allen wurde ich freundlich begrüßt und eine Zeit lang bei meinen Tätigkeiten beobachtet. Der Dienst begann morgens um 7.00 Uhr bis mittags, und abwechselnd musste man Spätdienst machen, das hieß abends noch mal zwei Stunden. Im Schwesternhaus hatte ich ein wunderschönes Zimmer mit Balkon, alles in einer ansprechenden Atmosphäre. Wenn da nur nicht diese ständige Unsicherheit und Ängste gewesen wären!

Gleich in der ersten Woche musste ich beim Chefarzt erscheinen und über meine „Verletzungen an den Armen“ berichten. Ich rutschte schon sehr unruhig auf meinem Stuhl hin und her, doch ich merkte gleich, dass dieser Mann mir keine Vorwürfe machen wollte, sondern sehr schnell begriff, dass ich in höchster Not war. Wir vereinbarten jede Woche eine Sitzung, damit ich über meine Probleme reden konnte. Zum ersten Mal fragte mich ein Mensch über Kindheit und meine inneren Zustände aus. Anfangs war das sehr schwierig für mich, denn die meisten Dinge hatte ich immer verschwiegen und mit mir alleine ausgemacht. Außerdem war das nicht irgendein Therapeut, sondern es war auch noch mein Chef.

Gleich zu Beginn ließ er sich die Akten aus der Psychiatrie in Göttingen kommen und kam zu einem anderen Ergebnis als die Ärzte dort. Meine Krampfanfälle waren lediglich durch die Vergiftungen ausgelöst worden. Ach du Schreck! Das war zwar eine gute Nachricht, aber ich hatte mich inzwischen total an die verordneten Tabletten gewöhnt – und die sollte ich jetzt weglassen! Was war dann? Nun kam ich zeitweise regelrecht in Panik, denn jetzt passierte mir bestimmt etwas!

Es war eine furchtbar schlimme Zeit für mich. Ich traute mich kaum zur Arbeit oder gar auf die Straße. Immer dachte ich, gleich falle ich um und bekomme einen Anfall. Zudem hatte ich mal einen Film aus Bethel gesehen – mit richtigen Epileptikern – und fand das ganz furchtbar, wie so ein Anfall aussah. Nicht nur, dass mir dabei etwas passieren könnte, sondern wenn das jemand sah, da musste ich mich doch schämen! Das war wirklich eine furchtbare Zeit… Der Chefarzt half mir sehr, denn wenn ich es gar nicht mehr aushielt, brauchte ich ihn nur anzurufen und konnte meist direkt zu ihm gehen. Er gab mir zur Überbrückung andere Medikamente. Das starke Medikament für Epileptiker hätte auf Dauer mein Gehirn empfindlich geschädigt.

Und dann kam die nächste Katastrophe: An einem wunderschönen Wintertag mit reichlich Schnee wollten eine junge Frau aus dem Schreibbüro, sie hieß Rosi, und ich nachmittags Schlitten fahren. Rosi hatte einen Schlitten und wir stiefelten froh gelaunt einen der naheliegenden Berge empor. Es war sehr lange her, dass ich Schlitten gefahren bin, und etwas steilere Abhänge ohnehin noch nie. Das war ein sehr steiler Abhang, den wir uns ausgesucht hatten, außerdem war der Schnee sehr tief und pulverig. Gleich beim ersten Runterfahren blieb ich beim Bremsen mit meinem linken Bein im tiefen Schnee stecken. Der Schlitten drehte sich, die Kufe landete auf meinem Bein und wir fielen mitsamt Schlitten quer auf meinen stecken gebliebenen Unterschenkel. Es war ein richtiges Knacken und Knirschen zu hören, und mir wurde übel vor Schmerz. Das Bein war kaputt, das spürte ich sofort!

Klar, wenn ich auch ohne Erlaubnis Schlitten fuhr, dachte ich gleich! Meine Mutter hatte es mir immer verboten.
Wir waren beide erschrocken und ich heulte und jammerte über mein Bein. Rosi packte mich auf den Schlitten und zog mich den Berg runter nach Hause. Dort rief sie die Oberschwester an, die einen Rettungswagen alarmierte, der mich ins Krankenhaus brachte. Oh je, und abends hatte ich eine Sitzung beim Chefarzt, die musste ausfallen. Nun hatte ich zusätzlich noch ein äußerst mulmiges Gefühl. Ich hätte überhaupt keinen Schlitten fahren dürfen, und schlussendlich wäre ich ohnehin zu spät zu dem Termin gekommen, und dann war ich erst drei Monate in dieser Stelle… Jetzt bekam ich bestimmt die Kündigung. Auch das noch!

Das Bein kam in einen Streckverband und ich musste vier Wochen im Krankenhaus bleiben, genau über Weihnachten. Meine Kollegin, Rosi und natürlich meine Eltern besuchten mich, aber dieses Rumliegen war nun wirklich nicht mein Fall. Ich konnte nicht flüchten, Tabletten konnte ich auch keine besorgen, und rauchen ebenfalls nicht. Dem Chefarzt schickte ich eine Karte und entschuldigte mich mal wieder für mein Fehlen. Daraufhin bekam ich eine sehr nette Weihnachtskarte einen Tag vor Weihnachten von ihm. Er war mir nicht böse, gekündigt wurde mir auch nicht, und er wünschte mir gute Besserung.

Ein Segen, das war geklärt, ich konnte weiter dort arbeiten! Ich bekam einen Gips und durfte nach Hause. Da der Bruch gesplittert war, dauerte es einige Monate, bis ich wieder arbeiten konnte. Davor bekam ich einen Anruf von meinem Chef, in dem er sich nach meinem Befinden erkundigte und ankündigte, dass er mich mal besuchen wolle. Meine Eltern waren gerade dabei, in unserem Haus eine Heizung einzubauen, und so sah es hier aus wie auf einer Baustelle. Meine Mutter und ich bekamen Blumen mitgebracht und Herr Chefarzt saß auf einer Teppichrolle. Wir unterhielten uns, und er erzählte mir von einem bevorstehenden Vortrag über Ernährung in Hann. Münden. Dann fragte er mich, ob ich Lust hätte, mitzukommen. Ach du meine Güte, ich sollte mit meinem Chef zu einem Vortrag? Natürlich habe ich bejaht und lief bzw. humpelte ziemlich nervös hin und her. Das größte Problem, was zog ich da an? Wie lief das ab? Da waren doch bestimmt nur Ärzte. Hoffentlich hatte ich dort keine Angst und konnte mich richtig benehmen. Das war wirklich eine Etage zu hoch für mich, aber absagen ging nicht, ich musste da mit.

Ich fuhr mit meinem Vater nach Witzenhausen und wir kauften einen Hosenanzug, damit das noch verbundene Bein nicht zu sehen war. Der bewusste Tag kam und vor unserem Haus hielt ein grüner Porsche, der Wagen meines Chefs. Das war zur damaligen Zeit etwa so, als wenn in dem kleinen Dörfchen ein Raumschiff gelandet wäre. Bei uns war Zonenrandgebiet, ein Porsche verirrte sich hier nie. Und jetzt stand einer vor unserem Haus! Nach der Begrüßung humpelte ich zittrig zu diesem Wunderauto. Meine Eltern standen beide hinter dem kleinen Badezimmerfenster und schauten zu, wie ich in den Wagen einstieg und das Auto mit mir verschwand.

Unruhig, ängstlich und still drückte ich mich in die Autopolster, am liebsten wäre ich darin verschwunden, statt dessen musste ich auf gestellte Fragen antworten. Nach kurzer Zeit hielt er an und sagte zu mir, dass es keinen Vortrag gäbe, er mir aber wichtige Dinge zu sagen hätte. Nicht schlecht, der Vortrag war passé, nur was wollte er mir denn sagen? Meine Unsicherheit war kaum auszuhalten, irgendwie kam mir die ganze Aktion ziemlich komisch vor.

Wir hielten vor einem Lokal außerhalb von Hann. Münden, stiegen aus, setzten uns in dem Lokal an einen Tisch und ich wartete gespannt, was jetzt kam. Er saß mir gegenüber, schaute mich sehr eindringlich an und fing an, mir in einer längeren Rede eine Liebeserklärung zu machen und bot mir das Du an. Ach du Schreck! Ich rutschte auf meinem Stuhl immer tiefer, den Kopf zog ich auch immer mehr ein und vermied angestrengt, ihn anzuschauen. Statt dessen sah ich mir genau gegenüber in einem Fernsehgerät die Mondlandung der Amerikaner an. Die Worte von ihm rauschten an mir vorbei.

Was war das denn jetzt? Er war doch mein Chef und doppelt so alt wie ich, ich schätzte mal Mitte vierzig, und ich war gerade einundzwanzig. Dazu war er ein sehr gut aussehender Mann, Chefarzt einer großen Klinik und verheiratet mit Familie. Irgendwas lief hier schief, das konnte doch gar nicht sein! In meinem Kopf wirbelte alles durcheinander und ich hätte jetzt sehr gern ein paar Beruhigungspillen gehabt, doch aufstehen, auf die Toilette gehen und meine Tasche mitnehmen, das fiel auf, also musste ich die ganze Angelegenheit so durchstehen. Nur duzen konnte ich ihn nicht, also sprach ich ihn nicht direkt an, sondern umschrieb die Sätze so, dass ich kein Sie oder Du brauchte. Ich konnte dazu nichts sagen, auch keine Bedenkzeit erbeten oder Ähnliches, das traute ich mich nicht. Also sagte ich gar nichts.

Wir fuhren dann sehr schweigsam nach Hause und ich war heilfroh, als ich aussteigen konnte und wieder zu Hause war. Meinen Eltern sagte ich nichts, ging in mein Zimmer und überlegte angestrengt, wie ich aus der Nummer wieder rauskäme. Dann fing ich an, einen Brief an ihn zu schreiben mit dem Inhalt, dass das wohl alles nicht ernst gemeint wäre und er nicht seine Frau betrügen könne, dass ich nur eine kleine, sehr junge Diätassistentin sei und er wegen mir doch nicht Ehe und Beruf aufs Spiel setzen könnte. Ich würde mit diesem Brief kündigen, eine andere Möglichkeit sah ich nicht.

Die ganze Nacht konnte ich nicht schlafen. Meine Eltern bekamen meine nächtliche Unruhe mit und am nächsten Morgen erzählte ich meiner Mutter die ganze Story. Die sagte doch glatt, so etwas Ähnliches hätten sie sich schon gedacht. Meine Mutter fand es zwar schade, ich ja auch, wenn ich dort kündige, pflichtete mir aber bei, dass ich wohl keine andere Chance hätte, um nicht die Geliebte eines verheirateten Mannes zu werden.

Der Brief kam zur Post und ich wartete gespannt auf eine Reaktion. Und die kam auch prompt. Er rief an und sagte, dass er das so nicht stehen lassen könne und die Kündigung nicht annehme, er müsse noch mal mit mir reden. Wieder erschien das tolle Auto vor unserem Haus und wir fuhren in ein Lokal, wo er mir unmissverständlich klar machte, dass er deshalb kein schlechterer Familienvater und Ehemann wäre, er brauche auch ein Teil seines Lebens für sich, eine Insel, auf die er sich zurückziehen könne, da sein Beruf und alles andere ihm eine Menge abverlangen würde.
Toll, nun fühlte ich mich richtiggehend verpflichtet, in die ganze Sache einzuwilligen, denn er hatte sich ja auch bereit erklärt, mir zu helfen. Ich hatte keine Chance gegen seine Argumentation, ich war wirklich wie Knetgummi in seinen Händen.

Kurze Zeit später fing ich wieder an zu arbeiten, und Manfred und ich sahen uns mehrmals die Woche in seinen Chefarzträumen in der Klinik, die richtig pompös eingerichtet waren. Ich bekam sogar einen Generalschlüssel, sodass ich mich nachts alleine aus der Klinik rausschleichen konnte. Ein bisschen gebauchpinselt fühlte ich mich schon: ein so toller Mann, der sich für mich interessierte! Wir arbeiteten auch weiter an meinen Problemen, und so wurde ich mehr und mehr von ihm regelrecht abhängig. In seiner Nähe fühlte ich mich zum ersten Mal in meinem Leben richtig geborgen und verstanden. Er motivierte mich immer wieder, wenn ich Angst vor irgendwelchen Dingen hatte, machte mir Mut und half mir aus dem ganzen Tabletten- und Alkoholwust herauszukommen. Für meine Schlafprobleme gab er mir dosiert irgendwelche Tabletten – und einmal sogar nur Plazebos, wovon ich aber nichts wusste – und ich schlief prächtig und war vor allem wieder seit langer Zeit morgens richtig ausgeschlafen. Das lief einige Monate so gut, bis er leider den Fehler machte und mir von den wirkungslosen Tabletten erzählte, weil er mir klarmachen wollte, dass ich auch ohne Schlafmittel schlafen könnte. Das war es dann! Von da an konnte ich wieder nicht schlafen und er durfte mir nur noch Packungen geben, woraus hervorging, dass es auch wirklich ein Schlafmittel war.

Die Zeit ging dahin, ich konzentrierte mich nur noch auf meine Arbeit in der Klinik und auf unsere Treffen. Inzwischen hatte ich doch den Führerschein gemacht und einen alten weißen VW-Käfer erworben. Von seinem Haus aus konnte mein Chefarzt den Parkplatz einsehen und wehe mein Auto stand abends nicht auf seinem Platz, dann rief er morgens gleich in der Küche an, und der Küchenchef rief durch die ganze Abteilung: „Frau Wagner, zum Chef!“

Da bekam ich dann gleich morgens eine Standpauke. Mehr und mehr vereinnahmte er mich, sodass ich mich schon deshalb nirgends mehr allein hintraute. Auf einer Weihnachtsfeier im Betrieb bekamen auch einige Leute mit, was zwischen uns lief, und ruckzuck war es in der ganzen Klinik Gesprächsthema. Von allen Seiten wurde ich kritisch oder auch lächelnd beäugt. Natürlich hörte ich auch hin und wieder blöde Bemerkungen, es war schon manchmal wie ein Spießrutenlaufen. Nur Manfred wusste nicht, dass die Klinik es wusste, ich habe es ihm auch nie erzählt, ich wollte ihn nicht beunruhigen.

Es war schon ein sehr isoliertes Leben und eigentlich ähnlich wie bei meinen Eltern in meiner Kinder- und Jugendzeit. Auf der einen Seite half er mir und ich fühlt mich auch geborgen, nur das Leben draußen lief ohne mich ab. Ich durfte immer weniger mein freies Leben führen, sofort stellte er mich zur Rede, wenn er mitbekam, dass ich mal abends aus war. Um dem Ärger zu entgehen, ließ ich es dann ganz, fühlte mich zunehmend eingesperrt und fing wieder an, mich mit Alkohol oder Tabletten zu betäuben. Die Wochenenden war er natürlich bei seiner Familie, ich durfte höchstens mal zu meinen Eltern fahren.

Zwischendurch wollte ich weg aus Bad Sooden-Allendorf, mal zur Weiterbildung als Ernährungsberaterin nach Düsseldorf oder zur Umschulung zur Masseurin, dazu hatte ich vom Arbeitsamt die Genehmigung bekommen, denn die Tätigkeit in der Küche war wirklich nicht mein Fall. Es ging sogar soweit, dass ich manchmal morgens vor der Küchentür einfach umfiel und kurze Zeit bewusstlos war, wenn ich nur den Geruch in die Nase bekam. Aber ich durfte nicht weg. Manfred organisierte mir ein kleines Büro, in dem ich Beratungen abhalten konnte, das wäre doch dasselbe wie Ernährungsberaterin, meinte er, und ich bekam auch mehr Geld… Na, und eine Umschulung kam schon mal gar nicht infrage. Mehrere Kündigungen von mir landeten im Papierkorb. Und jedes Mal gab ich klein bei, denn er konnte mich immer wieder auf Spur bringen. Ihm gegenüber hatte ich null Chance, mich durchzusetzen, wenn er es nicht wollte. Ab und zu nahm er mich zu einem Medizinerkongress oder Seminar mit, sodass wir uns auch mal draußen frei bewegen konnten. Das ging in dieser Gegend ja nun gar nicht, aus Angst, jemand könnte uns zusammen sehen, denn er war nun mal sehr bekannt als Arzt und auch als Mitglied des Lions Club. Um mich immer wieder bei Laune zu halten, bekam ich auch hin und wieder schöne Geschenke bis hin zu einem hellblauen VW-Käfer, zu dem er mir mit Geld verhalf. Den Rest bekam ich von meinem Vater, dem ich den Betrag in Raten zurückzahlte.

Eines Tages nach mehreren Jahren musste Manfred im Auftrag des Lions Club für mehrere Wochen nach England. In dieser Zeit ging ich viel mit einem befreundete Koch aus, der mit mir zusammenarbeitete, der über alles Bescheid wusste und mit dem ich mich gut austauschen konnte. In dieser Zeit merkte ich plötzlich, wie schön es war, einfach mal auszugehen oder nur mal in einem Lokal zu essen, ohne beobachtet zu werden – ganz zu schweigen von dem Besuch einer Disco. Für mich stand nach kurzer Zeit fest, ich musste mich aus diesem Gefängnis befreien, und mein Freund und Kumpel wollte mir dabei helfen.

Manfred kam aus Leeds zurück, es war Herbst und ich hatte vor, im Frühjahr die Klinik zu verlassen und meine Ausbildung zur Masseurin zu absolvieren. Mit dem Arbeitsamt war alles besprochen, ich musste nur warten, bis der neue Ausbildungsgang begann, und so lange wollte ich noch in der Klinik bleiben. Dann merkte ich ein paar Wochen später, dass ich schwanger war. Wie konnte das passieren, ich hatte doch immer die Pille genommen. Ach du Schreck, was jetzt tun? Jetzt wusste ich gar nicht mehr ein noch aus! An einem Abend, Manfred war ein paar Tage in Hamburg, rief ich seine Frau an und wollte mich mit ihr unterhalten. Die ganzen Jahre hatte ich immer ein ungutes, richtig mieses Gefühl, wenn ich sie sah – ich war die Frau, mit der ihr Mann sie betrog. Auf mich machte sie immer einen sehr netten und sympathischen Eindruck. Sie besuchte mich also, und da ich nichts zum Trinken hatte, bot ich ihr Buttermilch an. Ich dagegen hatte an dem Abend Wein getrunken, sonst hätte ich mir das nie getraut. Ich erzählte ihr von dem Verhältnis mit ihrem Mann und dass ich jetzt schwanger sei.

Am nächsten Morgen dachte ich nach dem Aufwachen: „Was war das denn für ein blöder Traum, Manfreds Frau war hier?“ Ich stand auf und sah auf dem Tisch die leeren Buttermilchgläser, da wusste ich, dass es kein Traum war. Nun war ich völlig durch den Wind. Was hatte ich denn jetzt wieder angestellt? Wenn das Manfred erfuhr! Ich bekam zu meiner Misere noch totale Panik. Hier half nur eines: Ich musste mich umbringen, da gab es jetzt kein Entrinnen mehr. Mir fiel in dem Moment auch ein, dass ich mal eine Schwester beobachtet hatte, wie sie abends den Schlüssel vom Stationszimmer in der Küche in einer Schublade versteckte. Was tat ich also? Ich trank mir etwas Mut an, ging hinüber zur Klinik, besorgte mir den Schlüssel, kam in das Stationszimmer und nach kurzem Suchen an den Medikamentenschrank. Ich nahm einige Packungen Limbatril und Librium mit und noch ein Schlafmittel, verstaute den Schlüssel wieder und verschwand mit den Pillen.

In meinem Zimmer überlegte ich noch eine Weile, aber es half nichts, ich hatte keine andere Wahl. Die Hälfte der mitgebrachten Tabletten schluckte ich runter, legte eine Kassette auf mit dem Lied Spiel mir das Lied vom Tod und wollte mich hinlegen, da kam mir plötzlich die Idee, meine Mutter anzurufen. Ich ging also zum Telefon auf dem Flur und rief ein letztes Mal meine Mutter an, redete irgendwelche belanglosen Dinge. Dann merkte ich die einsetzende Wirkung der Tabletten, verabschiedete mich schnell, legte auf und schwankte in mein Zimmer. Meine Mutter hatte mir allerdings die schwere Zunge angemerkt und machte sich Sorgen. Ihr ließ es keine Ruhe, und so wählte sie unsere Telefonnummer und wartete, bis sich eine Mitbewohnerin meldete. Das war dann meine Freundin Rosi, die auch auf dem Gang wohnte, und sie schaute nach mir.

Ich lag bereits bewusstlos auf dem Bett. Furchtbar erschrocken rannte sie zum Telefon und alarmierte den Rettungswagen, der mich in das Krankenhaus in Eschwege brachte. Zum Glück konnte ich in letzter Minute gerettet werden. Wieder hatte ich einen Schutzengel und enormes Glück. Ich wurde allein in einem Einzelzimmer behandelt und sollte zur psychologischen Betreuung nach Göttingen in die Psychiatrie. Davor kam mich Manfred in Eschwege besuchen und meinte sofort: „Eigentlich ist es Brauch, den Kindsvater als Erstes zu informieren.“

Er war nicht böse, aber sehr ernst. Wichtig war ihm, dass ich mir gut überlegen sollte, ob ich das Kind bekommen wollte, denn ich hatte Tabletten genommen, die könnten dem Kind geschadet haben, und wir könnten später, wenn ich unbedingt wollte, ein Kind haben. Wer es glaubte! Ich merkte sehr schnell, dass diese Situation ihn überforderte, die für ihn gefährlich werden konnte. Immerhin war unsere Beziehung ein Abhängigkeitsverhältnis. Er war mein Chef und auch mein Therapeut.

Ich kam also nach Göttingen in die Klinik und war wieder einmal über Weihnachten im Krankenhaus. Mehrere Psychologen und Ärzte machten mich darauf aufmerksam, dass ich mit meinen psychischen Problemen wohl kaum in der Lage wäre, mich um ein Kind zu kümmern. Ich war unsicher, sagte aber ganz klar, dass mir ein Kind auch helfen könne, denn dann hätte ich einen Halt. „Diesen Halt braucht in erster Linie das Kind“, erwiderte man mir. Da die Schwangerschaft schon zu weit fortgeschritten war, wollte man einen Abbruch per Bauchschnitt machen mit gleichzeitiger Eileiterverödung. Das hieß dann, ich hätte nie mehr ein Kind bekommen können.

Meine Eltern besuchten mich und meine Mutter redete mir ins Gewissen, dass ich dazu nicht meine Zustimmung geben sollte. Sie wolle mir mit dem Kind helfen. Was aber war, wenn es durch die Tabletten geschädigt worden wäre? Das war eine furchtbar schwere Entscheidung für mich. Der Chefarzt der Frauenklinik beschäftigte sich mit meinem Fall und untersuchte mich gründlich. Er sagte mir dann, dass das Kind wohl nicht geschädigt wäre, da die Tabletten sehr schnell ausgespült worden seien und zudem mein Körper Medikamente gewöhnt sei.

Also wollte ich das Kind behalten. Meine Eltern freuten sich, Manfred weniger, hielt aber schlussendlich zu mir. Ich wurde entlassen und arbeitete wieder. Jetzt fing aber eine sehr schwere Zeit für mich an. Ich fragte mich dauernd, ob die Entscheidung richtig war und mein Kind nicht doch geschädigt wäre. Ständig sah ich irgendwelche verkrüppelten Kinder, vor allem, weil damals die Schäden durch Contergan oft zu sehen waren. Ich machte mich manchmal richtig fertig, dass Manfred die größte Mühe hatte, mich zu beruhigen. In den weiteren Schwangerschaftsmonaten lebte ich ausgesprochen gesund. Keine Zigarette, keinen Alkohol, nur gesundes Essen bis zu jeder Menge Petersilie und sogar rohe Leber. Ich aß nur nach Vorschrift und nahm auch genau nach Vorschrift zu. Abgesehen von meinen Ängsten fühlte ich mich in der Schwangerschaft sehr wohl, besser als jemals zuvor. Ich hatte etwas, das ganz allein mir gehörte, mein Kind! Das machte mich stolz und glücklich. Ich fühlte mich im wahrsten Sinne des Wortes nicht mehr leer und nutzlos. Alles verlief planmäßig, der Geburtstermin verschob sich um fast eine Woche. Ich hatte immer noch keine Wehen, da wollte man das Kind per Kaiserschnitt holen.
 
Melanie

Je näher die Geburt kam, umso mehr geriet ich in Panik, ob alles in Ordnung wäre. Als ich ins Krankenhaus kam, musste man mir Beruhigungsmittel verabreichen, weil ich vor lauter Angst und Anspannung dem Kind hätte schaden können. Freitagnachmittag am 19. Juli 1974 kam ich in den Op, obwohl kurz vorher die Fruchtblase geplatzt war und die Wehen einsetzten. Die Hebamme konnte es nicht fassen und war furchtbar sauer auf die Ärzte, vielleicht wollten sie ja schnell nach Hause. Es war Wochenende. Jedenfalls hatte ich ziemlich heftige Wehen auf dem OP-Tisch, aber man machte einen Kaiserschnitt und Melanie war geboren.

Sofort, als ich aus der Narkose erwacht war, fragte ich die Schwestern, ob alles mit dem Baby in Ordnung wäre. „Alles in bester Ordnung, alles dran, es geht der Kleinen gut.“ Sie wickelten sie sogar auf meiner Bettdecke aus, damit ich mich selbst überzeugen konnte. Ich war überglücklich! Meine Mutter war gleich zur Stelle und sprang aufgeregt hin und her. Mein Vater besuchte mich, nur Manfred konnte schlecht in das Krankenhaus kommen, ihn kannte ja jeder. Man wusste zwar, dass der Vater ein verheirateter Mann war, aber nicht wer. Meine Mutter stand mit ihm in telefonischem Kontakt und berichtete ihm über sein neugeborenes Kind.

Von der Kurklinik besuchten mich alle Angestellten aus Küche und Service, begutachteten das Baby, standen um mein Bett und der Küchenchef gab dann von sich: „Ist das nicht komisch, die Kleine sieht ja unserem Herrn Chefarzt so ähnlich!“ Die anderen grinsten und glucksten und ich wäre am liebsten in meinem Bett versunken, rutschte immer tiefer in die Kissen und zog den Kopf ein. Natürlich erwiderte ich darauf nichts, ich wusste ja, dass es bekannt war.

Ein paar Tage später saß gerade mein Vater an meinem Bett, als meine Mutter in das Zimmer reingeschneit kam und alles Mögliche erzählte, was sie mit meinem Kind vorhatte. „Ich habe mir überlegt, das Bettchen der Kleinen stelle ich in unser Elternschlafzimmer, damit ich immer gleich da bin, wenn etwas ist, den Bettbezug werde ich in einem bestimmten Rosa nähen, ich habe mir dies und jenes überlegt, wie ich das dann mache!“ Und schon war sie wieder raus aus dem Zimmer, um nach der Kleinen zu sehen. Ich war völlig geschockt und mir kamen die Tränen. In dem Moment wusste ich, dass meine Mutter mir das Kind regelrecht wegnehmen würde, sie hatte mal gesagt, sie hilft mir bei dem Kind, jetzt bezog sie mich in ihre Pläne noch nicht mal mit ein, sondern redete nur in der Ich-Form.

Mein Vater merkte sofort, über was ich nachdachte, legte mir den Arm auf die Schulter und sagte nur: „Reg dich nicht auf, du weißt doch, wie sie ist.“ Ich lag mit meinem Bauchschnitt im Bett, konnte nicht hinter ihr her, und hatte das Gefühl, meine Mutter benahm sich so, als wenn es ihr Kind wäre. Da wurde bereits hier im Krankenhaus eine Eifersucht auf meine Mutter geboren, was die Kleine anging.

Manfred und ich hatten uns vor der Geburt auf Namen geeinigt. Ich wollte gern einen Namen mit dem Anfangsbuchstaben „M“ haben, und so suchten wir Marco für einen Jungen aus und Melanie, wenn es ein Mädchen würde. Den Namen Melanie hatte ich aus dem Film „Vom Winde verweht“. Leider konnte ich Melanie nicht stillen, da man mir nach dem Kaiserschnitt die Brust hochgebunden hatte, damit keine Milch kommt. Ich hatte davon keine Ahnung und damals kam es in Mode, dass viele Frauen nicht stillen wollten, weil angeblich die Form der Brust darunter leiden würde. Was für ein Quatsch! Doch wenn man keine Ahnung von medizinischen Maßnahmen hatte und den Ärzten ausgeliefert war, dann hatte man damals wie heute oft schlechte Karten.

Nach einigen Tagen, als mein Schnitt geheilt war, wurden ich mit Melanie entlassen. Ich war noch sehr schwach und ganz froh, dass meine Mutter sich um uns kümmerte. Leider machte sie von Anfang an den gleichen Fehler wie immer in meinem Leben, sie konnte alles und mir traute sie nichts zu, nicht einmal, mich um mein eigenes Baby zu kümmern. Der berühmte Satz war ja: „Lass das, du kannst das nicht.“ Diesen Satz habe ich heute noch in mir drin, wie eingraviert. Ich durfte Melanie gerade mal ab und zu das Fläschchen geben, und selbst da schaute sie zu, damit ich es ja richtig mache. Baden, keine Chance, das konnte ich nicht! Einmal schrie die Kleine fürchterlich, ich war gerade in der Nähe, nahm sie aus dem Körbchen und versuchte sie zu beruhigen, da flog die Tür auf, meine Mutter erschien, riss mir förmlich das Kind aus den Armen und nahm es mit runter. Ich war völlig geplättet. Bis dahin hatte ich nicht eine einzige Tablette, keine Zigarette und schon mal gar keinen Alkohol getrunken. Nach diesem Auftritt war das Maß voll.

Ich rannte raus, setzte mich in mein Auto und fuhr nach Bad Sooden-Allendorf in mein Appartement. Unterwegs kaufte ich mir Zigaretten und eine Flasche Wein. Ich saß in meinem Zimmer, weg von meiner kleinen Tochter und weinte bitterlich. Warum wehrte ich mich nicht? Ich dachte überhaupt nicht daran – wie eine Erlebnislücke, ich wusste wirklich nicht, dass ich das könnte. Seit Wochen war ich in Mutterschutz und brauchte noch immer nicht zu arbeiten, aber ich hielt es zu Hause nicht aus.

Am nächsten Morgen rief ich Manfred an und ging zu ihm in die Klinik. Ich erzählte ihm, wie es zu Hause mit meiner Mutter, der Kleinen und mir ablief. Er konnte mich verstehen, schickte mich wieder zurück und versprach, am Abend vorbeizukommen. Als er kam, war meine Mutter gerade dabei, Melanie zu baden. Er ging ins Bad, begrüßte meine Mutter, nahm ihr die Kleine ab, rief nach mir, legte mir das Kind in die Arme und sagte zu meiner Mutter: „Solange Ingeborg nicht arbeiten muss, ist das doch vorrangig ihre Aufgabe, sich um ihr Kind zu kümmern.“

Danach durfte ich tatsächlich etwas mehr tun. Wenn ich mir das heute überlege, hätte ich meiner Mutter mein Kind abnehmen müssen und ihr überhaupt keine Chance gelassen, sich so zu benehmen. Aber damals konnte ich das nicht, ich ließ sie, sie war der Boss. Und genauso machte sie es auch mit meinem Vater, sie ließ ihn immer merken, wenn sie etwas besser konnte, zum Beispiel im Garten. Er durfte zwar das Geld verdienen, aber um Rat fragte sie ihre Brüder, mein Vater war dann Luft. Kein Wunder, dass es soviel Krach gab.

Manfred war total überwältigt, als er die Kleine zum ersten Mal sah: „Die ist dir aber gut gelungen, ich bin sehr stolz!“ Und sie sah tatsächlich schon als Baby ihm sehr ähnlich, und das tut sie heute noch viel mehr: das reinste Ebenbild, nur dass Manfred dunkle Haare hatte und Melanie blond ist. Er hatte eine Narbe an der Lippe, und ich sagte später mal zu ihr, „dir fehlt nur noch diese Narbe, dann siehst du aus wie dein Vater.“ Später lief sie eines Tages vor ein Auto, hatte einen dicken verletzten Mund, und danach war die besagte Narbe an genau der gleichen Stelle, wie sie ihr Vater hatte. Schon reichlich seltsam!

Nach dem Mutterschutz musste ich wieder arbeiten, wohnte weiter in meinem Appartement und fuhr meist nur an freien Tagen zu meinen Eltern und meiner kleinen Tochter. Natürlich war ich froh, dass Melanie von meiner Mutter versorgt wurde, denn sie mit nach Sooden nehmen, das ging nicht, und allein mit meinem Kind in einer Wohnung zu leben, das traute ich mir damals nicht zu, und aufhören zu arbeiten, das würde Manfred nie zulassen. Das Gute für ihn war: Jetzt konnte ich nicht mehr weg, ich war buchstäblich festgenagelt.

Die Fronten wurden allmählich mit der Versorgung des Kindes geklärt. Ich kümmerte mich um sie, wenn ich bei meinen Eltern war, das musste auch meine Mutter einsehen, sonst hätte Manfred wieder auf der Matte gestanden. Melanie entwickelte sich prächtig und wurde auch getauft, allerdings zu Hause, da ich offiziell keinen Vater für sie aufweisen konnte. Und genau dieses Thema bestimmte oft unsere gemeinsamen Treffen. Ich versuchte ihm immer wieder klar zu machen, dass Melanie nur durch mündliche Überlieferung von der Existenz ihres Vaters wissen konnte, wenn er den Namen nicht angeben oder zumindest bei einem Notar hinterlegen würde. Ich sagte oft: „Stell dir vor, dir passiert etwas! Melanie ist noch klein, du kannst es ihr nicht sagen, und dann?“ Er darauf: „Und wenn ich ihn angebe, dann ist es amtlich und mein Arbeitgeber kann mich entlassen, da wir in einem Abhängigkeitsverhältnis stehen, und ich kann dann Pharmavertreter werden. Zudem bin ich noch dein Therapeut gewesen und könnte aufgrund dessen verklagt werden. Außerdem bin ich fit, und wenn mir etwas passieren sollte, dann beiße ich höchstens mit Porschi ins Gras.“

Ich ließ aber nicht locker, was schon sehr eigenartig war, denn normalerweise konnte er mich mit den meisten Dingen schnell ins Bockshorn jagen. Er war rhetorisch der Bessere, und allgemein war ich nun mal mehr oder weniger in seinen Händen Knetgummi. Er konnte mit mir machen, was er wollte. Mich ihm gegenüber durchzusetzen, das lief meist nicht. Er gab mir jeden Monat Geld für die Kleine, das ich dann meiner Mutter für den Unterhalt weiterreichte.
Kurz vor Weihnachten kam Manfred plötzlich und sagte: „Was meinst du, wo ich heute war?“ „Keine Ahnung!“ „Ich war auf dem Standesamt und habe die Geburt unserer Tochter amtlich gemacht – wenn, dann soll es auch richtig sein.“ Ich war total perplex, denn damit hatte ich nicht gerechnet. Das war drei Monate vor seinem plötzlichen Tod.

Weihnachten selbst war trotz Melanie ziemlich traurig, weil ich jetzt noch mehr merkte, dass ich wohl immer an Wochenenden und Feiertagen allein mit meiner Tochter war, denn der Vater musste zu seiner ersten Familie. Seine Frau hatte ihn nach meiner Offenbarung zur Rede gestellt, doch er stritt es ab und meinte nur: „Es gibt bei manchen Menschen ein psychisches Krankheitsbild, wo sie sich gewisse Dinge einbilden und sie auch glauben.“ Wenn ich das heute mit 34 Jahren Abstand lese, wird mir schon recht mulmig zumute.

Warum habe ich mich immer in meinem Leben von nahestehenden Menschen an die Seite drängen, mich regelrecht für ihre eigenen Schwächen missbrauchen lassen? Ich bin damals nie für mich eingestanden, aber für andere. Wenn ich sah, dass jemand anderes mies behandelt wurde, ging ich auf die Barrikaden und konnte richtig kämpfen, so wie um die offizielle Anerkennung meiner Tochter – doch nicht für mich…

Nach dem ersten Weihnachten allein mit Melanie und meinen Eltern rutschte ich psychisch wieder ab. Ich versank in Grübeleien, wurde zunehmend unruhiger, fühlte mich wieder total eingesperrt, denn nun konnte ich nicht einfach weglaufen. Die Schlafprobleme wurden auch wieder heftiger und ich nahm vermehrt Beruhigungsmittel. Ich hatte ja noch immer einen Rest übrig von meinem nächtlichen Einbruch im Stationszimmer der Klinik. Da mir das dann aber wegen meiner Tochter nach kurzer Zeit zu heiß wurde, ließ ich mich wieder in Göttingen in der Psychiatrie einweisen. Das war im Februar 1975. Ich war dort zwei Wochen und Manfred besuchte mich so oft er konnte. Er nahm mich dann jedes Mal mit raus, wir fuhren ein Stück und redeten. Mir fiel auf, dass er sehr ruhig war und ziemlich schlecht aussah, ein leichtes bläuliches Aussehen im Gesicht. Er beruhigte mich und sagte, dass er einen heftigen grippalen Infekt gehabt habe, es sich aber nicht leisten könne, sich ins Bett zu legen, da sein Oberarzt auf Weltreise sei und er somit niemanden habe, der ihn vertreten könne. Das wird schon wieder, ihn bringe nichts um…

In der letzten Woche meines Aufenthaltes in der Klinik hatte ich drei Mal denselben Traum oder die Vision – wie immer man das nennen soll. Es war nicht wie ein üblicher Traum, sondern wie Wirklichkeit: Manfred saß inmitten einer Gruppe Menschen auf der Erde und unterhielt sich mit ihnen, eine Tür ging auf, er schaute hin und fiel dann um. Ich erzählte meinem behandelnden Arzt davon, aber der konnte mir diesen Traum auch nicht erklären.

Am Tag vor meiner Entlassung kam er noch einmal, um mich zu besuchen, nahm mich wie immer mit dem Auto mit und fing an, sehr eigenartige Dinge zu sagen: „Wir haben eine süße kleine Tochter, du musst mir versprechen, dass du immer gut zu ihr sein wirst.“

Ich schaute ihn völlig verwundert und auch ängstlich an: Was sollte denn das? „Wieso, du bist doch da, du kriegst es doch mit.“
„Ich denke, ich sollte mich von dir trennen, damit du deinen eigenen Weg gehen kannst.“
„Was, du willst mich allein lassen, warum denn das?“
„Du musst jetzt mal allein laufen lernen, du kannst das, ich trenne mich ja nicht wirklich von dir, ich bin immer für dich da.“

Ich flog ihm um den Hals, klammerte mich an ihn und sagte immer wieder: „Du kannst mich doch jetzt nicht allein lassen, ich brauche dich doch, und jetzt noch viel mehr mit Melanie.“
„Du brauchst keine Angst zu haben, du bist nicht wirklich allein, ich bin immer in deiner Nähe.“
Mir wurde angst und bange und ich dachte wirklich, dass er sich jetzt von mir trennt, da seine ansonsten lebenslustige Frau seit einiger Zeit depressiv war und sich ebenfalls in einer Klinik befand. Sicher musste er jetzt wieder ganz für sie da sein. Aber was sollte dann mit mir und Melanie werden?

Er fuhr mich wieder zu der Klinik, stieg mit mir aus, nahm mich in den Arm, verabschiedete sich und schaute mich ganz eigenartig an, bevor er sich wieder in sein Auto setzte. Ich ging mit einem unguten Gefühl auf die Station und unterhielt mich am nächsten Tag mit meinem Arzt. Meine Entlassung stand fest, ich wurde von meinem Vater abgeholt und fuhr wieder nach Hause zu meiner kleinen Tochter. Am nächsten Tag musste ich wieder arbeiten.
Abends saß ich im Wohnzimmer bei meinen Eltern, als plötzlich das Telefon klingelte. Meine Mutter nahm den Hörer ab, hörte zu und wurde ganz blass und verließ sofort das Zimmer ohne Kommentar. Ich saß wie erstarrt auf meinem Platz und sagte in den Raum hinein: „Es ist etwas mit Manfred passiert, vielleicht hatte er einen Unfall.“

Mein Vater schaute ganz erschreckt, sagte aber nichts.
Dann erschien meine Mutter wieder, konnte mich aber nicht anschauen. Ich saß wie gelähmt und sagte zu ihr: „Stimmt’s, Manfred ist etwas passiert!“

Sie konnte nichts sagen, sie nickte nur. Wir saßen alle drei in völliger Ruhe, bis meine Mutter endlich erzählte, was der Anrufer ihr mitgeteilt hatte. Es war mein guter Kumpel aus der Klinik, der meiner Mutter erzählte, dass Manfred mit einigen Angestellten Sport machen wollte. Sie saßen auf dem Boden und unterhielten sich über ein Fußballspiel, als er plötzlich umfiel. Ein herbeigerufener Arzt konnte nur den Tod feststellen. Das war mein dreimal geträumter Traum.
Ich stand auf wie in Trance, ging die Treppe in Zeitlupentempo hoch zu meiner Tochter an das Bettchen. Sie lag süß schlummernd da und ich sagte ihr wie ein Roboter: „Dein Vater ist gestorben.“ Dann brach ich schluchzend neben ihrem Bett zusammen.

Mein Vater brachte mich am nächsten Tag nach Göttingen, weil ich überhaupt keinen Ton mehr von mir gab und wie erstarrt war. Ich blieb ein paar Tage dort, man gab mir Beruhigungstabletten, dann wollte ich aber wieder nach Hause zu meiner kleinen Tochter. Meine Mutter fuhr nach Bad Sooden-Allendorf, nahm an den Trauerfeierlichkeiten teil und machte mir ein paar Bilder. Irgendwie versuchte ich mit der Tatsache klarzukommen, dass Manfred gestorben war, nur innerlich glauben konnte ich es nicht. Irgendwie glaubte ich wohl, dass er eines Tages wieder da wäre.

Nach ein paar Wochen ging ich wieder arbeiten, da ich dachte, dass mich das ablenken würde. Die Mitarbeiter in der Klinik waren auch ganz geschockt und keiner benahm sich irgendwie fies mir gegenüber, sie waren alle sehr nett. Tagsüber lief es auch ganz gut, bis auf die Abendstunden, da kam ich nicht klar. Meist fuhr ich nach Hause und manchmal sofort wieder weg, wenn ich Melanie sah. Ihre Ähnlichkeit mit ihrem Vater rührte mich so sehr, dass ich ab und zu einfach aus dem Zimmer lief und wieder nach Sooden fuhr. Dort fing ich zunehmend an, mich mit Tabletten und Alkohol zu betäuben. Einer seiner Söhne tauchte eines Abends bei mir auf und wollte irgendwelche Unterlagen, die sie nicht finden konnten, nur davon wusste ich nichts.

Meine Freundin, die Sekretärin von Manfred war, beauftragte ich, Bilder aus unseren gemeinsamen Urlaubstagen aus seinem Zimmer zu holen, damit sie nicht irgendwelchen Leuten in die Hände fielen. Er hatte mir mal gesagt, wo er sie aufbewahrte.

Ich arbeitete, fuhr nach Hause zu Melanie, abends betäubte ich mich, so vergingen einige Wochen. Allmählich merkte ich, dass Manfred nicht wieder kam, und konnte damit überhaupt nicht umgehen. Der Schmerz, verlassen zu sein, wurde immer größer. Vor allem war er mein erster Therapeut, und bei aller Schwere des Verhältnisses hatte ich meine wichtigste Bezugsperson verloren. Er hatte mich immer wieder motiviert und aufgebaut. Obwohl ich eigentlich die Beziehung beenden und einen anderen Beruf erlernen wollte, war jetzt alles anders. Ich hatte überhaupt keinen Halt mehr, weglaufen ging auch nicht, wohin? Und ich hatte ein Kind. Aber aus Sooden musste ich weg, da erinnerte mich alles an Manfred.

Ich lief umher, als wenn ich nicht zu dieser Welt gehörte, und dachte immer mehr daran, mich umzubringen, um dann wieder bei ihm zu sein. Die Welt um mich herum erschien mir wie eine Arena von wilden Tieren, die mich fressen wollten, und ich hatte keinen Schutz. Da mein Zustand immer schlimmer wurde, fuhr ich regelmäßig nach Göttingen zu einem Therapeuten, aber der konnte mir nicht helfen. Ich bat ihn, mich auf einer geschlossenen Station aufzunehmen, damit ich nicht irgendwelchen Unsinn mache und Melanie noch nicht mal mehr eine Mutter gehabt hätte. „Wenn Sie so darüber reden, passiert Ihnen nichts“, war seine Antwort gewesen.

Ein paar Tage später setzte ich mich abends hin, schrieb einen Brief an meine Tochter und meine Eltern, fuhr dann zum Tablettenbesorgen nach Göttingen und anschließend nach Berlepsch in den Wald.
Wie es dort weiterging, habe ich in einem früheren Kapitel bereits geschrieben…
Irgendwie weiter leben, ohne Melanies Vater

Es dauerte Wochen und Monate nach dem schweren Suizidversuch und wochenlangem Koma, bis ich wieder einigermaßen denken konnte. Auch zu Hause hatte ich noch meine Probleme. Anfangs konnte ich mich nicht einmal an Manfred oder sogar Melanie erinnern, es war alles weg.

Je mehr ich wieder denken konnte, umso mehr beschäftigten sich meine Gedanken mit einer neuen Arbeitsstelle. Ich konnte doch jetzt nicht zu Hause bleiben, ich brauchte wieder mein eigenes Geld, und ständig hier bei meinen Eltern leben, das war auch nicht gut. Für Melanie bekam ich fast ein Jahr nach Manfreds Tod eine Halbwaisenrente, was das Jugendamt für mich erledigt hatte. Manfreds Frau bekam auch von Amtswegen Bescheid, dass ihr Mann und ich tatsächlich ein Kind zusammenhatten und ich sie an bewusstem Abend nicht falsch informiert hatte. Sie hörte von meinem schweren Suizidversuch und bot meiner Mutter ihre Hilfe an. Sie war bereit, Melanie zu sich zu nehmen, falls ich nicht wieder gesund würde, damit Melanie nicht in ein Heim müsste. Natürlich lehnte meine Mutter ab, denn noch konnte sie sich um die Kleine kümmern. Als ich zu Hause war, übernahm ich die Pflege wieder.

Anfangs hielt ich mich von Tabletten und Alkohol fern, dafür fing ich an, Süßigkeiten zu essen. Meist war es eine Tafel Schokolade, dann eine Tüte Plätzchen, die Mengen wurden immer mehr. Da ich ja um die Wirkung vermehrter Kalorien wusste, trank ich Abführtee, und als das nicht viel nutzte, fing ich an, die aufgefutterten Süßigkeiten wieder auszubrechen. Das war anfangs ekelhaft, aber die dickmachenden Kalorien waren somit wieder draußen.

Später, als Melanie laufen konnte, wollte sie hinter mir her, wenn ich mich in ein Zimmer verzog, um zu futtern, dann fühlte ich mich ertappt und versteckte die Packungen. Das sollte sie bei ihrer Mutter nicht sehen. Später fuhr ich in ein benachbartes Städtchen, kaufte Süßigkeiten ein und Wasser. Dann fuhr ich mit dem Auto einen Umweg, um in Ruhe die Sachen zu essen, Wasser dazu zu trinken, und wenn ich zu Hause war, ging ich gleich auf die Toilette und brach alles wieder aus. Das war nun wirklich mein Geheimnis, das bekam jahrelang niemand mit. Irgendwie musste ich meine innere Leere auffüllen, denn solange ich in mich reinfutterte, wurde ich ruhiger und mir ging es recht gut. Vor allem etwas Süßes brauchte ich, und das sagt schon der Name: s ü ß. Genau das brauchte ich offensichtlich, die süße Variante in meinem Leben. Wahrscheinlich wird sich kaum jemand mit sauren Gurken den Bauch vollhauen. War der dann bis zum Überlaufen gefüllt, kamen Gewissensbisse über die vielen Kalorien, und das Zeug musste wieder raus.

Melanie war ein unglaublich süßes kleines Mädchen. Eine Tante machte wunderschöne Aufnahmen von ihr, und manchmal hatte ich die Idee, diese Bilder an eine Agentur zu schicken, ließ es aber doch sein. Mit meiner Mutter hatte ich mich arrangiert, ich war ja froh, dass sie sich um Melanie kümmerte. Manchmal allerdings war es auch unglaublich schwer, wenn Melanie mehr Oma als Mama rief – das war ja total klar, denn sie war viel mehr mit meiner Mutter zusammen als mit mir. Bei einem Spaziergang lief das dann z.B. folgendermaßen ab: Melanie fiel hin und tat sich weh. Was passierte? Sie rief: „Oma, Oma, Oma“ – und ich, ihre Mutter, stand daneben. Je nachdem, wie ich drauf war, konnte ich das nicht aushalten und brüllte meine Mutter an, dass Melanie nach ihr rief. Das war aber nun mal so. Ich hätte ja eine eigene Wohnung nehmen können und mich allein um sie kümmern, aber das traute ich mir immer noch nicht zu.

Ich konnte kaum mal in Ruhe mit Melanie irgendetwas spielen, ich war immer innerlich furchtbar unruhig, am liebsten wäre ich ständig herumgelaufen, irgendwie war ich dauernd auf der Flucht. Vor was? Vor mir selbst? Vor dem Leben? In einer Situation drinbleiben, mich damit beschäftigen, im Augenblick zu sein, die sogenannte Achtsamkeit leben, konnte ich einfach nie. Wenn ich saß, dann stand ich, wenn ich stand, dann lag ich, meine Gedanken waren immer anderswo, nie da, wo ich mich gerade befand.

Meine Mutter animierte mich, eine Kontaktanzeige aufzugeben, damit ich mal etwas anderes sah, als nur zu Hause zu sein. Sie war dann diejenige, die jeden Brief aus dem Postkasten holte und ihn mir freudestrahlend brachte und ganz gespannt danebensaß, wenn ich ihn aufmachte. Es waren auch tatsächlich ein paar nette Männer darunter, die mich mochten und auch meine Tochter, aber ich hatte an jedem etwas auszusetzen, nur um ja nicht festgenagelt zu werden – denn das waren ja Männer, die es wirklich ehrlich meinten mit mir und Melanie und eine feste Beziehung wollten! Aber ich floh mit wehenden Fahnen. Meine Eltern schüttelten nur den Kopf, sie konnten mich schon lange nicht mehr verstehen – wie auch? Ich verstand mich ja selber nicht! Also das war dann auch ausgestanden.

Ich kümmerte mich um eine Anstellung, die es aber leider in dieser Gegend in Kurkliniken nicht gab, also musste ich weiter weg und fand eine Tätigkeit in einer neu eröffneten DAK-Kurklinik in Bad Pyrmont. So sehr weit war das ja nicht, ich konnte alle 14 Tage nach Hause fahren.
 
Bad Pyrmont

Ich fuhr nach Bad Pyrmont und war begeistert von der tollen neuen Klinik und einer wunderschönen, modern eingerichteten kleinen Wohnung, die ich auf dem Klinikgelände bekommen hatte. Ich stürzte mich regelrecht in die Arbeit, es machte sehr viel Spaß, zumal die Klinik völlig neu startete und ich den Anfang mitgestalten konnte. Ich war zwar wie immer in erster Linie in der Küche tätig, hatte aber ein schönes kleines Büro und sollte viel in der Krankenberatung arbeiten. In der Küche gab es zusätzlich einen Diätkoch, dem ich unterstellt war und von dem ich zum ersten Mal die feine Küche im diätetischen Bereich lernte. Der ganze Küchenbetrieb lief eher wie in einem Hotel ab, als in einem Krankenhaus. Ich lernte viel, verstand mich prima mit meinen Vorgesetzten und Kollegen, in der schönen Wohnung fühlte ich mich auch sehr wohl, und für die Freizeitgestaltung konnte ich alle Sporteinrichtungen nutzen, wie Schwimmbad, Tennisplätze und Fitnessraum. Pyrmont gefiel mir ebenfalls recht gut, ich kannte es ja schon von einem früheren kurzen Intermezzo und war anfangs auch viel in der kleinen Kurstadt unterwegs…

Drei Monate lief alles prächtig, ich dachte, ich hätte es endlich geschafft, mein Leben auf die Reihe zu kriegen. Ich hatte keine Fress- und Brechanfälle, trank wenig Alkohol und brauchte wenig Tabletten, nur eben zum Schlafen. Alle vierzehn Tage fuhr ich nach Hause zu meiner Tochter und brachte ihr auch jedes Mal etwas Schönes mit.

Da ich 14-tägig arbeiten musste und das andere freie Wochenende immer nach Hause fuhr, konnte ich natürlich nicht viel in der Freizeit unternehmen und vor allem nicht privat mit Kollegen zusammen sein. Nach und nach entwickelten sich Freundschaften zwischen den Mitarbeitern, die alle neu angefangen hatten, nur ich stand mal wieder außen vor und verpasste irgendwie den Anschluss. Und wenn ich dann in der Woche mal ausging, brauchte ich wieder einen Mutmacher in Form von Alkohol.

Meine Mutter besuchte mich sogar mit Melanie und war ebenfalls ganz begeistert von der schönen Wohnung und der Klinik. Doch der Alltag wurde allmählich Routine und ich gab mir nicht mehr so viel Mühe wie am Anfang und passte auch nicht auf mich auf. Zwar durfte ich sogar den Chefarzt mit Rauchervorträgen vertreten und machte das wirklich gut, wie ich überhaupt von allen ob meiner fachlichen Qualitäten sehr geschätzt wurde. Und trotzdem fing dieses Gefühl der Leere zunehmend wieder an, ich kaufte immer mehr Süßigkeiten, die ich verspeiste und anschließend wieder erbrach, trank vermehrt Alkohol und schluckte wieder mehr Pillen. Das alte Gefühl – nicht klarzukommen, es ist alles egal, alles nur schwarze Löcher – nahm immer mehr zu.

Eines Tages fiel ich in meiner Wohnung mit meiner „Spezialmischung“ von Tabletten und Alkohol von der Couch, mit dem Kopf gegen das Tischbein und lag bis zum nächsten Morgen bewusstlos unter dem Tisch. Man fand mich und brachte mich in eine Klinik in Hildesheim. Dort wusste man sofort, dass ich regelrecht von Tabletten betäubt war. Irgendwie fand ich immer wieder einen Arzt, der mir Beruhigungsmittel verschrieb. In der damaligen Zeit wurden diese Mittel noch nicht mit Suchtwirkungen in Verbindung gebracht, so wie heute.

Nun, man machte einen kalten Entzug mit mir, d.h. überhaupt kein Mittel. Ich zitterte, hatte furchtbare Angstzustände, Herzrasen, Schwitzen, es ging mir furchtbar schlecht, aber man gab mir nichts zum Dämpfen, bis ich wieder einen Krampfanfall bekam. Da plötzlich sprangen die Schwestern und Ärzte und ich bekam sofort ein Beruhigungsmittel. Der Oberarzt kümmerte sich intensiv um mich, weil die Oberschwester der Klinik, in der ich arbeitete, mit ihm befreundet war. Sie besuchte mich auch und nach ein paar Wochen ging es mir wieder besser. Mein Vater kam sogar nach Hildesheim, um mich abzuholen und in meine Wohnung nach Pyrmont zu bringen.

In Pyrmont angekommen, wurde mir vom Hausmeister gesagt, dass ich gleich in die Verwaltung kommen solle. Dort wurde ich zwar nett begrüßt, man übergab mir aber gleichzeitig die Kündigung, die von der Hauptverwaltung der DAK in Hamburg ausgesprochen worden war. Die Fürsprache von Chefarzt und Oberschwester konnten nichts daran ändern. Ich war so geplättet, dass ich mich am liebsten gleich wieder betäubt hätte. Gut, das mein Vater dabei war, da traute ich mich das nicht.

Wir packten wieder mal alle meine Sachen ein und fuhren nach Hause. So eine schöne Stelle – und zack war sie wieder weg! Warum bekam ich einfach mein Leben nicht geregelt? Ich war fachlich gut, bekam die besten Zeugnisse, mir ging es auch recht gut, solange ich arbeiten konnte. Doch war ich dann alleine, brach innerlich alles in mir zusammen. Ich hatte überhaupt keinen Halt in mir, den suchte ich immer außen, und da gab es seit Manfreds Tod einfach nichts Verlässliches. Meine Eltern waren überfordert.