Ingeborg Wagner
…und ich steh immer wieder auf
Mein Leben
Privatedition 2010
(Alle Rechte vorbehalten)

 

„Mutter, warum bist du alt geworden!“

…war das ein Tag! Meine Mutter ist vorgestern ins Krankenhaus eingeliefert worden. Sie hatte plötzlich Luftnot und saß schwer atmend auf ihrem Bett – abends um 22.30 Uhr.

Mir passte das wieder mal überhaupt nicht. Ärgerlich und ungeduldig hatte ich gesagt: „Och Mutti, musst du immer abends mit solchen Sachen kommen! Du weißt doch, dass ich dann wieder nicht einschlafen kann.“ Meistens war nämlich gar nichts, sie bemerkte nur wieder irgendetwas an sich, bekam Angst und steigerte sich da hinein. Wenn ich das sah, bekam ich jedes Mal Herzklopfen, weiche Knie, automatisch Angst um sie, so wie schon als kleines Kind, Angst, dass meiner Mutter etwas passieren könnte. „Ich hab dir doch so oft schon gesagt, wenn dir irgendetwas Probleme bereitet, dann sag es mir früher!“ Ich wusste nie, war das nur Panikmache oder tatsächlich ein körperliches Krankheitssymptom.

Sie schaute mich auch vorgestern ängstlich und kläglich an und sagte: „Ja, ich dachte, es geht wieder weg, ach das geht wohl auch, aber ich bin so wackelig auf den Beinen, trau mich nicht allein auf die Toilette.“ Ich schaute sie prüfend an und merkte, dass da wirklich etwas nicht stimmte.

Sie war inzwischen 89 Jahre alt und konnte wegen ihrer stark arthrotischen Knie lange schon nicht mehr richtig laufen, hatte ein Altersherz, was ihr öfters Schwierigkeiten bereitete, aber ansonsten war sie organisch recht gesund. Und ganz besonders war sie geistig völlig intakt und interessierte sich noch für vielerlei Dinge.
Ich war vor über sieben Jahren zu ihr gezogen, um mich um sie zu kümmern, da es damals von meinem Leben her auch gepasst hatte. Dass dieses Zusammenleben vielerlei Probleme für beide Seiten brachte, davon erzähle ich später.

„Mutti, wenn es dir wirklich nicht gut geht, dann rufe ich jetzt den Notarzt, es kann nachts schlimmer werden und dann wissen wir wenigstens, was los ist.“
„Nein, ich will keinen Arzt, der schickt mich nur wieder in ein Krankenhaus, und das will ich nicht!“
„Ach was, der schaut nur mal nach, was ist, und dann wissen wir beide Bescheid.“
„Gut, aber dann den Hausarzt.“
„Mutti, es ist heute Freitagabend, da gibt es nur den Notarzt.“
„Na gut, wenn du meinst, dann hilf mir aber vorher noch auf die Toilette.“

Ich drückte den Notrufknopf und wartete, dass sich jemand meldete. „H a l l o, meiner Mutter geht es nicht so gut, sie ist sehr schlapp und hat extreme Luftnot, können sie einen Arzt vorbeischicken?“
„Ja, machen wir, kommt sofort!“

Meine Mutter prüfend anschauend und doch etwas ängstlich, sagte ich ganz cool zu ihr: „Na komm, Mutti, dann wollen wir mal.“ Ich half ihr, aufzustehen und merkte, wie wackelig sie war, sie hing förmlich an meinem Arm. Schritt für Schritt, ganz langsam bewegten wir uns zur Toilette. Ich drehte sie bedächtig zu der Kloschüssel und setzte sie hin. Plötzlich kippte sie zur Seite, war für kurze Zeit ohnmächtig, kam dann aber wieder zu sich und sagte leise: „Jetzt dachte ich, es geht zu Ende, ich möchte aber noch ein bisschen hier bleiben!“

Ich war furchtbar erschrocken, mein Herz schlug rasend, meine Beine wurden weich, der Kopf hämmerte, aber ich ließ mir nichts anmerken und beruhigte sie mit den Worten: „Das wirst du auch, der Arzt ist bestimmt gleich da.“ Innerlich war ich jedoch fix und alle, half ihr, sich wieder anzuziehen, aber sie konnte nicht mehr aufstehen, so schwach war sie. Ich wollte ihr Herz nicht noch mehr belasten und ließ sie einfach sitzen und hielt sie fest. Sicherlich hatte der Rettungsdienst schon öfters einen Menschen auf dem Klo gesehen. Den Sitz konnte ich noch schließen, aber mehr ging einfach nicht. Sie saß zusammengefallen da, kreideweiß, ja fast bläulich im Gesicht, schaute mich voller Angst an und ich hielt sie schwer hängend in meinem Arm.

Da kam auch schon der Rettungswagen mit dem Notarzt, ich war heilfroh! Ich machte ihnen die Tür auf, führte sie zu meiner Mutter und erklärte dem Notarzt, was gewesen war. Sie hoben sie auf einen Tragesitz und nahmen sie mit in den Rettungswagen. Ich gab die Personalien an und packte ein paar Sachen zusammen. Der Notarzt sagte mir dann an der Tür, dass meine Mutter eine starke Tachykardie habe und behandelt werden müsse, es wäre aber nicht lebensbedrohlich, ich brauche nicht mitzukommen, könne aber später mal anrufen.

Ich wusste, dass ich im Krankenhaus nur im Weg stand, blieb also zu Hause und rief nachts gegen 1.00 Uhr im Krankenhaus an. Eine nette Ärztin beruhigte mich, sie würden das schon in den Griff bekommen, ich solle mir keine Sorgen machen, ansonsten riefen sie mich an. Nun ja, ich konnte in der Tat nichts tun und legte mich ins Bett in der Hoffnung, ein wenig schlafen zu können. Nur daran war überhaupt nicht zu denken, mein Herz raste weiter, ich zitterte und mir gingen tausend Gedanken durch den Kopf. Was ist, wenn sie jetzt tatsächlich stirbt… nun, vielleicht ist es besser… nein, das geht nicht… aber dann haben wir beide endlich unsere Ruhe… aber was soll dann hier aus dem Haus werden… soll ich dann hier bleiben… aber dann bin ich ganz allein, außer meinem Hund… nein, ein paar Jahre könnte sie doch noch leben… sie ist doch eigentlich noch ganz fit… aber was wird, wenn sie bettlägerig wird… ich kann das dann gar nicht mehr schaffen… ach, sie wird nicht sterben… und wenn doch, soll ich meinen Kindern Bescheid sagen… aber doch nicht mitten in der Nacht… das wird schon wieder, es war ja schon öfters so ähnlich… So ging das hin und her, mein Kopf sprang vor lauter Denken fast auseinander, und zu den jeweiligen Gedanken kamen wellenartig die körperlichen Reaktionen.

Ich nahm noch eine Schlaftablette, aber die half nicht viel, und sprang wieder aus dem Bett, lief die Treppe runter nach draußen, rauchte unruhig eine Zigarette, ging wieder nach oben. Libo, mein Hund, immer mit, wieder ins Bett, bis ein klein wenig Dösen mich etwas beruhigte.

Am nächsten Tag war ich früh aus dem Bett, kochte mir Kaffee, aß schnell etwas, zog mich hastig an, ließ den Hund raus, suchte für meine Mutter noch ein paar Sachen zusammen und verließ mit den Worten zu Libero – „Frauchen kommt gleich wieder“ – das Haus. In einer ungewissen Stimmung fuhr ich ins benachbarte Krankenhaus nach Witzenhausen. An der Pforte fragte ich: „Heute Nacht ist meine Mutter, Frau Wagner, hier eingeliefert worden, können Sie mir bitte sagen, auf welchem Zimmer sie liegt?“
Die Pförtnerin antwortete mir: „Station 1 auf der Überwachungsstation, die Zimmernummer sagt man Ihnen auf der Station.“

Der Aufzug dauerte mir zu lange, ich lief die Treppe hoch. Natürlich war nicht gleich eine Schwester zu sehen, ich lief ungeduldig hin und her, schaute in einige offene Zimmer, bis ich jemanden fand, der mir Auskunft geben konnte. Ich klopfte an die Tür, öffnete sie und sah meine Mutter am Fenster in einem Bett liegen. Sie machte einen besseren Eindruck als am Abend zuvor, was mich natürlich schlagartig beruhigte.

Ich ging an ihr Bett und tätschelte sie ein wenig auf die Wange mit den Worten: „Na Mutti, wie ist es, geht es dir besser?“
„Die wollen eine Magenspiegelung mit mir machen, das will ich aber nicht“, überfiel sie mich gleich.
„Was, warum?“
„Mit meinem Blut stimmt was nicht, ich lass das aber nicht machen“, sagte sie noch mal mit Nachdruck.
„Mutti, ganz ruhig, ich erkundige mich erst mal bei dem Arzt.“ Gleich sprang mein Computer im Kopf an, wieso Magenspiegelung, sie war doch wegen Luftnot und Tachykardie eingeliefert worden. Und da ich ein klein wenig von Medizin verstand, zu den Ärzten nicht das unbedingte Vertrauen hatte und in den Krankenhausbetrieb aufgrund von Personalmangel schon mal gar nicht, musste ich das jetzt gleich klären. „Mutti, mach dir keine Sorgen, ich kümmere mich darum!“ Mit diesen Worten ging ich aus dem Zimmer, um eine Schwester zu suchen, die mich zu dem behandelnden Arzt bringen könnte.

Auf dem Gang kam mir ein Arzt entgegen, der gerade zu meiner Mutter wollte. Ich begrüßte ihn, stellte mich als die Tochter von Frau Wagner vor und wir gingen zusammen in ihr Zimmer. „Hallo, Frau Wagner“, sagte er etwas lauter zu meiner Mutter, sie war zwar nicht schwerhörig, aber so sprach man im Allgemeinen alte Menschen an. „Sie haben viel zu wenig Blut und deshalb müssen wir eine Magenspiegelung machen, um zu sehen, woher das kommt!“
„Nein, nein, nein, das lass ich nicht machen, ich habe doch nichts am Magen, sondern am Herzen.“ Er drehte sich zu mir um und erklärte mir, dass man bei der Blutuntersuchung festgestellt hatte, dass sie nur noch 8 HB habe, also fast die Hälfte Blut wie normal. Man habe bei ihr morgens im Schieber Teerstuhl gefunden, und so stand die Vermutung fest, dass sie Magenbluten haben könnte. Der schnelle Herzschlag und die enorme Schwäche würden also durch den Blutverlust verursacht.
„Oh, das ist aber verdammt wenig“, sagte ich erschrocken. Und zu meiner Mutter: „Mutti, ich denke, in dem Fall muss diese Spiegelung gemacht werden, denn man muss doch sehen, wo bei dir ein Loch ist, damit man es schließen kann.“
Meine Mutter sah mich unsicher an und sagte dann kleinlaut: „Meinst du wirklich, na, wenn du das sagst, dann muss es wohl sein.“
„Ich hatte doch auch mal eine Magenspiegelung, ist zwar nicht so toll, aber so schlimm ist es auch nicht, ich bleibe ja bei dir“, beruhigte ich sie.
Der Arzt nickte zustimmend mit den Worten: „Wir werden das möglichst in der nächsten Stunde erledigen, Sie bekommen auch eine leichte Betäubung, Sie spüren da nicht viel, und eine Bluttransfusion bekommen Sie dann auch.“
„Siehst du, Mutti, erst stopfen sie das Loch, dann bekommst du frisches Blut und Montag bist du dann wieder ganz fit.“
Sie lächelte mich ängstlich an, war aber dann einverstanden.

Der Arzt verschwand, und kurz darauf kam eine Schwester, die meine Mutter mit dem Bett in die Endoskopie abholen wollte. Als sie schon mit dem Bett halb aus dem Zimmer war, rief von draußen eine andere Schwester: „Frau Wagner, das Ganze verzögert sich, wir haben eine Entbindung im Kreißsaal und heute (es war Samstag) nur eine Anästhesistin.“
„Na, hoffentlich kommt das Kind schnell, sonst dauert das ja ewig, und das ist dann nicht so toll für meine Mutter“, entgegnete ich. „Außerdem: Wieso eine Anästhesistin, sie soll doch nicht operiert werden, so eine leichte Betäubung kann doch auch der Arzt machen, der die Magenspiegelung durchführt?“
„Nein, das geht leider nicht, da muss ein Narkosearzt dabei sein, das ist Vorschrift“, sagte die Schwester.

Ich fand das wirklich scheiße, da ich ja wusste, wie viel Angst meine Mutter vor allen Eingriffen und überhaupt Krankheiten hatte, und jetzt sollte sie noch warten. „Die sollen mehr Personal einstellen, gibt doch genug Arbeitslose, anstatt ständig neue Vorschriften…“, brummelte ich vor mich hin. Ich wurde natürlich wieder nervös, wie immer, wenn etwas nicht gleich klappte.

Ich packte die mitgebrachten Sachen für meine Mutter aus und stellte fest, dass man die ausgezogenen zusammengeknüllt einfach in ihre Tasche geschmissen hatte. „Echt unmöglich, wie die alles hier reingeknallt haben! Aber du wirst ja dann verlegt, wenn es dir besser geht, und deshalb braucht man nicht alles in einen Schrank zu räumen, eben Personalmangel!“

„Ach Ingeborg, ich bin ja so froh, dass du bei mir bist, was würde ich jetzt nur ohne dich tun, ich bin so froh und du bleibst doch auch hier, bis ich fertig bin.“
„Na klar, ich komme mit runter und warte vor der Tür und pass auf, dass alles richtig abläuft!“

Meine Mutter war sehr erschöpft und schlief ein. Ich verhielt mich ruhig, schaute sie an und bemerkte, wie eingefallen sie aussah. Und schon setzte ich mich vor lauter Unruhe wieder in Bewegung, lief im Zimmer hin und her, schaute dabei aus dem Fenster, ohne irgendetwas wirklich zu sehen – der Kopf war wieder angesprungen mit meinem Kopfkino. Wenn sie erst Blut bekam, würde es ihr wieder besser gehen, beruhigte ich mich selbst.

Nach fast zwei Stunden kam wieder eine Schwester und sagte: „So, Frau Wagner, jetzt geht es endlich los!“
„Das Kind schon da? Das ging aber schnell“, sagte ich sarkastisch zu der Schwester.

Meine Mutter verkroch sich tief in ihrem Bett, als wenn sie sich verstecken wollte. Ich griff eine Seite des Betts, die andere die Schwester, und wir fuhren den Gang auf der Station entlang bis zum Fahrstuhl, dann nach unten zur Endoskopie. Die Schwester machte die Tür auf und schob meine Mutter mit dem Bett hinein. Ich winkte ihr aufmunternd nach und bekam ein komisches Gefühl in der Bauchgegend, denn ich wusste aus eigener Erfahrung, dass eine Magenspiegelung eben nicht so toll ist.

Erst lief ich wieder mal unruhig den Gang hin und her, kein Mensch zu sehen, alles wie ausgestorben. Es war Wochenende und die Klinik ohnehin laut Zeitungsberichten in einigen finanziellen Schwierigkeiten: Patientenabbau, Stellenabbau, Übernahmegespräche, das Übliche in unserer heutigen Zeit. Hoffentlich machen die das richtig und meine Mutter kriegt nicht so viel mit, dachte ich bei mir und setzte mich dann nach einigen Metern des Hin- und Herlaufens auf einen der Stühle vor der Endoskopie. Das Ohr Richtung Tür gedreht, bekam ich ein paar Sätze von drinnen mit. „Frau Wagner, wir sind gleich fertig, ganz ruhig liegen bleiben, dann geht es schneller“, hörte ich den Arzt sagen, und von meiner Mutter ein leises Stöhnen. Das verstand ich wieder nicht! Ich denke, sie haben sie betäubt, wieso redet er dann mit ihr und sie stöhnt auch noch!

Wieder verspannte sich mein ganzer Körper bei dem Gedanken, was die arme alte Frau jetzt durchmachen musste. Auf meinem Sitz rutschte ich unruhig hin und her, kaute auf meinen Lippen rum und zappelte mit den Händen auf und ab.

Dann endlich ging die Tür auf, eine Schwester schob das Bett raus und meine Mutter lächelte mich an. Da war ein ganzer Berg von ihr abgefallen, das konnte ich richtig spüren. „Und, was ist, was Schlimmes, habt ihr etwas gefunden?“, fragte ich die Schwester.
„Da müssen Sie den Arzt fragen, ich kann dazu nichts sagen.“
Nervös lief ich auf der Stelle, bis der Arzt kam. „Und, was ist mir ihr?“

Der Arzt erzählte mir, dass er ein großes altes Magengeschwür bei meiner Mutter gefunden habe, welches wohl geblutet hatte, im Moment aber nicht mehr. Er habe eine Biopsie gemacht, um abzuklären, ob es eventuell bösartig wäre, da meine Mutter ja komischerweise keine Magenschmerzen hatte.

Erst einmal war ich beruhigt, denn laut meines Wissens würde man an einem Magengeschwür nicht unbedingt sterben, und die Frage nach Krebs schob ich gleich beiseite.

Eine Schwester kam und wir fuhren meine Mutter wieder auf die Station in ihr Zimmer. „Ich habe nicht viel gemerkt, habe zu dem Arzt gesagt, wann er anfangen würde, dabei war es schon vorbei.“ Sie strahlte förmlich vor Erleichterung.
„Ich kann nur nicht verstehen, warum du keine Magenschmerzen hattest“, sagte ich, „da muss man doch unheimliche Schmerzen haben bei so einem Geschwür. Du hast mir doch erzählt, dass dein Vater, der ja solche Geschwüre hatte, sich vor Schmerzen auf der Erde gewälzt hat.“

„Ja, richtige Schmerzen hatte ich auch nicht, nur oft so einen Druck, und die letzte Zeit nicht so viel Hunger und war immer gleich satt“, sagte sie.
Mit einem mulmigen Gefühl fiel mir ein, dass ich mich erst gestern darüber aufgeregt hatte, weil mein gekochtes Essen zum Teil auf ihrem Teller blieb und ich sie angefahren hatte, dass mir Kochen ohnehin keinen Spaß mache, es nur wegen ihr tue und sie dann die Hälfte auf dem Teller ließe.

Sie entgegnete ganz traurig: „Es schmeckt wirklich gut, ich hatte mich auch drauf gefreut, bekomme aber einfach nichts mehr runter.“
Das war ja nun tatsächlich so und ich hab sie auch noch angeschnauzt. Nun, bei dem Gedanken ging es mir nicht so gut, ich bekam Gewissensbisse. Mir fiel auch ein, dass sie am Abend zuvor mit ihrem Rollstuhl am Spülbecken in der Küche stand, sich ständig an die Magengegend fasste und trotzdem aufstand und spülen wollte. „Ach, ich habe solche Kreuzschmerzen!“
„Mutti, dann setzt dich hin, ich mach das schon.“
„Ich will mich doch auch ein bisschen betätigen“, entgegnete sie. Mir kam das komisch vor, dass sie seit längerer Zeit kaum stehen konnte, sich immer in die Magengegend fasste und von ihren starken Rückenschmerzen redete.

Der Hausarzt hatte ihre Beschwerden mit Osteoporose erklärt, dass sie bereits einen starken Rundrücken habe, die Wirbelsäule keinen richtigen Halt mehr und daher die starken Schmerzen kommen. Gut, das war einleuchtend, aber es hätte ja nun auch vom Magen kommen können. So gingen mir einige Gedanken durch den Kopf. Meine Mutter lächelte mich an, wurde müde und schlief ein.

Kurze Zeit später kam ein Arzt rein, den ich als den Sohn einer Freundin erkannte und der sich auch mit dem betreffenden Namen vorstellte. Meine Mutter war sofort wieder wach, schaute den Arzt freundlich an und sagte zu ihm: „Dann heißt ihre Mutter Gudrun, meine Tochter ist mit ihr befreundet.“
Der Arzt sagte ganz erstaunt: „Ja, das stimmt“, und musste lachen. „So, Frau Wagner, jetzt wollen wir mal die Transfusion anschließen, Sie bekommen neues Blut.“

„Siehst du, Mutti, dann geht es dir bald wieder besser!“ Ich setzte mich etwas entspannter auf einen Stuhl neben ihrem Bett und schaute zu, wie der Arzt die Kanüle setzte und kurz darauf das Blut in den Arm meiner Mutter tropfte. Jetzt passierte ja etwas, atmete ich durch, das würde ihr gut tun. Sie war die ganzen letzten Wochen schon so schlapp und konnte kaum laufen, als wir zusammen ein paar Schritte vor dem Haus gegangen waren. Kein Wunder bei so wenig Blut! Warum ist der Hausarzt nicht auch mal auf den Gedanken gekommen, ein Blutbild zu machen! Der kam doch alle zwei Wochen. Jedes Mal maß er Blutdruck, fühlte den Puls, und wenn meine Mutter etwas von Schwäche erzählte, hat er sie nur beruhigt und ihr erklärt, sie solle mehr laufen, sonst würde das Herz zu schwach, da es ja auch ein Muskel sei – so sprach er auch noch einen Tag vor der Einlieferung ins Krankenhaus.

Das ging mir alles nebenbei durch den Kopf und ich wurde ganz schön wütend. Muss man heute überall aufpassen? Er ist doch der Arzt und nicht ich, bei so wenig Blut würde kein Mensch auch nur aufstehen wollen, und dann noch das hohe Alter und die Knochenprobleme! Nun, ich hatte in meinem Leben auch einige nicht so tolle Erlebnisse mit Ärzten gehabt und somit mein Vertrauen sehr angeknackst, doch das half im Moment nichts, meine Mutter wurde ja jetzt wohl richtig behandelt.

Sie lag entspannt da, hatte ganz rote Bäckchen und ließ mich wieder wissen, wie froh sie sei, dass ich da wäre. Das waren für mich ganz neue Töne, denn das hatte sie die ganzen sieben Jahre nie so gesagt, aber ich hatte immer darauf gewartet. Und nun kam das gleich mehrmals an diesem Tag. Irgendwie wunderte ich mich schon darüber und genoss es einfach. „Mutti, ich muss jetzt auch erstmal wieder nach Hause fahren, mit dem Libo laufen, ich komme nachmittags wieder.“

Sie nickte freundlich mit den Worten: „Dann mach mal, komm aber bald wieder.“
Ich verließ das Zimmer und fuhr nach Hause. Tante Edith, die gleich nebenan wohnte, stand mit dem Ewald, einem sehr netten älteren Herrn, der sich um sie kümmerte, vor der Haustür. „Ist was mit der Mutti?“, fragte sie gleich. Ich erzählte von der nächtlichen Aktion und wie es ihr jetzt ginge. „Dann bestell schöne Grüße, gute Besserung, und ich will sie dann auch besuchen“, sagte Tante Edith betroffen.
Ich nickte, ging ins Haus und wurde stürmisch von Libero begrüßt, dem ich gleich die Leine anmachte und mit ihm laufen ging. So richtig war ich nicht bei der Sache, die vergangenen Stunden beschäftigten mich ständig. Von der schönen Landschaft nahm ich heute nichts wahr.

Wieder zu Hause, aß ich schnell einen Joghurt, trank einen Kaffee, gab dem Hund etwas zu fressen, schickte Konstantin, meinem Sohn, eine Mail und verließ das Haus mit dem gewohnten Wortlaut: „Frauchen kommt bald wieder.“

Ich fuhr schnurstracks zu meiner Mutter ins Krankenhaus. Als ich ins Zimmer kam, lag sie mit offenem Mund im Bett und schlief richtig fest. Leise ging ich durch das Zimmer und setzte mich auf einen Stuhl, nahm mein Handy und rief Lara an, ebenfalls eine Freundin, die sich vergangene Woche liebevoll um meine Mutter gekümmert hatte und nachts sogar im Haus schlief, als ich bei Melanie, meiner Tochter, in München zu deren Promotionsfeier war. Leise erzählte ich Lara, was passiert war und vernahm, dass sie gleich kommen wolle.

Inzwischen war meine Mutter wieder aufgewacht und freute sich, dass ich da war. „Du hast aber gerade wunderbar geschlafen“, sagte ich zu ihr.
Sie: „Ach was, ich habe doch nicht geschlafen“ – das sagte sie immer, irgendwie hatte sie trotz ihres hohen Alters und sogar jetzt im Krankenhaus wohl immer noch ein schlechtes Gewissen, wenn sie am Tage schlief.
Ich kannte das und grinste. „Wenn du meinst.“

Es schien ihr wirklich gut zu gehen, so sah sie aus: entspannt, fast fröhlich, und sie erzählte mir wieder, wie froh sie war, dass sie diese Magenspiegelung überstanden hatte und ich da war. Wieder dieses Lob!
Lara kam, wir unterhielten uns über das Geschehene. Lara war auch ganz erschrocken, denn damit hatte sie nicht gerechnet, als sie am Montag „Omasitting“ gemacht hatte. „Ich kann leider nicht so lange bleiben, Frau Wagner. Wenn Sie einverstanden sind, komme ich Sie morgen früh etwas länger besuchen.“
Mama nickte freundlich und gab Lara zu verstehen, wie sehr sie sich darüber freuen würde.
„Oh, klasse“, sagte ich, „dann kann ich ausschlafen, die letzte Nacht war kurz, und so komme ich dann am Nachmittag, wenn Libero draußen war.“

Oma war es zufrieden und freute sich, dass sie dann den ganzen Tag Besuch hätte. Lara ging, ich blieb noch ein Weilchen, wollte dann aber auch gehen, ich sah ja, dass es ihr gut ging. Der Monitor an ihrer Seite zeigte auch keine Auffälligkeiten, und außerdem lag sie ja auf der Überwachungsstation.
Ich trat an ihr Bett, streichelte sie über die Wange und sagte: „Mutti, dann bis morgen, erhol dich gut.“

Sie hob plötzlich die Arme hoch, legte sie mir um den Hals, zog mich zu sich runter, drückte mich und sagte: „Nimm es mir bitte nicht übel, wenn nicht alles so richtig gelaufen ist in deiner Kindheit, ich wusste es nicht besser, mein Schatz!“
Ich war völlig verdutzt und entgegnete sofort: „Ach Mutti, ich nehme dir nichts übel und habe es nie, sonst wäre ich nicht zu dir gezogen, das habe ich dir doch schon oft gesagt. Ich quak nur öfters rum, wenn ich mit mir selber nicht klarkomme und mir alles zu viel wird, das hat mit dir meist gar nichts zu tun, ich habe eben überhaupt keine Geduld.“
„Ja, das stimmt wohl“, sagte sie, lächelte und schaute mich mit liebevollen Augen an, dass ich Mühe hatte, meine Rührung zu verbergen.
Ich streichelte sie noch einmal, schaute sie unsicher an und verließ mit den Worten, „dann bis morgen“, den Raum.

Wie in Trance lief ich durch das Krankenhaus. Was war denn das? So etwas hatte meine Mutter noch nie zu mir gesagt und dann auch noch „mein Schatz“ und dass sie mich in den Arm genommen hatte, ich war völlig daneben. Gab es jetzt plötzlich eine emotionale Seite in unserer Mutter-Tochter-Beziehung? Das war wirklich nicht der Normalfall bei ihr, das kannte ich nicht. Schon vor ein paar Tagen hatten wir so eine nahe Begegnung gehabt, nachdem ich sie mal wieder angeblafft hatte und mich dann kurze Zeit später entschuldigte. Sie hatte sich dann an mich gelehnt, ich hielt sie richtig liebevoll im Arm, sie ließ es vor allem auch zu und wir weinten beide. Da war wirklich eine große Nähe zwischen uns – und jetzt das hier im Krankenhaus! Ich war richtig überwältigt. Tränen schossen mir in die Augen und Gefühle, die lange nicht mehr so parat waren, wie Liebe zu meiner Mutter und ein Glücklichsein: dass sie mich lobte und ich das Gefühl hatte, sie hat mich wirklich gern. So ganz konnte ich das alles nicht einordnen. Ich schüttelte immer wieder den Kopf musste mich dann Gott sei Dank auf das Autofahren konzentrieren, denn Gefühle, die unter die Haut gingen, waren nicht so unbedingt mein Ding.

Zu Hause ging ich mit Libero spazieren, konnte mich aber wieder nicht richtig auf ihn konzentrieren, da im Inneren bei mir alles durcheinanderlief. Schlussendlich packte ich meine aufgewühlten Gefühle unter meine Fassade und freute mich ganz einfach auf den nächsten Tag, da würde ich meine Mutter besuchen und mal sehen, wie das mit uns dann weiterging. So machte mir etwas zu essen, gab Libero zu fressen, setzte mich entspannt vor den Fernseher und schaute einen Film an. Danach nahm ich wie immer eine kleine Dosis Schlafmittel, legte mich ins Bett, las noch in einem Buch und schlief ein.

Morgens wurde ich recht froh gelaunt wach, stiefelte die Treppe runter, ließ Libo in den Garten, ging in die Küche, wollte Frühstück machen. Da läutete plötzlich das Telefon. Ohne irgendeine Vorstellung, wer das sein könnte, nahm ich den Hörer ab und meldete mich.
„Guten Morgen, Frau Wagner, hier ist das Krankenhaus in Witzenhausen“, sagte der behandelnde Arzt meiner Mutter. Mir sank augenblicklich das Herz in die Füße. „Ihrer Mutter geht es heute Morgen so schlecht, dass wir sie auf die Intensivstation verlegt haben, wir müssen noch mal eine Magenspiegelung machen, sie muss wieder bluten, denn trotz Transfusion ist der Blutspiegel rapide abgesunken, sie will aber nicht.“

Erst brachte ich vor Schreck keinen Ton raus, dann sagte ich: „Ja, das kann ich schon verstehen, so toll ist das auch nicht, nur können Sie denn durch die Spiegelung diese Blutung stillen?“
„Ja, das wollen wir versuchen.“
„Dann müssen Sie das auch machen, ich ziehe mir nur schnell etwas an, ich komme gleich.“
Hastig den Hörer weggelegt, in der Küche den Wasserkocher abgestellt, die Haustür aufgemacht, den Hund rein gelassen, und schon lief ich die Treppe hoch, um mich anzuziehen, da klingelte das Telefon schon wieder.
Der Arzt: „Haben sie eine Patientenverfügung von ihrer Mutter?“
„Ja“, stammelte ich vor Schreck in den Hörer, „ich bringe sie mit, ich komme sofort!“

Jetzt ist es ernst, dachte ich, nahm zittrig meine Jeans, wollte sie anziehen, da klingelte es schon wieder! Ein Bein bereits in der Hose, humpelte ich zum Telefon. Wieder der Arzt: „Wir haben jetzt doch eine Spiegelung gemacht, sie hat zugestimmt, nur können wir die Blutung nicht stillen, wir kommen da nicht ran, der ganze Magen ist voller Blut.“
„Dann müssen sie den Magen aufmachen, sie können sie doch nicht verbluten lassen“, schrie ich in den Hörer.
„Das wollen wir auch, der Chirurg ist schon da, wir glauben aber, dass sie zu schwach ist, um das zu überstehen.“
„Aber sie müssen etwas tun!“, schrie ich verzweifelt, und im Hintergrund hörte ich meine Mutter „N e i n!“ rufen. Ich zog mich in Windeseile fertig an, schlug die Haustür zu, rein in das Auto und mit für mich und das alte Auto überhöhtem Tempo nach Witzenhausen. Gedacht habe ich kaum etwas, nur fahren und zu meiner Mutter kommen, um ihr zu helfen. Dass sie jetzt tatsächlich sterben könnte, kam mir überhaupt nicht in den Sinn.

An der Pforte sagte ich völlig nervös zu der diensthabenden Frau: „Ich bin angerufen worden, meiner Mutter geht es nicht gut, ich weiß nicht, wohin ich muss, zum OP oder zur Intensivstation.“
„Ach so, es geht um Frau Wagner.“ Die Frau spürte meine Aufregung und wählte mehrere Nummern, überall besetzt. Ich konnte nicht mehr abwarten, lief zur Intensivstation, drückte auf den Klingelknopf und wartete nervös, bis die Tür aufging. Eine Schwester erschien, begrüßte mich mit den Worten: „Kommen sie bitte mit.“ Dann kam der Arzt, der die Magenspieglung am Tag zuvor gemacht hatte. Er schaute mich unsicher an und sagte: „Ihre Mutter ist vor ein paar Minuten verstorben, wir konnten nichts mehr tun!“
Ich hatte das zwar gehört, aber nicht begriffen. „Wo ist meine Mutter, kann ich zu ihr?“
„Ja natürlich, kommen sie mit, eine Frau ist bei ihr.“

Ich lief wie ein Roboter hinter dem Arzt her, die Tür ging auf, ich sah Lara neben dem Bett meiner Mutter, sie stand sofort auf, kam auf mich zu, umarmte mich. Ich stürzte an das Bett und stand schlagartig still. Meine Mutter lag wie schlafend in ihrem Bett. Irgendjemand stellte hinter mich einen Stuhl, auf den ich mich sofort setzte. Ich beugte mich zu meiner Mutter, streichelte sie, gab ihr einen Kuss auf die Wange und fing an, mit ihr zu reden. „Mutti, warum jetzt? Ich hatte mich so gefreut, dich heute zu besuchen, jetzt bist du einfach gestorben, ich habe mich so beeilt, ich habe dich doch lieb, auch wenn ich es in den letzten Jahren nie gesagt habe, ach Mutti…“ Ich weinte. Nur irgendwie begriff ich nicht wirklich, dass meine Mutter jetzt tot war. Ich redete immer weiter mit ihr und streichelte sie und betete, dass sie es gut haben solle dort, wo sie jetzt hingeht. Ihre Haut fühlte sich noch ganz warm an, um den Mund wie ein Lächeln, und an der Seite der Lippen war ein kleines Rinnsal Blut zu sehen. Nun war sie so schnell gestorben, ohne es wirklich mitzubekommen, davor hatte sie doch so große Angst in ihrem Leben gehabt, vorm Sterben und Leiden. Doch sie musste noch diese dicken Schläuche in ihrem Mund und Hals ertragen, das hätte ich ihr gerne erspart.

Nach vielleicht einer Stunde fiel mir ein, dass ich meine Kinder anrufen müsse, vor allem Melanie. Die Oma war für sie eine zweite Mutter, als ich dazu nicht in der Lage war. Ich ging auf den Flur, nahm mein Handy, wählte Melanies Nummer und wartete. „Diese Nummer ist vorübergehend nicht erreichbar“, sagte eine Stimme. Das geht aber nicht, dachte ich, sie muss jetzt erreichbar sein. Ich wusste, dass sie sich ein schönes Wochenende mit Natalie machen wollte, nach dem ganzen Stress der vergangenen Wochen vor ihrer Doktorprüfung. Ich wusste gar nicht, wo sie sich befand. Zum Glück hatte ich auch Natalies Handynummer, wählte sie und hatte sofort Verbindung. Ich erzählte ihr von Omas Ableben und sie sagte gleich: „Oh je.“ Dann gab sie mir Melanie.

„Was ist los, Mama, was ist mit der Oma?“ Ich sagte es ihr und sie sagte gleich: „Mama, ich komme sofort, aber wir sind in Garmisch-Partenkirchen, wir wollten gerade mit dem Lift nach oben zum Skilaufen. Ich will die Oma noch mal sehen, aber wir brauchen bestimmt sechs Stunden, bis wir da sind.
„Schön, dass du kommst!“, sagte ich erleichtert.
„Na klar, ich lass dich doch jetzt nicht allein.“
Ich ging wieder zurück und fragte eine Schwester, wie lange meine Mutter noch in ihrem Zimmer und Bett bleiben könne.
„Maximal zwei Stunden“, sagte sie.

Ich hörte mich sagen, dass meine Tochter sie noch sehen möchte, aber frühestens in sechs Stunden da sein kann. Ich erfuhr, dass meine Mutter nach zwei Stunden in eine Halle käme und dort niemand mit hingehen könne, weil heute Sonntag sei und niemand da ist, der sie begleiten könne. Also, das gibt es doch nicht! Aus Personalmangel kann Melanie ihre Oma jetzt nicht mehr vor dem Sarg sehen! Da war ich wieder parat und beklagte mich lautstark, dass das nicht sein könne und es eine Möglichkeit geben müsse. „Dann muss ich sie mit nach Hause nehmen!“, sagte ich. Ich hatte mal gehört, dass Verstorbene zwei bis drei Tage in ihrem Bett liegen bleiben sollten, damit die Seele in Ruhe sich vom Körper verabschieden kann.
„Das geht nicht, das ist nicht erlaubt“, sagte eine Schwester sofort.

Kaum gestorben, schon war kein Platz mehr im Krankenhaus und sie kam sofort in eine Totenhalle. Ich fand das ganz schön heftig. Zum Glück kam der Sohn meiner Freundin, der meine Mutter vorwiegend behandelt und mich auch angerufen hatte. Ihm erzählte ich von dem Dilemma. Er wusste gleich von einem freien Zimmer, wo man meine Mutter hinbringen könne, bis Melanie käme. Ein Glück! Ich war erleichtert, denn ich wusste, wie wichtig das für sie war.

Jetzt musste ich noch Konstantin Bescheid geben, aber der war in England und ihn konnte ich nur über Mail erreichen. Lara, die sich bisher im Hintergrund gehalten hatte, kam zu mir, nahm mich wieder in den Arm, versuchte mich zu trösten und meinte, dass ich erst einmal mit zu ihr kommen solle. Einer Schwester sagte ich, dass ich noch mal zurückkäme. Ich war total verwirrt und wusste gar nicht, was ich jetzt weiter tun sollte. Mit dem Auto zu Lara fahren, erst nach Hause, Mail schreiben?

Lara nahm mich am Arm und zog mich einfach mit. Sie gab mir bei sich zu Hause einen warmen Tee zu trinken und erzählte mir, wie die letzten Minuten im Leben meiner Mutter verlaufen waren. Sie wollte sie ja morgens besuchen und war schon da, als sie starb. Lara sagte, sie wäre ganz ruhig und friedlich eingeschlafen. Es wäre sogar richtig feierlich gewesen. Sie saß am Bett, hielt die Hand meiner Mutter, eine Schwester hat am Kopfende gestanden, sie gestreichelt, und ein Arzt stand am Fußende. Meine Mutter schaute nach oben, ein lang gezogener Ton auf dem Monitor, das Herz stand still.

Ich weinte leise vor mich hin. Wir zündeten eine Kerze an und beteten für sie. Dann hielt es mich nicht länger auf dem Sitz, ich musste nach Hause, Konstantin Bescheid geben. Lara brachte mich zum Auto. Unterwegs sah ich plötzlich das Schaufenster eines Bestattungsunternehmens, das mir noch nie aufgefallen war. Ich notierte den Namen und Telefonnummer, um später anzurufen. Eine Beerdigung organisieren war neu für mich – und dann noch für meine Mutter… Natürlich hatte ich damit gerechnet, sie war nun ja wirklich recht alt geworden, aber nicht heute, nicht nach diesem emotionalen Tag gestern!

Irgendwie stand ich unter Schock. So war das schon öfters in meinem Leben. Meine Gefühle zu einem Menschen kamen an die Oberfläche, dann war dieser Mensch plötzlich weg und ich stand da, aufgebrochen und wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte – und dann auch noch bei meiner eigenen Mutter. Ich fuhr wie automatisiert nach Gertenbach, nicht direkt nach Hause, sondern zu Kellners auf den Hof, wo meine Mutter geboren worden war und der jetzt von meinem Cousin bewirtschaftet und bewohnt wurde. Ich stellte das Auto auf den Hof und ging zu Gerlinde in die Küche. „Die Oma ist gerade gestorben!“
„Was, wie das denn!“, fragte Gerlinde ganz erschrocken.

Ich erzählte ihr von der Einlieferung in der Nacht, von dem gestrigen Tag, von ihren Beschwerden und dass ich das auch gar nicht fassen könne. Sie schien immer noch für ihr Alter richtig gut in Form gewesen zu sein.

Gerlinde tröstete mich, bot mir Hilfe an und ich ging wieder. Ich musste ja weiter.
Ich fuhr mit dem Auto nach Hause. Libero begrüßte mich ganz stürmisch, ich ließ ihn raus und bewegte mich nach oben zum PC, um Konstantin zu benachrichtigen. Das fiel mir schwer, denn auch er hatte seine Oma sehr gern. Sie war alt, aber wenn dann plötzlich dieser geliebte Mensch nicht mehr da ist? Ich schrieb die Nachricht, ging wieder runter, steckte irgendwas Essbares in den Mund, nahm die Leine, legte sie Libero an und ging mit ihm zu Tante Edith. Auch sie konnte es nicht glauben, dass ihre Schwägerin nicht mehr da sein sollte.

„Tante Edith, kann ich den Hund eine Weile bei dir lassen, ich möchte noch einmal ins Krankenhaus zu Mutti.“
„Natürlich, lass ihn hier! Wenn ich etwas helfen kann…“, fragte sie wie immer hilfsbereit, obwohl sie inzwischen selbst Hilfe benötigte.

Ich fuhr wieder ins Krankenhaus und setzte mich neben das Bett meiner Mutter. Sie lag noch in dem Zimmer, wo sie gestorben war. Inzwischen war ich ruhiger, kapierte immer mehr, dass sie mir nicht mehr antworten würde, nie mehr! Ich weinte leise vor mich hin. Aber trotzdem redete ich mit ihr, vor allem von meiner Dankbarkeit und Liebe für sie, was ich leider früher nie gekonnt hatte. Immer dieses Verstecken von Gefühlen, und irgendwann war es dann zu spät! Den weichen sensiblen Kern unter einer dicken Mauer verstecken, da war ich Meister drin. Die letzten Jahre habe ich mich zwar um sie gekümmert, aber von liebevoller Fürsorge, Dank für das geschenkte Leben und die vielen Mühen, die meine Mutter mit mir hatte, davon habe ich nun wirklich nicht viel gezeigt. Gut, sie konnte auch keine Gefühle zeigen. Anfangs habe ich versucht, auf eine emotionale Ebene mit ihr zu kommen, sie blockte ab, und dann war es mir einfach zu schwer. Aber dieser gestrige Tag! Das war ein Anfang – und schon wieder das Ende. Und ich wollte doch unbedingt bei ihrem letzten Atemzug bei ihr sein, denn mein Vater war auch einfach ohne mich gestorben, in der Nacht nach meinem letzten Besuch bei ihm. Er wollte mir damals noch etwas sagen, aber ich musste ja unbedingt zum Zug. Jahrelang konnte ich mir das nicht verziehen, und jetzt war meine Mutter auch ohne mich gestorben. Ein paar Minuten früher! Wäre ich nicht so spät aufgestanden, hätte ich mich schneller angezogen, wäre ich schneller gefahren! Warum dauerte das auch an der Pforte so lange? Fragen, Fragen, Fragen, und doch half es jetzt nichts mehr.

Meine Mutter sah immer noch wie schlafend aus, am liebsten hätte ich sie aufgeweckt. Hoffentlich ging es ihr jetzt gut und sie hatte ihre wohlverdiente Ruhe. Sie wollte wohl keine OP mehr und hat dann eben selbst entschieden. So sah sie auch aus. Ein leichtes verschmitztes Lächeln um ihren Mund, so als wollte sie sagen: Von wegen den Magen aufschneiden, mit mir nicht! Da kommt keiner ran!

Ich stand schweren Herzens auf, streichelte sie noch einmal und sagte: „Tschüss Mutti!“ So wie am Abend zuvor.

Ich ging grüßend von der Station und fuhr wieder nach Hause. Nicht mehr lange, dann würde Melanie da sein. Außerdem musste ich das Bestattungsunternehmen anrufen. Man muss doch läuten, also den Pfarrer auch anrufen. Ich ging zum Telefon, rief beide an, nahm die Beileidsbekundungen entgegen und vereinbarte Termine.

Dann nahm ich eine dicke Kerze aus Omas Kerzenschatz, an den eigentlich niemand ran durfte, stellte sie auf den Tisch, zündete sie an und setzte mich davor. Meine Mutter war tot, das war irgendwie nicht richtig zu verstehen. Ich starrte in das Licht, und bevor mich Schmerz überrollen konnte, zogen mich ganz realistische Gedanken wieder hoch. Was war überhaupt passiert? Meine Mutter kam wegen Luftnot ins Krankenhaus, das gab es schon öfters und jedes Mal war sie wieder aus dem Krankenhaus in besserem Zustand nach Hause gekommen. Das mit dem Magengeschwür war auch zu verstehen, zumal sie in den vergangenen Jahren Medikamente nehmen musste, die auf den Magen schlugen. Teerstuhl hatte sie auch schon mal, ging aber alles wieder weg. Damals sollte bereits eine Magenspiegelung gemacht werden, die sie aber nicht wollte. Ich hatte sie nun diesmal dazu überredet, sie vertraute mir – und jetzt ist sie tot. Hätte ich dem nur nicht zugestimmt, dann würde sie jetzt vielleicht noch leben? Aber das Geschwür blutete bei der Spiegelung gar nicht mehr, und dann ist sie doch verblutet? Da ist doch bei der Biopsie was schief gegangen! Altes Gewebe, dazu noch entzündet, da kann es bestimmt sein, dass dabei Blutungen entstehen. Aber wieso haben die das nicht früher gemerkt, sie lag doch ausdrücklich auf einer Überwachungsstation? Wahrscheinlich ist das erst am Morgen aufgefallen, als der diensthabende Arzt kam. In der Nacht muss sie vor sich hingeblutet haben, und keiner hat es gemerkt. Ich war jetzt aber zu traurig, um darüber wütend zu werden. Vielleicht war es ja auch gut so, falls sie doch ein Magenkarzinom hatte, dann ist ihr eine Menge erspart geblieben – gerade, weil sie ihr Leben lang Angst hatte, mal Krebs zu bekommen und ich sie ganz oft beruhigen musste, wenn sie wieder auf Suche nach entsprechenden Knötchen an ihrem Körper war.

Die letzte Woche zog innerlich an mir vorbei. Montag war ich in München bei Melanie gewesen, der Hund war in Pension, und Lara war bei meiner Mutter, denn alleine blieb sie nicht mehr, vor lauter Angst, es könne etwas passieren. Das konnte ich zwar verstehen, aber manchmal machte es mich trotzdem wütend, weil es mich so ankettete. Ich konnte nicht einfach mal irgendwohin fahren und eine Nacht wegbleiben. Ich meinte dann oft, dass Oma doch noch fit wäre, sie sich echt ganz schön anstelle, und schon war ich wieder sauer auf sie. Ich war ein Mensch, der irgendwie immer auf der Flucht war, nie hielt ich es lange irgendwo aus, wenn ich nicht festgehalten wurde. Und meine Mutter hielt mich seit sieben Jahren fest, weil sie ganz einfach immer älter und hilfsbedürftiger wurde. Das sah ich ein, und trotzdem wollte ich mich häufig aus diesem „Gefängnis“ befreien. Leider hatte ich keine Geschwister, mit denen ich mir die Pflege hätte teilen können.

Dann ihre ständigen Ängste, mit denen sie mich immer runter zog, ich das aber nicht wollte. Ich war auch heute mit sechzig Jahren immer noch von dem Gesichtsausdruck meiner Mutter und von dem, was sie sagte, abhängig. Trotz vieler Therapien und Gespräche konnte ich das nicht ändern. Ich kam fröhlich zu ihr rein, sah sie, schaute, wie sie drauf war, und in Sekundenschnelle fiel meine positiv aufgebaute Stimmung in sich zusammen. Wenn dann noch irgendwelche Bemerkungen, meist Kleinigkeiten, die mir nicht passten, von ihr kamen, ging ich hoch wie ein HB-Männchen. Meine Fröhlichkeit war einer heftigen Wut auf meine Mutter, auf meine Vergangenheit, ja sogar auf meine Kindheit gewichen, und die bekam sie meistens lautstark zu hören. Dazu noch die Angst, dass sie irgendwann bettlägerig wäre und ich überhaupt keinen Freiraum mehr hätte. Ich war eben richtig auf dieses Leben mit ihr fixiert, hatte es selbst so gewollt, getan und zu verantworten. Meinen Job im Taunus hatte ich aufgegeben, damit meine Mutter nicht ins Altenheim musste, ich wollte etwas Gutes tun. Nur war ich damit schon lange überfordert. Wenn man mit dem guten Tun überfordert ist, wird aus dem Guten genau das Gegenteil, das weiß ich heute.

Wahrscheinlich ist es besser, nicht immer zu schauen, ob man gute Dinge tut. Man muss sich dabei auch wohlfühlen, sonst wird man leicht böse. Das Gute zieht den Schatten des Bösen wohl nach sich. Ach, richtig zu leben ist wirklich nicht einfach, vielleicht sollte man aus dem Inneren heraus leben, so wie man kann, sich selbst lieben lernen und alle Dinge um sich rum. Nicht so viel über das Wie nachdenken! Und vor allem keine Erwartungen haben. Ich hatte die Erwartung, von ihr gelobt zu werden, weil ich zu ihr gezogen war, das passierte aber nie, bis auf den letzten Tag.
Früher hatte meine Mutter alles in Haus und Garten erledigt und mich bei jedem Besuch in den letzten zwanzig Jahren mit tollem Essen verwöhnt. Jetzt war ich für alles verantwortlich. Nicht nur organisieren, sondern selbst tun. Und genau das hatte ich vorher nicht einkalkuliert. Hausarbeit hasste ich immer schon, auch in meiner Ehe und mit meinen Kindern. Meine Ehe lag hinter mir, die Kinder waren groß, aus dem Haus, und anstatt jetzt frei ohne Anhang zu leben, fiel mir nichts Besseres ein, als mich wieder unliebsamen Tätigkeiten zu widmen. Jetzt war die Klappe zu, wie man so schön sagt, und ich saß mal wieder drin. Natürlich machte mich das zunehmend aggressiv und ich bekam auch Angst, dass das bis an mein Lebensende so weiterginge.

Zu meiner Mutter hab ich oft gesagt: „Du hast einen Fehler, Mutti, du bist alt geworden, jetzt muss ich mich um alles kümmern, ich hätte es aber gerne wieder anders rum, und das ist auch oft der Grund für meine schlechte Laune. Ich bin von dir, was Hausarbeit angeht, total verwöhnt worden.“
Da lachte sie immer und sagte: „Aber Mädchen, da kann ich ja nun wirklich nichts dran ändern.“

Sie selbst machte mir sehr wenig zusätzliche Arbeit, nur das wiederum machte mir sogar Spaß, ihr bei ihren täglichen körperlichen Verrichtungen zu helfen. Und jetzt war sie plötzlich weg und ich allein! War das nun besser? Das würde sich in Zukunft zeigen, das konnte ich jetzt noch nicht voraussehen.

Und wie ging die letzte Woche weiter? Ich kam aus München zurück, hatte zwei schöne Tage gehabt und war nicht so wirklich happy, wieder zu Hause zu sein. Meiner Mutter erzählte ich, was ich erlebt hatte, und dass wir nun endlich froh sein konnten, dass Melanie es soweit geschafft hatte, denn oft hatten wir um sie gezittert, wenn sie anrief und wieder einmal unsere Hilfe benötigte. Wir waren stolz und konnten es uns gar nicht richtig vorstellen: Melanie mit Doktortitel!

Meine Mutter erzählte von ihren zwei Tagen ohne mich, an denen für sie auch einiges passiert war. Gleich am ersten Tag war sie eingeschlossen. Die Frau, die den Hund geholt hatte, schloss von außen die Tür ab und Oma konnte nicht raus. Sie verließ schon lange nicht mehr ohne mich das Haus, aber die Vorstellung, dass die Haustür zu war, brachte meine Mutter in höchste Not. Dass in der Wohnung unten noch ein Haustürschlüssel war, daran dachte sie nicht.

Die Zeit mit Lara hat sie als sehr schön empfunden. „Und stell dir vor, die Lara hat mich in den Arm genommen, ich bin doch eine fremde Frau für sie.“ Das war natürlich für meine emotional reservierte Mutter etwas ganz Besonderes. Und es hatte ihr gefallen! Am nächsten Tag gab es dann gleich wieder Zoff. Ich kam morgens zu ihr rein und erzählte ihr freudestrahlend, dass ich die letzte Nacht so gut geschlafen hatte. Sie deprimiert: „Ich habe wieder nichts geschlafen, nur gegen Morgen ein wenig.“

„Mutti, kannst du mir einfach mal zuhören und dich mit mir freuen – ich bin doch deine Tochter -, ohne dass du gleich wieder mit deinen Problemen kommst! Die kannst du ja danach vorbringen.“
„Ach Gott, da habe ich schon wieder was Falsches gesagt.“ Sofort ging der Kopf von ihr in Opferstellung nach unten. Ich stand da, meine Freude war weg – ja, war ich überhaupt da? Was war nun schon wieder los?
Ich weiß nicht mehr, was ich dann erwiderte, jedenfalls sagte sie: „Ja, ich weiß, ich bin hier im Wege! Ich muss ja endlich weg, es wird ja wohl nicht mehr so lange dauern.“

Nun, diese Äußerung brachte mich völlig in Rage. „Wenn du meinst, wann ist es denn soweit?“

Sie schaute mich ganz entgeistert an, denn diesmal hatte ich mich nicht von ihr beeindrucken lassen. Solange ich denken kann, konnte meine Mutter mich furchtbar ängstigen mit diesbezüglichen Äußerungen. Ich war also freudestrahlend zu ihr reingekommen und ging nach fünf Minuten wutentbrannt wieder raus. Ich konnte mich nur beruhigen, indem ich den Hund nahm, spazieren ging und vor mich hin brabbelte, so auch an diesem Tag.

Dann fiel mir wieder ein: Sie ist doch eine alte Frau, sie denkt fast nur noch an sich und ihr Leben, das ist doch bei alten Menschen so, warum lässt du dich immer so leicht aus der Fassung bringen? Ja, ich will es nie und trotzdem passiert es. In letzter Zeit war das wieder ganz schlimm gewesen, diese ewigen Streitereien, die ständige Panikmacherei vor irgendwelchen Dingen, wie Gewitter, Krankheiten, ihr ständiges Negativdenken. Kam ich zu ihr und sagte: „Schau mal, die Sonne scheint, schönes Wetter draußen.“ Dann sagte sie: „Morgen soll es aber wieder regnen.“ Ständig musste ich mich wieder hochziehen, mich motivieren. Manchmal wollte ich schon gar nicht morgens aufstehen oder sogar zu ihr gehen. Ich wusste, sie war so, wie sie war, und es wurde mit zunehmendem Alter nicht besser, doch ich brauchte auch mal jemanden, der mich nicht runter, sondern mit nach oben hievte, mich vielleicht mal in den Arm nahm.

Eine sogenannte starke Schulter zum Anlehnen hatte ich schon lange nicht mehr. Trotzdem, sie war meine Mutter und es gab auch recht nette und schöne Momente in unserem Zusammenleben, beispielsweise, wenn ich sie im Auto mitnahm und wir spazieren fuhren, oder auch irgendwo essen gingen. Das war immer ganz toll und sie war dann viel lustiger als zu Hause: wie ein Kumpel, mit dem ich auch verbotene Strecken fahren konnte oder sonst irgendwelche Streiche ausheckte. Doch dieses Wechselbad der Gefühle machte mich zeitweise unglaublich mürbe, dass ich manchmal einfach weglaufen wollte. Endlich mal Ruhe haben – nicht nur außen, sondern vor allem auch innen!

Wie immer hatte ich mich beim Laufen wieder auf einen Neutralpunkt gebracht, drehte mich also um und ging nach Hause, begab mich in ihr Zimmer, setzte mich neben sie und sagte: „Mutti, es tut mir leid, ich wollte das nicht sagen.“

Sie schaute mich aus traurigen Augen an, lehnte sich an mich, ich drückte sie und beide saßen wir dann da und weinten. Es war wirklich nicht einfach mit uns.
Am nächsten Tag war ich morgens noch gar nicht richtig wach, da befand ich mich in einem unglaublich schönen Zustand. Es schien mir, als wenn ein Vorhang zurückgezogen wurde und ich in einer anderen Welt war. Alles war gleißend hell, wie sonnig, Blumen, Wiesen, Bäume. Irgendwie befand ich mich überall, war mit allem verbunden, doch ohne Körper, ich war aber da mit einem unglaublich schönen Gefühl von Frieden, Ruhe, Glück und grenzenloser Liebe. Dieses wunderbare Erleben kann ich nicht in Worte fassen. Ich wurde richtig wach und dachte plötzlich, so ist es, wenn man nicht mehr auf dieser Erde lebt.

Tief beeindruckt versuchte ich trotz des Aufstehens, dieses Gefühl lange zu behalten. Ich redete nicht, auch nicht mit Libo, ich fühlte nur. Dann ging ich irgendwann zu meiner Mutter, setzte mich in einen Sessel neben sie und sagte: „Ich glaube, man braucht keine Angst vor dem Sterben zu haben.“ Und ich erzählte ihr von meinem Erlebnis in der Früh.

Sie hörte aufmerksam zu und sagte ganz aufgeregt: „Dann kann ich dir auch von meinem Traum oder so was Ähnlichem erzählen. Ich war irgendwo und da kamen Gestalten auf mich zu, ich kannte sie nicht, sie waren aber freundlich zu mir. Es war nicht wie im Traum, sondern eher Wirklichkeit.“
„Wie sahen die denn aus, was hatten die an?“, fragte ich neugierig.
„Das kann ich gar nicht sagen, es waren einfach Gestalten, die mich in ihrer Mitte aufnahmen.“

Ich fand das sehr bedenklich, sollten das Vorboten des Todes bei meiner Mutter sein? Ich sagte aber nichts zu ihr, sondern redete über belanglose Dinge. Das war einen Tag vor ihrer Einlieferung in das Krankenhaus, also drei Tage vor ihrem Tod!
Plötzlich klingelte das Telefon. Automatisch stand ich auf, die Kerze brannte noch und erinnerte mich wieder an das Geschehene. Konstantin war am Telefon. „Mama, das ging aber jetzt schnell mit der Oma, ich komme morgen, das ist doch klar.“
Ich erzählte ihm von Omas Aufenthalt im Krankenhaus und den letzten Stunden.
Er war auch sehr traurig, tröstete sich selbst und mich mit den Worten: „Mama, sie ist aber doch alt geworden, da musste man immer damit rechnen.“

Ja, das wusste ich auch, nur war es trotzdem schwer zu akzeptieren, ich hatte sie sechzig Jahre lang, und nun war sie weg.
Kurze Zeit später kam Melanie mit Natalie. Melanie nahm mich in den Arm, wir weinten beide, und dann erzählte sie, dass sie bei Oma waren. Auch sie hatte bemerkt, dass sie wie schlafend aussah und leicht lächelte. Abends erschien dann noch der Bestatter und wir mussten uns erste Gedanken über die Beerdigung machen.

Nach einer sehr unruhigen Nacht gingen am nächsten Tag die Vorbereitungen weiter. Morgens läutete die Totenglocke, auf die meine Mutter mich immer aufmerksam gemacht hatte, wenn sie zu hören war, und jetzt läutete sie wegen ihr. Das berührte mich wieder sehr. Nachmittags kam Konstantin aus England und Natalie fuhr wieder nach Hause, sie musste arbeiten.

Dienstagabend gingen wir gemeinsam mit Libero auf den Friedhof, weil wir wussten, dass Oma schon in der Halle lag. Wir gingen traurig um die Halle herum, standen davor, schauten durch das Fenster und sahen den Sarg stehen. Ganz allein in der Halle, zwei Kerzen brannten und erhellten ein wenig das Dunkel. Es war kalt, sie musste doch frieren und Angst haben so allein! Still und in Gedanken versunken liefen wir wieder nach Hause, ohne Oma.

Am Mittwoch konnten wir sie noch einmal sehen, der Sarg wurde aufgemacht. Das war nicht mehr meine Mutter und die Oma. Das war nur eine Hülle. Sie lag sehr vornehm im schwarzen Kostüm mit weißer Bluse (das wollte sie so) in dem mit Seide ausgelegten Sarg. Sie kam mir und uns fast fremd vor, ein Mantel ohne irgendwelches Leben. Sie war nicht mehr da. Wo war sie jetzt? Das ungelöste Rätsel der Menschheit. Ein wenig glaubte ich schon an ein Weiterleben in anderen Dimensionen, da die Vorstellung, alles wäre mit dem Tod zu Ende, mir immer schon Angst gemacht hatte. Es ist seltsam, ein Mensch, dem man nichts weggenommen hat, nichts rausgeschnitten, ist plötzlich nicht mehr in diesem Körper drin. Wo war er? Wie ein Haus, das man verließ – es war dann leer und ohne Besitzer.

Am nächsten Tag die Beerdigung. Die Halle war wunderschön mit Blumen geschmückt worden, mit gelben und roten Gerbera, das waren die Lieblingsblumen meiner Mutter. Ich saß vorn, eingerahmt von meinen Kindern. Es war eine wunderschöne Feier, und anschließend gingen wir mit anderen Beerdigungsteilnehmern zum Grab, wo sie zur letzten Ruhe gebettet wurde. Jetzt lag sie neben meinem Vater. „Na, hoffentlich vertragen die beiden sich“, sagte ich laut vor mich hin. In ihrem gemeinsamen Leben hatten sie so ihre Schwierigkeiten gehabt, mein Vater war jetzt über zwanzig Jahre tot.

Anschließend saßen wir noch mit einigen Verwandten und Bekannten zusammen und erzählten viel aus Omas vergangenem Leben. Alles in allem war es ein würdevoller Abschied gewesen, es hätte ihr gefallen. War sie vielleicht dabei und hatte uns zugesehen, wer weiß?