Jugendzeit
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Jetzt allein in der Wohnung, betreute mich Großmutter. In dieser Zeit des Alleinseins in der Wohnung lernte ich eine Frau namens Sonja kennen. Sie war klein und zierlich, mit langen, schwarzen Haaren. Ihr Mann war im Krieg und sie stand auf pubertäre Jungen.

Bei meinem ersten Besuch bei ihr öffnete sie zuerst die Wohnungstür und dann ihren Bademantel. Darunter war sie völlig nackt. Sie öffnete meine Hosen und hatte meinen Penis schon im Mund. Den Kontakt mit ihr setzte ich dann nach dem Krieg fort. Großmutter versorgte meine Wäsche und kam zweimal in der Woche, um für mich zu kochen. Allerdings bekam ich im Dezember 1943 den Gestellungsbefehl zum Arbeitsdienst. In den Dünen der Kurischen Nehrung wurden wir schon vormilitärisch gedrillt. Einer meiner Kameraden steckte sich dort während der Nachtwache seinen Gewehrlauf in den Mund und erschoss sich. Er hatte den unbeschreiblichen Drill dort einfach nicht mehr ausgehalten. Großmutter hatte schon vor meiner Abreise an die Kurische Nehrung gemeint, ich solle mich vorsichtshalber freiwillig zur Kriegsmarine melden, um nicht an die Ostfront zu müssen. Das hatte ich getan und als ich nach Berlin zurück kam, lag mein Stellungsbefehl zur Kriegsmarine schon vor. Ich hatte mich in Aurich, im Emsland zu melden. Nach kurzem militärischen Drill wurden wir, im Prinzip alle nur fünfzehn- oder sechzehnjährige Jungen, an die holländische Grenze verlagert, um dort das Reich zu verteidigen. Lediglich mit Panzerfäusten bewaffnet sollten wir dort die anrollenden Panzer stoppen, während uns von oben die Tiefflieger der Alliierten mit Schrappnellen beschossen. Rechts und links von mir starben die Jungen wie die Fliegen. Ich warf mich in den Graben und hatte das Glück, wenig später von farbigen, kanadischen Soldaten gefangen genommen zu werden. Wie durch ein Wunder war mir nichts passiert. Uns wurden die Hosenbeine oberhalb der Knie abgeschnitten. Wir bekamen Weissbrot und Schokolade, wurden auf Lkws verladen und dann ging es in die Kriegsgefangenschaft in die Jachmannkaserne in Wilhelmshaven. Tausende von Kriegsgefangenen waren dort eingepfercht und zur Beseitigung der noch von deutschen Soldaten errichteten Strassensperren eingesetzt. Ich allerdings wurde in der Offiziersmesse für deutsche Offiziere eingesetzt, um ihnen Frühstück, Mittag- und Abendessen zu servieren. Deutlich sichtbar wurden die deutschen Offiziere von den Alliierten besser behandelt als das gemeine Fußvolk. Im Juli 1945 wurde ich aus der Kriegsgefangenschaft nach Minden/Westfalen entlassen, um dort auf einem Bauernhof zu helfen. Überall waren Fliegen, selbst auf den Schmalzbroten. Ich hatte die Kühe von der Weide zurück in den Stall zu bringen und sie dort zu versorgen. Für mich als berliner Stadtkind die richtige Aufgabe. Also packte ich schon in der zweiten Nacht meinen Seesack und machte mich, trotz nächtlicher Ausgangssperre, zu Fuß zurück auf den Weg nach Minden. Den Kontrollen der britischen MP zu entgehen hatte ich mich unzählige Male in den Stassengraben geworfen. Morgens in Minden angekommen, meldete ich mich beim Arbeitsamt und bekam auf Grund meiner Serviertätigkeit in der Offiziersmesse in der Jachmannkaserne eine Stellung in der englischen Offiziersmesse in Minden. Dort begann ich Englisch zu lernen und freundete mich mit einigen Offizieren an. Mein Ziel war es, wieder nach Berlin zurück zu kommen. Allerdings herrschte dort während des Sommers die Cholera. Ein- und Ausreise nach und aus Berlin waren gesperrt. Erst Mitte September gelang es mir, mit einigen englischen Offizieren im Jeep über Helmstedt zurück nach Berlin zu kommen. Dort setzten sie mich in Neukölln ab. Meine Mutter freute sich über meine Rückkehr, Hamann war noch in russischer Kriegsgefangenschaft. Mutter erzählte mir, dass sie sich nach der Kapitulation mit einem russischen Offizier angefreundet hatte, der ihre beiden hübschen, blonden und blauäugigen Kinder mochte und die Familie mit Essen und Trinken versorgt hatte. So war sie zwar dem Schicksal manch anderer Frau entgangen, die in den ersten Nachkriegsmonaten Freiwild für russische Soldaten gewesen waren. Allerdings hatte sie sich dadurch im Haus den Ruf einer russischen Offiziersnutte eingehandelt.

Ich suchte und fand meine ehemalige Freundin und Partnerin aus der Tanzschule Meisel und nahm den Kontakt mit ihr wieder auf. In der amerikanischen Offiziersmesse in Zehlendorf bewarben wir uns für Tanzauftritte in deren abendlichen Veranstaltungen. Wir wurden engagiert. Zweimal in der Woche wurden wir nun von amerikanischen Jeeps in Neukölln abgeholt und nach unseren Auftritten wieder zurück gebracht. Mit den Lebensmitteln, die wir dort als Gage erhielten, konnten wir unsere Familien ausreichend ernähren. Schließlich reichten damals die auf Lebensmittelkarten zu erhaltenden Lebensmittel bei weitem nicht aus, um satt zu werden. Lebensmittel waren einfach Gold wert.

Gegen Ende des Jahres kam Hamann aus russischer Gefangenschaft zurück. Ein böser Rückfall in die schlechten, alten Zeiten. Er begann in der Küche Schuhe zu reparieren, stritt mit Großmutter, brüllte herum und behandelte mich wie einen kleinen Jungen. Meine Auftritte in der Messe der amerikanischen Armee in Zehlendorf wurden mir von ihm verboten. „Von den Siegern nehme ich keine Fressereien an!“ Zu meinen Aufgaben gehörte es nun häufig, mit meinen beiden Stiefgeschwistern spazieren zu gehen. Eine Aufgabe, die ich verabscheute. Zum Höhepunkt der Streitereien zwischen Großmutter und Hamann kam es dann am Heiligen Abend 1945. Auf ihre Kritik, dass Hamann, wenn er schon sonst nichts täte, wenigstens die Wohnung wieder in einen ordentlichen Zustand bringen könnte, warf er sie aus der Wohnung. Die Zeit danach besuchte Großmutter uns nur, wenn Hamann nicht da war. Ich selbst hatte nun spätestens um sieben Uhr abends zu Hause zu sein. Und das, nachdem ich mich als Soldat durchgeschlagen und bis zu Hamanns Rückkehr die Familie ernährt hatte.

Mutter hatte kastanienbraune Haare, die ich ihr gerne abends mit ihren Lockenwicklern eindrehte und am nächsten Morgen auskämmte. Das machte Spaß und ich entdeckte mein Talent dafür. Also beschloss ich, Damenfriseur zu werden. Bei dem Damen- und Herrenfriseur Rösinger bekam ich zum 01. März 1946 dann eine Lehrstelle. Oft kam ich erst gegen acht Uhr abends nach Hause, weil wir als Lehrlinge die ehrenvolle Aufgabe hatten, den Laden nach Betriebsschluss zu putzen. Dann brüllte Hamann mich an. „Deine Mutter ist nicht deine Bedienung. Bei uns wird um sieben Uhr gegessen!“ Und ich ging hungrig ins Bett.

Herrn Fritz Liebmann lernte ich dann im Sommer 1946 kennen. Er wohnte ganz in der Nähe, in der Reuterstrasse, zusammen mit seiner Mutter, seiner Schwester und seinem etwa acht Jahre alten Neffen, einem sehr hübschen Jungen. Herr Liebmann kam einmal in der Woche in den Salon, um sich für seine wenigen Haare einen Faconschnitt machen und seine Hände maniküren zu lassen. Er war Schneidermeister und hatte ein prosperierendes Atelier für Damenbekleidung. Ein talentierter, früher Vorgänger von Karl Lagerfeld. Ich erzählte ihm von meinem Ärger zu Hause und dem damit verbundenen Ärger in meiner Lehrstelle. Ich hatte es meinem Lehrmeister erzählt, der daraufhin mit meinem Vater gesprochen hatte. Es gab grossen Krach zwischen den beiden und ich war meine Lehrstelle los. Allerdings bekam ich schnell eine neue Lehrstelle bei Herrn Gerlach, dem Innungsmeister des Friseurgewerbes, in dessen Salon in der Dudenstrasse am Tempelhofer Flughafen. Ein alter Herr, bei dem ich viel lernte und der mir viele Tips für mein späteres Leben gab. „Privat und Geschäft hält man immer konsequent auseinander.“ Daran habe ich mich mein Leben lang gehalten. Fritz Liebmann interessierte sich immer stärker für mich, fragte mich nach meiner Herkunft, meiner Familie und meiner Verwandschaft aus. Aus meinen Erzählungen hatte er unschwer erkennen können, dass ich zu Hause alles andere als glücklich war und Probleme hatte. So begleitete er mich eines Abends nach Hause und erzählte meinen Eltern, dass er sich gerne um mich kümmern würde. Da er mit seiner Mutter und seiner Schwester und er selbst ohne Kinder in einem grossen Haushalt lebe, wäre es kein Problem, mich dort zu verköstigen. Meine Eltern waren offensichtlich sehr froh, mich los zu werden, und stimmten sofort zu. „So ein feiner Mann, da hast du aber Glück, dass er sich um dich kümmern will,“ war der Kommentar meiner Mutter. Ein neues Leben begann für mich. Liebmann ging mit mir zu meinem Vormund im Rathaus in Neukölln und verschaffte mir die Genehmigung, von zuhause auszuziehen und ein eigenes Zimmer zu mieten. Alle drei Monate hatte ich mich allerdings bei meinem Vormund im Rathaus zu melden, dem ich den Nachweis zu erbringen hatte, dass ich noch arbeitete. Ich vermute, dass Fritz die Miete für mein nun eigenes Zimmer am Wildenbruchplatz bezahlte. Die Wohnung dort gehörte einer älteren Witwe, deren Sohn im Krieg gefallen war. Von nun an verbrachte ich fast alle Wochenenden bei den Liebmanns. Wir gingen viel in Konzerte, ins Theater und in die Oper. Fritz kleidete mich bei einem Herrenschneider neu ein. Dort staunte ich über die Frage, ob ich Rechts- oder Linksträger sei. Ich bekam u.a. eine Kombination aus braunem Sakko und grüner Hose, einen mitternachtsblauen Maßanzug, einen Homburg und einen dunkelblauen Wintermantel. Fritz brachte mir bei, angefangen bei Tischsitten, mich korrekt zu benehmen.

Bei einem Juwelier wollte er mir einen Ring mit einem Turmalinstein kaufen, was ich jedoch ablehnte. Da schien mir einfach zu protzig! Denn inzwischen war ich in der Berufsschule in der Friedrichstrasse sowieso der Eleganteste. Mit der Schwester von Fritz, Hilde, einer sehr schönen Frau Mitte dreissig, ging ich gerne in der Passage zum Tanzen. Dort spielte eine Kapelle Benny-Goodman-Titel und wir tanzten voller Begeisterung Jitterbog und Jive bis in die Morgenstunden. Sie im eleganten, knielangen Kleid und ich in meiner braun-grünen Kombination. Das Unangenehme an den Besuchen war, dass ich die Nächte zusammen mit Fritz in einem riesigen Doppelbett in einem großen Schlafzimmer verbringen mußte. Wir schliefen nackt und seine Annäherungen waren mir von Anfang an zuwider. Aber ich hielt still. Dennoch, bis heute bin ich ihm für die Jahre dankbar, die ich mit ihm und seiner Familie verbringen durfte. Jahre, in denen ich gute Manieren, neue, gesittete Leute und auch sonst so viel Neues lernte. Die damalige Mode waren Plattformschuhe aus braunem Wildleder. Ja, bei Fritz lernte ich, mich modisch zu kleiden. Etwas, was mein Leben seitdem prägt und mir bis heute sehr wichtig ist.

Nach einiger Zeit mietete ich mir ein zu meiner Lehrstelle näher gelegenes Zimmer in der Fontanestrasse bei einem Fräulein Schulz. Eines Tages 1948 kam meiner Mutter in den Salon, um mir zu berichten, dass Grossmutter in der Nacht zuvor im Krankenhaus gestorben war. Zu ihrer Beerdigung auf dem Friedhof in der Herrmannstrasse erschienen Mutter, Hamann, Tante Gertrud, Onkel Bernhard, Fritz Liebmann und ich. Es war nur eine kurze Feier am Grab und es ärgerte mich maßlos, dass Hamann schon Großmutters schöne Strickjacke trug. Fritz beruhigte mich, legte mir den Arm um die Schulter und wir gingen. Bei meinen Deutschlandbesuchen in den Siebzigerjahren von Südafrika aus suchte ich das Grab von Selma Heyn, geborene Ziehbart allerdings vergebens. Beim ersten Wiederbesuch in Berlin stolperte ich mit einem Blumentopf in der Hand über eine Baumwurzel. Ich nahm es als Zeichen, dass Grossmutter genau dort begraben sein mußte, setzte mich auf eine Bank und erzählte ihr stundenlang, wie mein Leben seit ihrem Tod weitergegangen war. Angefangen bei meiner Gesellenprüfung, über meine Arbeit in den verschiedenen Salons, meine Auswanderung nach Südafrika und wie ich mir dort ein neues Leben mit Meisterprüfung und Führerschein aufgebaut hatte. Durch die immer stärkere Distanz zu Neukölln und neue Bekanntschaften lockerte sich die Beziehung zu Fritz und seiner Familie allmählich und endete schließlich ganz, als ich im Hallenbad einen jungen Mann aus Ostberlin, Erich Vogt, kennenlernte.