Im Reigen der Memoiren-Literatur habe ich ein besonderes Faible für Familiengeschichten. Wer seine Ursprungsfamilie kennt und in liebevoller Erinnerung behält, wurzelt seelisch tiefer und wächst höher, weil er weiß, woher er stammt. Auch viele inneren und äußeren Eigenschaften, die man geerbt hat, lassen sich leichter bewusstmachen, kennt man die vorigen Generationen. Nicht wenige Menschen vertrauen auf die geistig-seelische Unterstützung ihrer Vorfahren, mit denen sie sich verbunden fühlen, über den Tod hinaus.

Dieses neue Buch, Erinnerung an meine Großeltern, von Almuth Hochmüller herausgegeben und im Verlag Ernst Kaufmann ediert, möchte ich Ihnen ans Herz legen. Schon im Äußeren ist es (an)sprechend: Der Schutzumschlag in milchigem Transparentpapier läßt die Bilder der früheren Generation verschwommen, wie im Nebel, erscheinen. So ergeht es unseren Erinnerungen, wenn wir sie nicht lebendig halten. Sie verschwimmen und verschwinden schließlich ganz, halten wir sie nicht in Worten und Bildern fest.

In der Presseinformation des Verlags lesen wir treffend: „Liebeserklärungen berühmter Enkel. Was haben die Großmütter und Großväter von Hildegard Knef und Ingmar Bergmann, von Isabel Allende und Jean Paul Sartre oder von Liv Ullmann und Agatha Christie gemeinsam? – Sie alle werden in den 24 Geschichten des Bandes „Erinnerung an meine Großeltern“ durch ihre berühmten Enkel und Enkelinnen wieder zum Leben erweckt.“

Ganz genau! Hier können wir lernen, wie wir unsere eigenen Eltern und Großeltern im Erinnern nicht sterben lassen. Hans Falladas Erzählung ist exemplarisch für eine Erzählkunst, die alle Sinne einschließt. Lesen, fühlen, tasten, schmecken und hören Sie selbst: „Natürlich ist uns Kindern Großmutter immer uralt vorgekommen. Wie alle Kinder konnte ich kaum Unterschiede im Alter sehen, zwischen dreißig, vierzig und fünfzig Jahren sahen mir alle eigentlich gleich alt aus. Aber dass Großmutter uralt war, viel, viel älter als Vater und Mutter, das sah ich doch. Sie ist mir in Erinnerung als eine kleine, rasch bewegliche Frau, immer in Schwarz gekleidet, mit einem Häubchen aus schwarzen Spitzen und schwarzem Schmelz auf dem ach! so dünnen weißen Scheitel. Sie hatte eine helle, hohe Zwitscherstimme – wenn Großmutter sprach, klang es eigentlich immer, als sänge ein Vogel. Erzählte Großmutter Märchen, so wurde ich schon wegen dieser Stimme nicht müde, ihr zuzuhören.

Später entdeckten wir Kinder, dass Großmutter nicht nur zwitscherte, sondern dass ihre Sprache auch eine andere Färbung hatte als bei allen anderen, die wir kannten. Großmutter sprach nämlich Hannöversch, und wenn auch nach Ansicht der Hannoveraner sie, nämlich die Hannoveraner, das reinste Deutsch von der Welt sprechen, so war uns Kindern doch ihr spitzes „St“ und das „A“, das nicht wie „A“ klang, sondern wie eine Mischung aus „A“, „Ae“ und „Oe“, eine Quelle unerschöpflicher Erheiterung. Wie oft nahten wir uns bei Spaziergängen nicht der Großmutter mit der Miene scheinheiligster Dienstbereitschaft: „Großmutter, dörfen wir nicht doinen Schöl trögen?“

Und die gute Großmutter, deren Herz nie für den Gedanken Raum hatte, ein Enkelkind könne sich einen Spaß mit ihr erlauben, antwortete ganz freundlich: „Danke, mein lieber Djunge, üch wüll den Schöl doch lüber umbehalten, es üst eun wenüg kühl.“

Worauf der Übeltäter mit verhaltenem Prusten zu seinen Geschwistern zurückkehrte. Wir warteten nur drei Minuten, dann wurde der Nächste ausgesandt: „Großmutter, dörf üch vülleicht doinen Schöl trögen?“ Und unverändert liebevoll kam der Dank.

Oder wir überboten uns darin, s-pitz zu s-prechen, wir wurden so s-pitz, dass unsre Zunge immer an einen s-pitzen S-tein-s-tieß. Großmutter hörte es gar nicht. Oder, wenn sie es hörte, und sie hörte es vielleicht manchmal doch, so lächelte sie nur darüber; das waren so Kinderspäße, ihre Enkel waren alle Muster an Artigkeit!“