Tagebuch zu schreiben ist auf alle Fälle gut – zur Selbstvergewisserung und zur Selbststabilisierung. Das eigene Leben bewusst zu führen und darüber – beispielsweise abends vor dem Schlafengehen – schriftlich zu reflektieren, verleiht ihm Tiefe und Qualität. Doch das eigene Tagebuch nach dem Schreiben zu publizieren, ist ein gewagtes Unternehmen, weil es den Leser – der das Erlebte nicht selbst miterlebt hat – schnell langweilen kann. Auch wenn jeder Gebildete glaubt, schreiben zu können, ist es doch eine Kunst, lebendig und spannend zu schreiben. Ich erkläre das unseren Studenten in der Akademie des Biographiezentrums oft mit einer Metapher: Einen Ball treten kann jeder, aber Fußball in der Bundesliga zu spielen, können nur wenige. So ist es auch mit dem Schreiben für die Öffentlichkeit – wer hat als Zuschauer schon Lust, stundenlang das Gekicke von Dilettanten anzuschauen – oder langweilige Bücher zu lesen?

Ralf Zschaber
100 Tage
Autobiografisches aus der Untersuchungshaft

Softcover, 480 Seiten
14,95 € / 27.70 CHF
Medu-Verlag, ISBN 978-3-938926-89-5

Wäre mir das Manuskript zur Begutachtung angeboten worden, hätte ich dem Autor empfohlen, mindestens 50 % der 482 Buchseiten seines Gefängnis-Tagebuchs für die Publikation zu streichen, damit es genießbar wird – 150-200 Seiten Umfang hätten völlig genügt. Wenn sich die Monotonie des Knastalltags in einem Buch widerspiegelt, kann das zu keinem Gewinn für den Leser führen. Wer will schon immer und immer wieder das Gleiche – kaum differenziert – lesen: Tagesablauf, Ernährungs- und Verdauungsprobleme, tägliche Liegestützen und Sit-ups, Hofrundgang, Aufschluss und Abschluss etc. Wir alle wissen, dass es kaum etwas Langweiligeres gibt, als im Knast zu sitzen. Vor einigen Jahren gab ich in der JVA Landsberg am Lech mehrere Monate lang einen biographischen Schreibkurs – weiß also durchaus, um was es geht. Auch in diesem Blog schrieb ich bereits etwas zur Problematik mancher Knastbiographien. 

Das Problem des Buchs liegt darin, dass sein Autor nicht bildhaft schreiben kann und all jene Qualitäten vermissen lässt, die in jedem guten biographischen Schreibkurs gelehrt werden, nicht nur in meinem. 

Keine Figurenzeichung: Die Menschen inklusive dem Autor als Ich-Erzähler bleiben ungestaltet. „Der Türke“, „der Bauunternehmer“, „der Pole“, „der Hausarbeiter“, die eigene Ehefrau Conny genannt „Maus“ – sie alle bleiben als Figuren völlig blass und schablonenhaft. 

Keine atmosphärischen Schilderungen: Wie riecht es in den Räumen, wie sehen die Zellen im Detail aus – selbst die Putzszenen, wenn Zschaber in einer neuen Zelle die Latrine für die Eigennutzung reinigt, bleiben oberflächlich.

Kaum Dialoge: Wir hören die Menschen nicht sprechen. Wir riechen sie nicht, fühlen sie nicht. Wir schmecken nicht. Ein- oder zweimal auf 482 Seiten gelingt dem Autor eine poetisch-schöne szenische Schilderung, wo er nach Monaten endlich wieder seine ebenfalls inhaftierte Frau für 30 Minuten in Armen halten darf…. Natürlich wird Spannung durch Kontraste bewirkt, doch elend lange lesen zu müssen, um endlich eine schöne Liebesszene präsentiert zu bekommen, ist eine Zumutung. Generell mangelt es dem Buch an detaillierten Schilderungen des Knastalltags – brillant und ergreifend ist nahezu nichts geschildert.

Manchmal, und das ist auf der anderen Seite das Gute in dem Buch, gelingen dem Autor Ralf Zschaber, der seit 2008 wieder als Coach, Berater und Seminarleiter zur Persönlichkeitsbildung arbeitet, wertvolle Erkenntnisse, die er plausibel formuliert – nicht nur zur Selbstwahrnehmung.

Aus der Verlagsinformation: „An einem Dienstag Morgen wird der Unternehmer Ralf Zschaber vollkommen unerwartet aus seinem bisherigen Leben gerissen und ohne nähere Begründungen in Untersuchungshaft gesteckt. 100 Tage lang führt er Tagebuch, um seine Erlebnisse während der Haft zu verarbeiten. Zwischen Zukunftsangst und Zukunftsplänen meistert er diese Zeit, die zur größten Herausforderung seines Lebens wird. Dieses Tagebuch wird Zeugnis äußerer Widrigkeiten und innerer Standhaftigkeit. Hilflos und handlungsunfähig vor den Schranken der Justiz, von schlechter Ernährung und gesundheitlichen Problemen geplagt, übersteht Zschaber ein seelisches Tief nach dem anderen. Vom Gefangenentransport über verrauchte Mehrbettzellen, von einer JVA in die nächste, bis hin zu Isolation. Die Kommunikation nach außen ist kaum möglich, die Wege der Justiz sind undurchsichtig. Doch findet Zschaber eigene Wege, sich dieser Situation zu stellen, das Beste aus ihr herauszuholen. Er kann nicht hassen, will nicht rächen, nur finden das eigene Selbst.“