Ich freue mich sehr, dass Ende März 2024 in der Edition Olms eine neugestaltete Auflage meines ersten Buchs aus dem Jahr 1987, Was ist Kunst?, erschienen ist, das in nahezu 40 Jahren in vielen Auflagen erschienen und wohl auch zum Standardwerk zu diesem Thema geworden ist.

Aus meinem Vorwort: Als dieses Buch unter dem Titel Was ist Kunst..? 1080 Zitate geben 1080 Antworten erstmals im Juli 1987 ausgeliefert wurde, trafen günstige Faktoren zusammen. Die documenta 8 hatte für hundert Tage die Pforten geöffnet, täglich wurde bundesweit über Kunst diskutiert – und darüber, ob das, was in Kassel gezeigt wurde, Kunst sei. Da erschien meine Sammlung gerade recht. Das Medienecho war groß, zahlreiche Zeitungen und Zeitschriften bedienten sich aus dem Zitatenfundus und empfahlen die Quelle wohlwollend ihren Lesern weiter. Das Buch wurde Bestand kunstwissenschaftlicher Institute im In- und Ausland. Als mir ein Leser schrieb, in der Bibliothek des Louvre ein Exemplar gesehen zu haben, war ich gerührt.

Künstler nutzten die Zitate für Aktionen. Julia Wegat ließ Hunderte von Definitionen während ihrer Performance Wie es Euch gefällt von einem unsichtbaren Männerchor (warum nur Männer?) rezitieren (Pasinger Fabrik München, November 1993). Die Basler Galerie Margrit Gass richtete im Juli 1997 eine Ausstellung mit dem Titel »Was ist Kunst?« aus, das Philosophicum Lech (Voralberg/Österreich) veranstaltete 1998 ein Symposium zur gleichen Frage. Jedes mal war mein Buch eine verlässliche Dokumentation. Die Frankfurter Museen für Bildende Kunst – Städel, Liebieghaus und das Museum für Moderne Kunst – rüsteten 1999 ihre Werbekampagne mit Definitionen meiner Sammlung aus. Die Konfrontation der Statements mit Werken der bildenden Kunst kam beim Publikum an. Dass zunehmend mehr Webseiten mit Zitaten aus meiner Sammlung unlizensiert bestückt worden sind, erscheint folgerichtig in einer Zeit der digitalen Kannibalisierung, in der Urheberrechte kaum mehr gelten und Diebstahl kreativer Werke im Internet Standard geworden ist. Ich musste noch jedes einzelne Zitat dieses Buchs, das dem Urheberrechtsgesetz unterlag, vorab bei den Rechteinhabern schriftlich lizensieren lassen, damit es vom Dumont Buchverlag geprüft und zur Publikation freigegeben werden konnte.

»Das ist doch nur eine nette Zitatensammlung, die man sich heute bequem und billig in wenigen Sekunden zusammengoogeln kann«, sagen manche, was teilweise stimmt: Heutzutage ist die Zusammenstellung einer Anthologie sehr viel leichter und schneller möglich als Anfang der 80er-Jahre des vorigen Jahrhunderts. Gern denke ich dennoch an die jahrelange Arbeit in der Bibliothek des Kunsthistorischen Instituts Marburg zurück, wo ich systematisch die Bücher nach brauchbaren Zitaten durchforstete; auch in anderen Fachbibliotheken arbeitete ich. Dieser Zeit der ersten elektrischen Schreibmaschinen für Studenten und Karteikästen will ich dennoch nicht nachweinen.
Doch was Digitalisierung und Internet auch heute nicht leisten und was das Originäre dieses Buchs darstellt, ist neben der strengen Auswahl die Anordnung, die durchdachte und vielfach subtile Montage der »Kunst-ist«-Zitate, die dieses Buch von der Vielzahl anderer Anthologien unterscheidet. »Sowas soll Ihnen erstmal jemand nachmachen«, sagte ein Lektor damals.

Auch nach rund 40 Jahren und mehreren Auflagen versteht sich dieses, mein Buch als Schule des Denkens, als nützlicher Beitrag zur Erkenntnistheorie und Mechanik unseres Argumentierens und Definierens, exemplifiziert am Beispiel »Kunst«. Nach wie vor bin ich überzeugt, den Kunstbegriff als historisches Phänomen konsequenter und auch radikaler als andere Publikationen gleichen Titels und Themas dokumentarisch behandelt zu haben. Was im Ansatz wie eine gewöhnliche Zitatensammlung aussieht – eine Anthologie, wie sie in anspruchsloser Beliebigkeit tausendfach publiziert werden kann –, darf den aufmerksamen Leser nicht täuschen. Nur jene Definitionen wurden aufgenommen, die den didaktischen Filter des unmittelbaren Bestimmungsurteils passiert haben: »Kunst ist …« Weder die Fragen »wozu dient Kunst?« noch »was bewirkt Kunst?« finden formale Beachtung, ebenso wenig die Frage, »was ist ein Kunstwerk? Was ist seine Minimalbedingung? Welche Voraussetzung muss etwas Beliebiges erfüllen, um als Kunst anerkannt zu werden?«

Diese Selektion hat enorme Konsequenzen: Syntaktisch ist »Kunst« als Konstante inmitten von Variablen mit jedem beliebigen Substantiv, Adjektiv und Verb kombinierbar. So enthält dieses Kompendium eine umfassende Abhandlung zu dem, was »Kunst« sein könnte, warum eine bestimmte Definition zu kurz greift, welche anderen Aspekte sie vernachlässigt, warum aber auch weitere Definitionen immer wieder Wesensteile außer acht lassen. Was mein Buch von anderen Publikationen gleichen Titels grundlegend unterscheidet, ist die authentische Ausdrucksform, im Zitat mit jeder These großer Denker und Künstler zu belegen, dass sie vertretbar ist, bereits vertreten wurde und durch eine ebenso haltbare bzw. gehaltene widerlegt, ergänzt oder eingeschränkt wird.

Ich habe die Definitionen aus mehr als zwei Jahrtausenden dialogisch geordnet, in ihrer Struktur als Konzert potenziell unendlich vieler Stimmen und Meinungen, die sich aufeinander beziehen, ergänzen und widersprechen – im Namen der »Kunst« als einzigem Fixpunkt dieser literarischen Collage, die auch wie ein Roman voller Wendungen gelesen werden kann. Dass ihre Existenz darüber hinaus auf einem grundlegenden Irrtum beruhen könnte, macht die Sammlung reizvoll. »Wenn Versuche, die Frage ›Was ist Kunst?‹ zu beantworten, meist mit Enttäuschung und Verwirrung enden, dann ist vielleicht – wie so oft – die Frage falsch gestellt.«1

Prüfen Sie selbst, ob an dieser These etwas Wahres ist und unzählige Geistesgrößen seit alters her mit ihren Bemühungen, diese Frage zu beantworten, auf dem Holzweg waren. Ich danke dem Verleger Manfred Olms für die Möglichkeit, dieses Buch einmal mehr neu zu edieren und visuell aufzubereiten.

Andreas Mäckler, im Sommer 2023

1 Nelson Goodman, zit. in Kunstforum International, Hrsg. Dieter Bechtloff. Ruppichteroth 1989, Bd. 100, S. 91