Mit dem Tod von Schulkameraden stirbt wohl auch ein Teil unseres eigenen Lebens und damit unserer Lebensgeschichte, wenn wir sie nicht aufschreiben. Als ich in Facebook die Nachricht vom nahen Tod meiner Klassenkameradin Ute Schlossmacher las, wurde ich wieder traurig, wenngleich die Nachricht nicht überaschend kam: Ute, die seit langem in England lebte, litt an einer unheilbaren Krankheit: ALS.

Ihre Schwester Zambodhi hatte am 24. Januar geschrieben: „Ute came home from hospital a few days ago. She is very fragile now and following an enormous battle through two bouts of pneumonia and further deterioration since her return home has decided to let go and to fight no longer. Her decision comes as a relief for all who have witnessed the last month and in true ‘Ute style’ as a conscious decision that she made this Wednesday morning.

Ute responded to the question whether she would like some visitors by writing that visits are not important to her at this time. It is such a struggle to position Ute so she is reasonably comfortable and since she is back she needs to be on oxygen 24/7 so day and night have become an endless struggle for moments of peace and little bits of sleep here and there. Ute is so weak and exhausted that her social life may have well come to an end now.

It is wonderful that Ute is back home. Her daughter Ruth is here and all her carers are here as before. Thank you for all your different ways of being there for Ute.“

Und dann kam heute die Nachricht: „Ute left this life on 2/2/15 at 4.27 pm. It is Candlemas day, the festival of light returning into the earth. Her departure was so gentle, and full of beauty and grace. She seems in such deep peace and looks very beautiful. Ute will be in her home for another 3 days, before she leaves her beloved home on Thursday afternoon. Her home is open to all who want to see Ute. Please let others know who are not on email or who are not in any of the emailing lists. Thank you, Zambodhi.“

Ich denke gern an unsere späteren Schuljahre in Kassel mit Ute, ihrer jüngeren Schwester Heike, die den Namen später in Zambodhi wandeln und dessen Schreibweise jeweils der Aussprache des Landes, in dem sie gerade lebte, angepassen würde, und Stefan, genannt Isi (von Isidor). Er war der Jüngste der Drei und ertrug die Dominanz seiner temperamentvollen Schwestern mit Freundlichkeit und Gleichmut.

Die Schlossmacher-Family hatte – da war Ute ungefähr siebzehn Jahre alt – in der Wilhelmshöher Allee zwischen Kirchweg und Rotem Kreuz eine eigene Wohnung bezogen, ohne Eltern und entsprechende Kontrolle. Kein Wunder, dass ich mich bei ihnen bald wohler fühlte, als in meinem Elternhaus.

Die Schlossmacher-WG war für mich in dieser Zeit ein Hort der Inspiration und freiem, kreativem Lebensgefühl, wie ich es später nicht mehr in dieser familiären Intensität erleben sollte, denn in all unserer jugendlichen Anarchie herrschte Geborgenheit: Wer bei den Schlossmacher-Geschwistern aufgenommen worden war, war nicht mehr allein. Ute wuchs in die Mutterrolle hinein.

Ute war ein wacher Geist, belesen und künstlerisch ambitioniert; unsere Themen bildeten Malerei, Musik, Literatur und Philosophie. Wir schrieben Gedichte, malten und machten zusammen eine Ausstellung in der Kasseler Christengemeinschaft in der Hansteinstrasse. Da waren wir um die 18 Jahre alt. Ute malte am liebsten expressiv mit reinen Farben, in der Anmutung vielleicht eine Mischung aus van Gogh und August Macke. Ihren Stil der kurzen geschwungenen Pinselstriche nannten wir fröhlich „Würmchentechnik“.

Wir paukten auch zusammen fürs Abitur, wobei mein Einsatz dazu eher bescheiden war und ich lieber in der fröhlichen Gesellschaft diskutierte, rauchte, trank und träumte. Nach dem Abi zog ich zum Studieren nach Marburg und später nach München. Im Jahr 1987 besuchte ich während einer Schwedenreise für ein paar Stunden Sambodhi, die in der Nähe von Järna Eurythmie studierte, doch viel mehr Kontakt hatten wir dann nicht mehr miteinander. Unsere Welten waren auseinander gegangen.

Ute war nach der Schule zuerst  für ein Jahr Hauswirtschaftslehre in den Schwarzwald gezogen, dann vier Jahre in Österreich auf Gut Farrach tätig, wo sie Peter, ihren Mann, kennenlernte und wo Ruth geboren wurde. Dort machte Ute ihre Landwirtschaftliche Haushaltslehre (bzw. biologisch-dynamische Bäuerinnen-Ausbildung), dann ging es für sieben Monate auf einen norddeutschen Hof, anschließend drei Jahre nach Luxemburg und schliesslich siebzehn Jahre Belgien. Dort zerbrach ihre Ehe und sie musste einen anderen Beruf erlernen. Ute machte eine Ausbildung als Krankenschwester und arbeitete in Luxembourg vier Jahre lang als „district nurse“. Dann zog sie 2006 zu ihrer Schwester nach England, die dort bereits 13 Jahre lebte.

Zambodhi wird später darüber schreiben: „Sie ist dann in meine Einzimmerwohnung mit eingezogen und dort haben wir 7 Jahre lang gelebt. Das war eine kleine Wohnung in einem anthroposophischen College fuer Erwachsenenbildung. Danach hat sie noch 15 Monate in ihrem 4 Zimmer Bungalow gehabt, der war beinahe genauso verfallen wie Utes von der Krankheit mitgenommener Koerper und haette schon laengst abgerissen werden sollen. Der grosse Bonus war, das er an die Farm grenzte und Ute ihre geliebten Tiere und Bauernkollegen vom Wohnzimmerfenster aus bei der Arbeit zuschauen konnte. Sie konnte auch bis wenige Wochen vor ihrem Tod ohne Probleme mit ihrem Rollstuhl in den Stall gefahren werden. Damit war Ute immer ganz nahe an ihrer geliebten Farm und Sams Huehner liefen auf ihrem Rasen herum. Das Gebaeude war von Freunden in 10 Tagen renoviert worden und sah sehr gut aus, als Ute einzog. Es gehoerte der Waldorfschule und nur Lehrer durften darin wohnen. Eine dieser Lehrerinnen war zur Schulleitung gegangen und hat ein Wort dafuer eingelegt, dass sie mit Ute eine Ausnahme machen und sie dort wohnen lassen. Das was ein richtiges Wunder, sonst hat das keiner geschafft, aber viele haben es versucht…

Ich habe in diesen letzten Jahren Ute noch mal neu kennengelernt in ihren beruflichen Kapazitaeten als Krankenpflegerin und als Baeuerin. Habe zugeschaut, wie eine sehr vom Deutschen gepraegte Denkerin zweisprachig wurde und wie sich fuer Ute damit neue Horizonte eroeffneten. Sie schrieb noch kurz bevor sie starb, wie viel Spass es ihr macht, zweisprachig zu sein. Dabei konnte sie bereits seit vielen Monaten nicht mehr sprechen.

In ihrem letzten Lebensjahr kommunizierte Ute hauptsaechlich in Englisch, weil die Worte kuerzer sind und man weniger davon braucht, um etwas auszudruecken. Als sie mit den Augen schreiben musste, war das einfach etwas weniger Arbeit.“

„Ich freue mich auf meinen Tod“, verkündet eine der berühmten Kantaten von Johann Sebastian Bach, und vermutlich wird auch Ute ihrem Tod nunmehr dankbar entgegen gegangen sein, denn sie hatte viel gelitten in den letzten Jahren. Ruhe in Frieden, Ute! Ich danke für unsere gemeinsame schöne Zeit in der Jugend.

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PS. vom 20. Februar 2016: Heute erreichte mich folgender Rundbrief anlässlich des 1. Todesjahrs von Ute: 20_02_16_Brief_3

Und einige Tage später diese Mail von Zambodhi: „Es bedeutet etwas ganz besonderes fuer mich, dass ich Dein Totengedenken so im Internet lesen kann. Ich glaube, das ist ein ganz natuerlicher Wunsch, dass man nicht moechte, dass Verstorbene vergessen werden. Aber meistens ist es ja so, dass Familie und Freunde langsam diese Naehe loslassen und die Erinnerung in den Schatten tritt. Dass etwas bleibt, geschrieben wird und von anderen auch gepflegt wird ist, eher selten.

Es freut mich sehr zu sehen, wie Ute’s Leben andere Menschen beruehrt hat, und Deine Beschreibung der Kasseler Zeiten hat auch viele Erinnerungen fuer mich wieder wach gerufen. Es war schon eine besondere Zeit mit diesem glorreichen, elternfreiem Raum in unserer Wohnung in der Wilhelmshoeher Allee.