Diese Frage stellen sich viele. Zuletzt las ich sie gestern abend in den Memoiren des Soziologen Peter L. Berger: Im Morgenlicht der Erinnerung – Eine Kindheit in turbulenter Zeit. Das Buch ist in engerer Wahl für den deutschen Biographiepreis 2009 nominiert, und ich gehöre zur Jury.

„Warum veröffentlicht einer seine Erinnerungen?“, fragt Peter L. Berger in der Einleitung seiner eigenen Memoiren. „Die Gründe dafür, die mir zunächst in den Sinn kommen, scheinen mir alle nicht gerade sympathisch. Da wären: Exhibitionismus, also der Drang, sich in der Öffentlichkeit seiner Kleider zu entledigen. Oder Größenwahn, also die überspannte Einschätzung der eigenen Wichtigkeit unter der Annahme, dass sich jemand für jedes Detail im Leben des Schreibenden interessieren könnte. Und dann Raffgier, also die Hoffnung, viel Geld mit der Veröffentlichung zu verdienen. Aber ist das nicht eine Folge des erwähnten Größenwahns? Und da ist dann noch die Enthüllung, wenn man meint, wirklich überraschende, sehr wichtige Geheimnisse offenbaren zu können.

Manche sind überzeugt, dass die eigenen Lebenserfahrungen auch für andere wichtig sein können. Und für mich trifft nur der letzgenannte Grund zu. Ich bin kein Exhibitionist, mein natürlicher Hang zum Größenwahn, den eigentlich jeder Intellektuelle hat, ist durch einen sicheren Instinkt fürs Lächerliche gezügelt. Und bedauerlicherweise habe ich nur sehr triviale ‚Geheimnisse‘ zu enthüllen.“

So viel zur Einleitung, und dann folgen 240 lesenswerte Seiten, die ich Ihnen empfehlen möchte…

Warum haben viele Menschen Bedenken, ihre Memoiren zu schreiben und dann in einer mehr oder weniger großen Auflage als Buch zu edieren? Privatbiographien als Nachlass für die Familie und Freunde, wie sie das Biographiezentrum ediert, haben eine durchschnittliche Auflage von 1-50 Exemplaren. Und Verlagspublikationen, wie dieses schöne Werk von Peter L. Berger, werden in der Erstauflage kaum mehr als 5.000 Exemplare erreichen. Wenn die denn auch verkauft würden, zählt das in der heutigen Zeit der medialen Überflutung schon als Erfolg! An „reich werden“ mag da gar nicht zu denken sein.

Ich sehe die Sache pragmatisch: Das Schreiben der eigenen Lebensgeschichte ist eine der wichtigsten Formen zur Selbstvergewisserung. Wer sich selbst nicht gefunden hat, kann sich und anderen Menschen in der Tiefe nicht begegnen. In der heutigen Zeit, wo die Austauschbarkeit mechanischer Teile mit der Austauschbarkeit von Arbeitskräften und Partnerbeziehungen gleichgesetzt wird, verliert die menschliche Individualität drastisch an Wert. Doch wer zumindest einmal das Glück hatte, die Geburt und das Aufwachsen des eigenen Kindes zu erleben, spürt etwas vom Wunder und der Einmaligkeit unseres Leben, dem wir uns in der biographischen Arbeit retrospektiv wieder nähern.

Daher ist mein Credo als Biograph: Jeder Mensch und jedes Leben ist einmalig und wertvoll, von anderen wahrgenommen und gewürdigt zu werden! Wie und ob der Markt auf einzelne Lebenserinnerungen reagiert, ist eine wirtschaftliche Frage, unabhängig vom Wert der biographischen Selbstbesinnung. Deshalb sollte sich auch niemand darin verunsichern lassen, sich selbst und seinem Leben auf die Spur zu kommen. Nur wer den ersten Schritt geht, lernt laufen.