Als junger Damenfriseur in Berlin
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Am 3. April 1949 bestand ich meine Gesellenprüfung mit „sehr gut“. Da hatte ich bereits einen Schauspieler kennengelernt, der mich zu einem Urlaub am Bodensee einlud. Er war sehr interessiert an mir und hatte einen Preis bekommen mit der sagenhaften Summe von zwanzig- oder fünfundzwanzigtausend DM. Er lud mich zur Belohnung für meinen ausgezeichneten Lehrabschluss zu einem Urlaub am Bodensee ein. Mit ihm erlebte ich meinen allerersten Flug Berlin-Frankfurt. Nachdem er mich bei der Ankunft in unserem Hotel in Frankfurt ohne Übergang auf das Bett warf, war die Beziehung mit ihm für mich auch schon zu Ende. Ich wollte wieder zurück nach Berlin. Als Kompromiss, um nicht ganz im Unfrieden auseinander zu gehen, gab er mir seine Telefonnummer in Meersburg, um in Kontakt zu bleiben, und das Geld, damit ich – ohne ihn – meinen Urlaub in Konstanz verbringen konnte. Allerdings blieb es dann bei telefonischen und platonischen Kontakten rund um den Bodensee. Mein allererster Urlaub, den ich wie im Märchen mit Schifffahrten zu den Inseln Mainau und Reichenau, nach Bregenz, Lindau und zu ihm nach Meersburg genossen habe. Zurück in Berlin, haben wir uns nie wieder getroffen.

Erich wurde mein neuer Freund, den ich dann später im Salon und auch Fräulein Schulz vorstellte. Als ich aus dem Urlaub zurückkam übergab Mutter mir zweihundert DM, den ersten Preis für meine Rokoko-Perücke, die ich zu meiner Gesellenprüfung abgegeben hatte. Ergebnis der guten Ausbildung bei Herrn Gerlach. Da ich mein eigenes Zimmer bei Fräulein Schulz in der Fontanestrasse hatte, kam mir ein erstes Stellenangebot im Salon Wehler in der Schierkerstrasse, Nähe S-Bahnstation Herrmannstrasse, sehr gelegen. Dort arbeiteten zwei junge Friseusen, der Chef Bruno Wehler und seine Frau Friedel, also ein junges Team. Ich nahm das Angebot gerne an. Nach gut einem halben Jahr Tätigkeit, Ende 1949, begann mein Körper entsetzlich zu schmerzen. Selbst der Druck der Bettdecke tat plötzlich entsetzlich weh. Ich wurde ins Krankenhaus eingeliefert und untersucht. Die niederschmetternde Diagnose lautete Kinderlähmung. Wochenlang lag ich dort mit hohem Fieber. Ich erhielt als Antiserum Spritzen mit einem Schlangengift. Als ich nach zwei Monaten zur ambulanten Behandlung entlassen wurde, hatte ich etwa sechzig Pfund an Körpergewicht verloren. Meine Schienbeine glichen Dolchen, die aus der Haut hervorragten. Ich arbeitete zwar wieder, aber ging allabendlich in das Neuköllner Hallenbad und erhielt dort Unterwasser-Massagen, um die Funktionsfähigkeit meiner Muskulatur wieder zu verbessern. Zudem genoss ich für lange, lange Zeit täglich einen Viertelliter Sahne, die ich mit einem rohen Ei und zwei Eßlöffeln Traubenzucker vermischte, um wieder an Gewicht zu gewinnen. Für die Ärzte war ich eine der seltenen Ausnahmen, bei denen nach diesem Infekt körperlich nichts zurück geblieben ist. Glück gehabt! Erich besuchte mich schon während meiner Krankheit sehr häufig. Emma, seine Mutter und deren Freund Peter waren sehr nett und in Ordnung. Seiner Bruder Horst war gleichaltrig mit mir, sogar am selben Tag geboren und ebenfalls schwul. Zum Wochenende blieb ich oft über Nacht bei ihnen und wir starteten von dort zu Tanzclubs und zu Kostümbällen. Bei mir konnte Erich nicht übernachten. Fräulein Schulz hatte es mit den Worten verboten: „Schwul geht hier nicht! Sonst bringe ich sie da hin, wo sie hingehören!“ Wollte ich eine Kollegin mitbringen, lehnte sie ebenso brüsk ab und fragte, ob ich mich zum Hurenbock entwickeln wolle. Immerhin hielt ich es bei ihr etwa drei Jahre lang aus, bis ich mir ein Mansardenzimmer mit Badbenutzung in der Mommsenstrasse 18, Nähe Savignyplatz, mietete. Fast ebenso lange dauerte auch die Freundschaft mit Erich. Bei einem der Bälle hatte ich Mao, eine Bekannte von Erich, kennengelernt, ein eurasischer Typ. Sie war verheiratet und hatte einen kleinen Jungen. Ihre Ehe mit einem Alkoholiker war am Ende. Nun gingen wir beide oft miteinander zu Bällen. Sie hatte eine phantastische Figur, war eine sehr gute Tänzerin und sexuellen Abenteuern nie abgeneigt. Wenn sie eindeutige Angebote von Männern bekam, die ihr gefielen, sagte sie gerne zu. Allerdings nur unter der Bedingung, dass ich dabei war. Entsprechend oft landeten wir dann zu dritt in meinem Bett. Mao wollte sich scheiden lassen und mich heiraten. Ein bisexueller, ebenfalls verheirateter Freund, Heinz, riet mir jedoch dringend davon ab. „Wenn du unterschreibst, ist alles anders. Dann ist kein Dritter mehr in eurem Bett, sie wird schwanger und du weißt nicht mal von wem! Und außerdem bist du sowieso schwul. Also laß die Finger davon!“ Das tat ich dann auch.

Inzwischen hatte ich die Stellung gewechselt und arbeitete bei zwei älteren, schwulen Chefs in deren Salon Just & Torge. Sie hatten einen der besten Salons Berlins mit einem exquisiten Kundenkreis. Ex-Miss Deutschland, Ex-Miss Berlin, Ex-Schauspielerin u.s.w. Alle blond oder blondiert und keine Kundin, die nicht im Pelz oder ohne Diamantringe erschien. Alle erzählten von ihrer phantastischen Vergangenheit. Als Neuköllner Kind war dies eine völlig neue Welt für mich. Als ich eine dieser Damen unter der Trockenhaube fragte, ob sie schwitze, erhielt ich als Antwort. „Herr Horst, Pferde schwitzen, Männer transpirieren, einer Dame ist es warm!“ An den Stil dieses Millieus gewöhnte ich mich schnell. Die Herren Just und Torge behandelten mich eher väterlich. Sie gaben mir viele gute Ratschläge, speziell für mein schwules Privatleben. Sehr oft, wenn ich mich wieder einmal verliebt hatte und die Beziehung endete, brach ich in Tränen aus und dachte, das sei das Ende der Welt. Herr Just, damals bereits etwa sechzig Jahre alt, nahm mich dann in unseren Gemeinschaftsraum und versuchte mir den Unterschied zwischen Sex und Liebe zu erklären. „Liebe kommt erst, wenn man älter ist.“ Natürlich glaubte ich ihm nicht! Mit einer der dortigen Kolleginnen, Helga Dreke, hatte ich von Anfang an sehr guten Kontakt und war später zu ihrer Hochzeit eingeladen. Diese Freundschaft hielt bis zu ihrem Tod in den späten Achtziger Jahren. Eines Tages erschien dort eine junge Frau Lizzy in unserem Salon. Sie hatte früher als Friseuse in diesem Salon gearbeitet und war nach der Hochzeit mit einem Amerikaner in die U.S.A. ausgewandert. Ihre begeisterten Erzählungen rissen mich regelrecht mit und ich bekam die Idee, ebenfalls dorthin auszuwandern. Unsere Kundinnen rieten mir allerdings ab. Als Neubürger würde ich dort zwar sehr schnell alle Rechte und Pflichten erhalten. Aber das könnte auch bedeuten, dass ich als Soldat in den Koreakrieg ziehen müßte. Das leuchtete mir ein. Aber die Idee auszuwandern, ließ mich von da an nicht mehr los. Und so besorgte ich mir die entsprechenden Anträge für Südafrika und Australien. Meine Tätigkeit bei Just & Torge endete genau in dieser Zeit abrupt. Ich hatte ein schwules Paar aus Westdeutschland kennengelernt, das mich zu einer achtwöchigen Reise durch Spanien und Marokko eingeladen hatte. Ich hatte meinen Jahresurlaub zwar schon gehabt und bat Herrn Just deshalb um unbezahlten Urlaub für diese Zeit. Er hatte allerdings kein Verständnis für meine Bitte. „Was ist Ihnen wichtiger, Ihre Stellung oder Ihr Urlaub?“ Ich entschied mich für den Urlaub, da ich mir sicher war, im Anschluss problemlos wieder eine neue Stellung zu bekommen. Und dieser Urlaub war traumhaft und aufregend! Das Menschengewirr in all den engen Gassen in Marokko, die Basare, die exklusiven Bars in Casablanca, das Meer! So etwas hatte ich noch nie gesehen. Nach meiner Rückkehr Ende Oktober in Tempelhof fragte mich jemand, ob ich geschminkt sei. Nein, sagte ich stolz, das ist echte afrikanische Bräune. Um wieder eine Stellung zu bekommen durchforstete ich die Friseurzeitung und bewarb mich für eine Stellung als Damenfriseur bei Frau Dietz in Dahlem-Dorf. Ich bekam die Stellung, obwohl ich Frau Dietz erzählte, dass ich meine Auswanderung nach Australien oder Südafrika beantragt hatte. Unsere Kundschaft dort waren Rechtsanwalts- und Professorenfrauen, die immer gute Trinkgelder gaben. Die hatte ich auch dringend nötig, denn die Papiere zur Auswanderung, deren Übersetzungen und die Gebühren für meine Englischkurse an der Berlitz-School verschlangen Unmengen an Geld.

Aber das Bedürfnis, mich endgültig von meiner Familie zu trennen, war übermächtig. Zu der Zeit war ich fast schon so etwas wie ein Ersatzehemann für meine Mutter. Allerdings besuchte ich die Familie nur, wenn Hamann nicht da war. „Kannst du mir einen neuen Wintermantel besorgen? Bringst du uns zu Weihnachten eine Gans? Dein Bruder Hans-Joachim braucht ein Fahrrad.“ Es hörte einfach nicht mehr auf. Und Hamann schlug seine leiblichen Kinder. Deshalb zeigte ich ihn beim Jugendamt an. Es gab mächtigen Ärger und ich konnte Mutter zur Scheidung überreden. Sie erhielt nach der Scheidung eine hübsche, neue Sozialwohnung zugewiesen. Meine Halbschwester Rosemarie ging auf eine Hauswirtschaftsschule. Endlich waren wir Hamann los. Hans-Joachim bekam eine Lehrstelle in einer Autowerkstatt und begann sich als Oberhaupt der Familie zu fühlen. Sogar Tante Gertrud gab mir damals noch dreihundert DM für meine Auswanderungspläne. Ich war fast erledigt, als ich endlich all meine Unterlagen beisammen hatte. Die Genehmigung zur Einwanderung nach Südafrika bekam ich an einem Mittwoch, die für Australien am Samstag danach. Da ich beschlossen hatte, in das Land auszuwandern, für das ich zuerst die Bewilligung erhalten würde, entschied ich mich für Südafrika. Die Bewilligung hing allerdings davon ab, dass ich eine Stellung in Südafrika und die Bezahlung der Einreise nach Südafrika nachwies. Diese Stellung erhielt ich von einer Mrs. Lessing, einer ausgewanderten Kettenraucherin aus Berlin, die zwei Friseursalons in Barberton betrieb – einen Damen- und einen Herrensalon in der Nähe des Krüger-Nationalparks. Sie bezahlte die Überfahrt und ich unterschrieb einen zweijährigen Anstellungsvertrag für ihren Damensalon. In dieser Zeit mußte ich ihr die Kosten der Überfahrt zurückzahlen.