Ich freue mich, Ihnen in diesem Biographieblog in wöchentlicher Folge die Lebenserinnerungen von Horst Hamann (nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Fotografen) präsentieren zu dürfen, deren Buchausgabe ich ediert habe. Horst Hamann (83), Damenfriseur und bekennend schwul, wanderte in frühen Jahren aus nach Südafrika. Seine Lebensgeschichten sind charmant und berührend zugleich. Unbedingt lesenswert!

Mein Leben
von Horst Hamann
(c) 2011  Alle Rechte beim Autor

Vorwort

Sehr lange schon beschäftigte ich mich mit dem Gedanken, mein Leben noch einmal in einer kleinen Biographie zu erleben. Nach etlichen Gesprächen mit meinem Freund Dietmar entschlossen wir uns schließlich, diese Biographie gemeinsam zu Papier zu bringen. Es war nicht immer leicht, mich noch an alles im richtigen Zeitablauf zu erinnern. Aber Dietmar hat immer weiter gebohrt und so kam dieses kleine Büchlein nach vielen gemeinsamen Wochenenden vor seinem PC zustande. Nicht nur deshalb widme ich es ihm, aber auch all meinen Freunden, die mein Leben zum Teil schon seit mehr als vierzig Jahren begleiten.

Kindheitserinnerungen

Ich, Horst, bin am 29. März 1928 als uneheliches Kind der Erika Heyn in Berlin-Neukölln in der Hebammen-Lehranstalt an einem Sonntag zur Welt gekommen. Ob das ein Glückstag für diese Welt war, wollen wir einfach dahingestellt sein lassen. Ich jedenfalls bin dankbar dafür. Nachdem meine Mutter 1934 den Erich Hamann geheiratet hatte, wurde ich von ihm 1935 auf den Namen Hamann adoptiert. Ich wuchs auf in der dritten Etage im Seitenflügel in der Reuterstrasse 44 in Neukölln, zunächst bei meiner Großmutter, Selma Heyn, zusammen mit meiner Mutter. Meine Großmutter war Portiersfrau, meine Mutter arbeitete in der Fabrik Riedl, die medizinische Pillen produzierte. Offensichtlich war ich in meinen ersten Lebensjahren sehr oft allein.

Meine erste Kindheitserinnerung geht deshalb auch zurück auf mein drittes Lebensjahr, als Oma und Mutter im Sparverein waren und ich plötzlich nachts wach wurde und panische Angst bekam. Ich ging zum Fenster, stellte mich auf einen Stuhl und knöpfte die Schnüre auf, mit denen das Fenster verschlossen war. Ich öffnete das Fenster, kletterte auf die Fensterbank in der dritten Etage und schrie verzweifelt nach Mama. Die Nachbarn benachrichtigten meine Mutter und ich wurde, als sie nach Hause kam, vom Fenster weggerissen und erhielt eine Tracht Prügel. In der Folgezeit wurde ich bei solchen Gelegenheiten im Parterre bei Familie Lunge abgegeben, die zwei etwas ältere Söhne hatte. Dann kann ich mich daran erinnern, dass ich als Einzelkind oft allein schlimme Streiche ausführte. Unsere Toilette befand sich auf dem Flur eine halbe Treppe tiefer. Dort wickelte ich einmal meinen Stuhlgang in Papier ein und warf ihn aus dem Fenster, voll in die Fensterscheiben einer schräg gegenüberliegenden Fabrik. Natürlich gab es wieder eine Tracht Prügel. In unserer Küche hing zudem eine Peitsche mit Lederriemen, mit der ich oft spielte, wenn ich allein war, die von den Erwachsenen aber nur zu Drohungen mir gegenüber verwendet wurde. Prügel bekam ich immer nur mit dem Stiel eines Teppichklopfers.

Aus dem Mülleimer besorgte ich mir Papier und Abfälle, die ich im Keller unseres Hauses anzündete. Natürlich stieg der Qualm durch Kellerfenster und Türen. Die Feuerwehr kam und löschte und ich bekam die nächste Tracht Prügel. Vermutlich war ich ein zwar hübscher, aber letztendlich böser, kleiner, auf sich gestellter Teufel. Allerdings, wenn Großmutter mich schick machte, so mit Lackschuhen und Matrosenanzug und mit mir dann zu Karstadt zum „konditern“ ging, waren die Leute überrascht, wie gut der Kleine schon mit der Kuchengabel umgehen konnte. Oft bekam ich von Oma oder Mutter kleine, mit einem Schlüssel aufziehbare Tierfiguren aus Blech. Allerdings überlebten die meistens nur von zwölf Uhr bis mittags, weil ich sie dann schon zerlegt hatte. Meine Lieblingsspielplätze waren die Bäume am Rande der Reuterstrasse. Dort spielten wir Murmeln, natürlich um zu gewinnen und um die Murmeln einzusacken, die man eingelocht hatte.

Mit Oma war ich sehr oft auf dem Dachboden unseres Hauses, um ihr beim Wäschewaschen und beim Auswringen der Bettwäsche und der Tischtücher zu helfen. Mein größtes Vergnügen dort waren die Strudel, mit denen das Abwasser in dem zentralen Guli verschwand. Warum nur drehten sich diese Strudel immer gegen den Uhrzeigersinn?

Unsere Wohnung bestand aus einer Stube und einer Küche mit einem großen Kohleherd, in dem Oma sehr schöne „Berliner“ backte, mit Marmelade gefüllt. Als größtes Wunder empfand ich dabei, wie der Hefeteig immer größer wurde. Sonntags gab es zum Höhepunkt der Woche Fleisch. Meistens Huhn mit viel Suppengrün, das mir Mutter und Oma auf meinen Teller schoben, weil ich es sehr liebte. Besonders gern mochte ich das übrig gebliebene Hühnerklein. Während der Woche gab es Rührei, Bücklinge oder eine Portion Leinsamenöl auf den Teller, das mit einer Schrippe aufgestippt wurde. Meine Oma rollte selbst quittegelbe, langgezogene Nudeln aus, die sie in der Stube auf die Bettdecke zum Austrocknen legte. Wenn ich während des Spielens Hunger bekam, rief ich zu Oma nach oben: „Oma, Oma, ich habe Hunger!“ Dann warf sie mir ein paar in Zeitungspapier eingewickelte Pfennige nach unten. Beim Bäcker an der Ecke bekam ich dafür eine ganze Tüte voller Kuchenreste.

Der schon erwachsene Sohn Kurt meiner Tante Gertrud, die drei Ecken weiter wohnte, holte mich oft zu Geburtstagen und anderen Festivitäten ab. Tante Gertrud war die achtzehn Jahre jüngere Schwester meiner Oma und mit einem Polizeiwachtmeister, Onkel Bernhard, verheiratet. Sie hatten eine beeindruckende Vierzimmer-Wohnung mit großer Küche und eigener Toilette in der vierten Etage. Dort wurde ich oft verwöhnt und lernte viele nette Leute kennen, unter anderem ein Zahnarztehepaar Vestin mit einer Tochter Ursula, einer verwöhnten, kleinen Ziege. Kurt und Lucie waren die Kinder aus Tante Gertruds erster Ehe, die schon nicht mehr mit ihren Eltern wohnten. Eines Tages zog Kurt dann plötzlich in die erste Etage im Seitenflügel unseres Hauses ein und wohnte dort nun mit Herrn Ohm. Herr Ohm war ein grosser, blonder Mann, etwa Anfang vierzig. Ihn habe ich auch deshalb in Erinnerung, weil Großmutter beim Spielen mit ihren Romme-Damen immer die tollen Tischdecken mit großen Rosenund Blättergesticken bewunderte, die Herr Ohm produziert hatte. Von schwul wurde in meiner Gegenwart nie gesprochen.

Aber das habe ich später allein herausbekommen. Kurt hat allerdings später geheiratet, wurde Vater einer Tochter und ist im Zweiten Weltkrieg gefallen.
 
Omas Ehemann hatte sich offensichtlich schon vor meiner Zeit in Luft aufgelöst. Ihre beiden Söhne, Arthur und Willi und ihre beiden Töchter, Erika, meine Mutter und Käthe hatte sie allein großgezogen. Tante Käthe habe ich nie kennengelernt. Onkel Arthur wohnte mit seiner Frau Hedwig und den beiden Söhnen Walter und Günther auch in Neukölln. Walter und Günther gingen nach dem 2. Weltkrieg zur französischen Fremdenlegion. Seitdem habe ich sie nie wieder gesehen. Onkel Willi dagegen lebte weit draussen auf dem Land, in Großbeeren, mit seiner Frau Marie und drei Kindern. Oft wurden wir dort für mehrere Tage zum Schlachtfest eingeladen und meine Mutter schenkte den drei „Bauernkindern“ dann zu meinem Verdruss immer die von mir länger nicht mehr benutzten Spielsachen. Spielsachen hatte ich im Überfluß. Wohl die gesamte Nachbarschaft war bemüht, den einsamen „Horstel“, wie man mich nannte, mit Spielsachen zu trösten. In Großbeeren schliefen wir Kinder auf dem Dachboden auf Strohmatratzen. Das fand ich toll! In Konkurrenz zu den Schweinen klauten wir uns tagsüber Kartoffeln aus deren Trog, weil die unserer Meinung nach besser als alle Kartoffeln auf dem Küchentisch schmeckten. Brot wurde in einem mitten im dahinter einsam in einem im Wald liegenden Backofen gebacken. Und das selbst gebackene Brot, besonders die wunderbare Kruste, die Würste und das Fleisch aßen wir dann doch lieber vom Tisch. Bei einem Gewitter dort mußten alle Eßbestecke vom Tisch geräumt werden, weil sie möglicherweise die Blitze angezogen hätten. Mit riesigen Fresspaketen ging es dann wieder zurück nach Neukölln.

Ich muß wohl drei Jahre alt gewesen sein, als meine Mutter den ersten Volksempfänger nach Hause brachte. Ein Freund meiner Großmutter fertigte dafür ein besonderes Regal in der Küche an. Fasziniert versuchte ich herauszufinden, wo die Menschen waren, die da jetzt sprachen und Musik machten. Mit der Erklärung meiner Mutter, die säßen da in dem Gerät und wären klitzeklein, war ich allerdings nicht zufrieden und versuchte durch die Rückseite in den Volksempfänger zu gucken. Die Rückseite abzumontieren wagte ich dann doch nicht, und so blieb das alles ein Rätsel für mich. Bei anderer Gelegenheit, nämlich zu meinem vierten oder fünften Geburtstag, hatte mir dieser Freund, ein Schreiner, aus Holz eine Burg mit Zugbrücke gebaut – eines der herrlichsten Geschenke, das ich je bekommen habe! In dieser Burg hatte ich einen Panzer mit einem eingebauten Feuerstein, der Funken sprühte. Außerdem viele Bleisoldaten, mit denen ich die Burg eroberte oder verteidigte. Da Großmutter für die anderen Bewohner des Hauses Teppiche klopfte, durfte ich ihr auch da beim Tragen der Teppiche zur Klopfstange im Hof helfen – und natürlich wieder zurück, wenn sie ihre Arbeit erledigt hatte. In der Etage unter uns wohnte eine alleinstehende Frau, die ich eigentlich nie richtig zu Gesicht bekommen habe, weil sie immer panisch in ihre Wohnung flüchtete, wenn eine Begegnung im Treppenhaus drohte. Man sagte, ihr wäre zu ihrer Hochzeit der künftige Ehemann nicht erschienen und das hätte sie wohl den Verstand gekostet. Großmutter und Mutter lauschten gelegentlich mit einer großen Tasse an der Wand, um zu verstehen, was diese Dame unten redete. Zigmal rief sie da unten: „Der Teufel läßt sein Opfer nicht los!“ Von dieser nicht zustande gekommenen Hochzeit animiert, ließen wir Kinder uns in dem Blumengeschäft im Vorderhaus Krepppapier schenken, um im Hof Hochzeit zu spielen. Die Braut hatte eine lange Kreppschleppe und wir „Männer“ schmückten uns, auch animiert durch meine Großmutter, die im Karneval gerne als Spanierin verkleidet ausging, ebenfalls mit Papierblumen und echten Blumenabfällen aus dem Blumenladen.

Wenn Großmutter und Mutter zu Karnevalsveranstaltungen oder zu ihrem Sparverein gingen – und das war relativ häufig, wurde ich seit dem dramatischen Fenstersims-Erlebnis im Parterre bei Frau Lunge abgegeben. Frau Lunge war Witwe und sehr religiös. Jeden Morgen ging sie in die katholische Frühmesse und meine Mutter spottete, dass sie da wohl auch Frühstück bekäme. Sehr beeindruckend für mich war ein Besuch mit Frau Lunge und ihren zwei Söhnen in dieser katholischen Kirche, schräg gegenüber dem Reuterplatz, zu einer Prozession. Vor allem faszinierend für mich dort drinnen war der Rundgang mit Stops und Gebeten an den einzelnen Gemälden, die die zwölf Stationen Christi bis zur Kreuzigung darstellten. Ein paar Mal wurde ich als ziemlich kleiner Junge tagsüber von einem Bekannten behütet, wenn Oma und Mutter nicht da waren. Er hieß Hans – ein junger Mann, der sich gerne auf die Couch legte und mich, auch nackt, auf seinem Becken „Hoppe-Reiter“ spielen ließ. Bis heute erinnere ich mich auch noch sehr gut an manche schmerzhafte Nacht, wenn mich in der Dunkelheit Wanzen auf meiner Schlafstatt, der Couch in der Stube, überfielen. Ihren stinkenden Geruch habe ich bis heute in der Nase, wenn man sie zerquetschte. Jedenfalls ein sicheres Zeichen, dass am nächsten Tag der Kammerjäger mit seiner Flitspritze tätig wurde. Allerdings war das meist nur ein kurzfristig erfolglreiches Unterfangen bei all den Tapeten und meiner plüschigen Couch.

Dann, 1933/1934, erschien plötzlich Erich Hamann in Omas Wohnung. Ich erinnere mich an unsere erste Begegnung, als er vor dem Kleiderspiegel stand und gerade wieder seine Hosen zuknöpfte. Für mich ein fremder Mann, den ich Onkel Erich nennen mußte und der meine Mutter heiraten wollte. Nach ihrer Hochzeit auf dem Standesamt wurde ich Großmutter weggenommen, bei fremden Leuten untergebracht und schließlich im November 1935 von Erich Hamann adoptiert. An meine Einschulung erinnere ich mich. Ich erlebte sie mit einer großen Schultüte zunächst allein, bis Großmutter mit heißem Kakao zu der Schule am Herrmannplatz kam, um mir zu gratulieren. Offensichtlich hatte Erich Hamann durchgesetzt, dass sie mich nicht mehr sehen durfte. In den nun folgenden Jahren war ich oft bei fremden Familien untergebracht und besuchte gelegentlich meine Mutter, die nunmehr zur Untermiete bei einer Frau Abraham wohnte. Schließlich bekamen meine Eltern eine in meinen Augen erbärmlich möblierte Einzimmer-Wohnung am anderen Ende Neuköllns zugewiesen. Ich wurde in die Herzbergschule umgeschult und lebte wieder bei meiner Mutter und Erich Hamann. Auf dem Weg zur Schule sah ich, wie einem Mann aus einem Fenster in der zweiten Etage ein Staubtuch aus der Hand fiel, das vor mir auf der Strasse landete. „Bring mir das mal hoch,“ rief dieser Mann. Was ich auch brav tat. Kurz vor seiner Tür sah ich den Mann. „Komm doch rein,“ lockte er mich. Ich bekam Angst, warf das Tuch hin und lief panisch davon.

Die Jahre in der Herzbergschule waren eher unangenehm. Auf dem Schulhof spielten wir Völkerball mit einem schweren Medizinball, in der Turnhalle Bockspringen und Turnen an den Ringen. Alles Sportarten, die ich hasste. Allerdings liebte ich Tanzen. Großmutter finanzierte mir Tanzstunden in Step und Akrobatik in der Tanzschule Meisel. Unter ein paar, ebenfalls von Großmutter finanzierte Schuhe nagelte ich mir an Spitze und Absatz Metallplatten. In der Tanzschule hatte ich eine gleichaltrige, sehr hübsche Partnerin mit langen, blonden Haaren. Gemeinsam studierten wir Partnertänze ein. Wir freundeten uns an – eine Freundschaft, die sich nach meiner Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft noch als sehr nützlich erweisen sollte.

Einmal in der Woche war Schwimmen im Hallenbad angesagt. Beim Duschen lernte ich nach dem Vorbild unseres Lehrers ein erstes Mal mich nackt vor anderen auszuziehen, wo meine grünen und blauen Flecken herstammten. Da war ich etwa neun oder zehn Jahre alt. Aber die meiste Zeit, daran erinnere ich mich noch sehr gut, war ich hungrig. Dann zogen meine Eltern zurück ins Zentrum von Neukölln, in ein kleines möbliertes Zimmer zur Untermiete. Dann, etwa 1938, bezogen sie eine Parterrewohnung in der Kannerstraße und kauften sich zum ersten Mal eigene Möbel „auf Abzahlung.“ Eines Tages stand ein Kinderwagen in der Küche und ich hatte einen Stiefbruder, Hans-Joachim. Erich Hamann arbeitete damals als Transportarbeiter in Adlershof. Oft mußte ich selbst nach Adlershof fahren, um einen Krankenschein für mich zu holen. Erich Hamann war zu vergesslich dafür. Oft hatte ich Mandelentzündung, bis mir mit dreizehn Jahren in der Kinderlandverschickung in Posen die Mandeln entfernt wurden. Dies war auch die schlimmste Zeit, was meine schulischen Leistungen betraf. Jeden Abend musste ich Hamann meine Hausaufgaben zur Kontrolle vorlegen. Und dann gab es meistens Prügel und oft bis zu vier Wochen Stubenarrest. Eine Tages wollte ich mir einen Bleistift mit seinem Rasiermesser anspitzen. Kleine Teile der Klinge brachen ab und ich legte das Rasiermessser wieder zurück in das Schubfach. Als Hamann sich am nächsten Morgen rasieren wollte, entdeckte er den Schaden. Als ich die Frage verneinte, ob ich es getan hätte, bekam ich von ihm eine schreckliche Tracht Prügel wegen des Lügens, bis ich auf dem Fußboden lag. Erst als er mir da noch einen Fußtritt versetzte, schritt meine Mutter ein. Beim nächsten Schwimmunterricht entdeckte mein Lehrer die Verletzungen und zeigte Hamann beim Vormundschaftsgericht an. Konfrontiert mit den Anschuldigungen verprügelte Hamann mich ein weiteres Mal. Es war, bedingt durch die vielen Umzüge meiner Eltern, bereits die dritte Schule, in die ich ging, die Richardschule. Naturgemäß litten meine schulischen Leistungen durch die dauernden Schul- und Lehrerwechsel. Abends und sonntags ging er oft in die Kneipe an der Ecke, um Skat zu spielen. Sonntags hatte ich oft die Ehre, ihn dort zum Mittagessen zurückzuholen. Manches Mal, wenn er erst nach dem zweiten oder dritten Versuch endlich in der Wohnung erschien und wir längst gegessen hatten, servierte ihm meine Mutter das sonntägliche Fleischgericht. Doch wenn er dann anfangen wollte zu essen, nahm sie den Teller und warf ihn mitsamt des Essens in den Mülleimer und rief wutentbrannt: „Jetzt kannst du in die Kneipe zum Essen gehen!“ Angst hatte Mutter vor Hamann nicht.

Mutter wurde kurz darauf mit Hans-Joachim nach Ostpreussen auf einen Bauernhof nahe Königsberg evakuiert. Ich besuchte sie dort, arrangiert durch Großmutter, in den Schulferien, denn Großmutter durfte sich jetzt wieder um mich kümmern. Die ostpreußische Bäuerin hatte lange rotblonde, zu Zöpfen geflochtene Haare, die sie gerne in der Küche öffnete. Wenn sie dann den Kopf schüttelte, fielen die Haare bis auf ihre Hüften. Sie kam mir vor wie ein Engel! Nach diesen Ferien kam Mutter kurz zurück, um anschließend mit Hans-Joachim nach Thorgau verschickt zu werden. Hamann war inzwischen zum Militär eingezogen worden. Wir in der Richardschule wurden zur selben Zeit gefragt, wer von uns wegen der inzwischen immer häufigeren Fliegerangriffe zur Kinderlandverschickung wollte. Ich war begeistert und die Zustimmung meiner Mutter bekam ich sofort. Vermutlich war sie froh, dass ich wieder in geordnete Verhältnisse kam.

Der einjährige Aufenthalt in der Kinderlandverschickung in Bielitz, Polen war für mich fast so etwas wie ein herrlicher Traum. Wir wohnten in Achtbett-Zimmern, wurden von Nonnen und einem sehr netten Lehrer betreut. Der Schulunterricht war nicht besonders intensiv, umso intensiver waren tagelange Wanderungen bis in die Karpaten. Im Erdgeschoss des Hauses befand sich zusätzlich ein Bastelzimmer, in dem wir Laubsägearbeiten machten. Ein paar der Jungen rissen nächtens aus, von Heimweh getrieben, und versuchten mit Güterzügen zurück zu ihren Eltern nach Berlin zu kommen. Etwas, was ich einfach nicht verstehen konnte. Kurz vor meiner Einsegnung mußte ich wieder nach Berlin zurück. Die Einsegnung wurde mit Mutter, Hamann, Tante Gertrud, Onkel Bernhard und Oma in der Wohnung in der Kannerstraße gefeiert. Zu diesem Zweck hatte ich vom Wohlfahrtsamt einen schwarzen Anzug mit Nadelstreifen und einer Weste erhalten. Die Weste habe ich später dann zu Keilen zerschnitten und an den Hosenbeinen eingesetzt, um ihnen den „richtigen“, breiten Schlag zu geben. Hamann meinte, dass ich nun wie ein Strichjunge aussähe. Kurz nach meiner Einsegnung brachte Mutter eine Tochter, Rosemarie zur Welt. Mit ihr und Hans-Joachim reiste Mutter wieder zurück nach Thorgau in die Kinderlandverschickung, wie diese Evakuierungen jetzt hießen. Hamann mußte an die Front. Ich bekam mein Abschlußzeugnis der Schule und eine Lehrstelle als Schlosser bei der Firma Richard Weber in Tempelhof.