Ein so umfangreiches Feedback zu meinem großen Biographiekurs habe ich nach den ersten 10 Briefen noch nie bekommen. Herzlichen Dank dafür, darüber habe ich mich sehr gefreut! Ich bemühe mich, Handwerk und Anregungen zu vermitteln, die anderen Menschen so gut wie möglich auf ihrem Weg der biographischen Erinnerungsarbeit weiterhelfen.

„Sehr geehrter Dr. Mäckler,
es ist sicher gut, nach den ersten zehn Briefen mit den Aufgaben einmal inne zu halten und die Position zu bestimmen.

Ihre Biographiebriefe erscheinen mir sinnig und die Aufgaben dazu auf die Theorie abgestimmt. Eine solche Stringenz beim Vorgehen und bei der Aufgabenstellung ist sehr hilfreich. Ihre Erläuterungen sind klar und die Aufgaben sind machbar. Trotzdem habe ich kaum eine Ihrer Aufgaben konkret in Angriff genommen.

Ich gebe Ihnen recht, wenn Sie schreiben, dass beim Schreiben der Notizen einem immer wieder Ereignisse und wichtige Fakten einfallen. Das Kramen im Gedächtnis macht ja auch Spaß. Es tut gut zu schreiben, ohne sich zu zensieren. Es kommen Erinnerungen, die man längst vergessen geglaubt hatte. Das Gehirn ist – so habe ich erstaunt festgestellt – phänomenal, und viel zu selten werden alle seine Möglichkeiten ausgeschöpft.

„Auf der Spur meiner Geschichte“ würde es in meinem Fall besser treffen. Ich fühle mich verpflichtet, mir selbst gegenüber, die Geschichte des Todes meiner Mutter und seiner Umstände aufzuschreiben. Alles was im Zusammenhang mit diesem Tod meiner Mutter steht, interessiert mich. Alles, was nichts damit zu tun hat, halte ich im Augenblick für Wege in ein abwegiges Labyrinth. Wenn ich also alles, was mir so durch den Kopf geht, aufschreibe, habe ich Angst, den Kontakt zu der Geschichte zu verlieren, die es mich drängt in ihrer Komplexität zu erzählen.

Einige Familienmitglieder haben eine Sicht auf die Ereignisse, die zum Tode meiner Mutter geführt haben – es ist das dominante Narrativ – das, bleibt dies so stehen, meiner Nachwelt ein Bild von den Ereignissen vermittelt, das ich nicht teilen kann. Ich habe die Zeit, die dem Tod meiner Mutter voraus ging, ganz anders erlebt. Ich möchte, dass meine Sicht zumindest gleichberechtigt neben der dieser – sehr lauten und mächtigen – Familienmitglieder stehen wird, sodass die Nachwelt sich ein eigenes Bild wird machen können.

Im Grunde möchte ich mir also zunächst nur einen relativ kleinen Ausschnitt aus meiner Biografie und ihrer Einbettung in meiner Herkunft erarbeiten.

Ich habe an Hand der Aufgabe in Brief 2 nun einige Dateien (für jedes Lebensjahr sollte es am Ende eine Datei geben) angelegt. Diese Chronologie kann ich jederzeit ergänzen.

Als ich mir Gedanken machte wegen der Aufgabe zu Brief 3, kam ich zu der Erkenntnis, dass mein Leben zu den Ereignissen, die die Welt erschüttert haben, kaum eine Beziehung hat. Was habe ich gemacht, als die Mauer in Berlin 1989 überwunden wurde? Ich kann es Ihnen nicht sagen. Was habe ich gemacht, als 9/11 die Türme einstürzten? Ich habe keine Ahnung. Wir hatten zu der Zeit keinen Fernseher, nicht einmal eine Tageszeitung. Neuigkeiten sickerten nur sehr langsam und mit Zeitverzögerung zu mir durch. Die Tragweite eines Ereignisses wird oft auch erst im Nachhinein deutlich!

In Brief 4 wird der Wert auf die Gegenstände hervorgehoben, die uns erinnern lassen. Ich habe unendlich viele Gegenstände um mich gesehen und ich weiß, dass in Aktenordnern und lose zusammengehalten in Papp-Ordnern noch einmal so viele Dokumente und Fotos verstauben. Wo soll ich anfangen? Schon die Geschichte um unseren heutigen Esstisch wäre ein halber Roman! Ich freue mich jeden Tag über die zum Teil sonderbaren, zum Teil geradezu bizarren Gegenstände, die ich aus meinem elterlichen Haus mitgenommen habe. Alle haben eine Geschichte, die wert ist, erzählt zu werden. Aber welche dieser Gegenstände und Dokumente haben direkt mit dem Ausschnitt meiner Biografie zu tun, den ich bearbeiten möchte/muss?

Hochinteressant fand ich Ihre Aufgabe zur Fotobetrachtung. Ich habe mir ein paar Fotos aufs Geratewohl herausgegriffen, und je länger ich mich in die Beantwortung der Fragen, die Sie dazu stellen, vertieft habe, um so bedeutsamer kam mir die Komposition dieser Bilder vor. Aber auch hier: Welche Bilder wären jetzt wirklich wichtig für die Geschichte, die ich schreiben will? Wo verirre ich mich in Ereignissen, die bestenfalls sehr entfernt mit diesem „Familiendrama“, dem Tod meiner Mutter, zu tun haben?

Brief 6 und 7 beinhalten eine – wie Sie in Ihrem Schreiben in Brief 10 dann auch erklären – ganz eigene Aufgabe, die in meiner Familie, oder besser gesagt, für drei der Großelterlichen Familien (von Uexküll, Grote und von Mengersen) schon geleistet ist oder von versierteren Verwandten bearbeitet wird. Es fehlt mir Material zu meiner (bürgerlichen) holländischen Verwandtschaft, aber diese aufzuarbeiten würde mich vom Kern meiner Arbeit zu weit entfernen. Das bedeutet nicht, dass die Familie meines Großvaters väterlicherseits uninteressant wäre. Ganz im Gegenteil!

Sollte ich ein Subgenre bestimmen müssen, dann käme die „Scheiterbiographie“ meiner Biographie und den Ereignissen, die ich schriftlich festhalten möchte, am nächsten: eine persönliche Scheiterbiographie, die sich vom Ton her harmonisch in eine Familiendystopie fügt. Es handelt sich um dieses besondere Ereignis in meinem Leben, das sich in der (Groß-)Familie abgespielt hat und das so gravierend war, dass es sich familienintern nicht lösen ließ. Mir geht es also nicht darum, einer Chronologie gerecht zu werden, sondern darum, ein zentrales Ereignis zu beschreiben und zu versuchen, alle Elemente mitzuliefern, die dazu dienlich sein können, zu erklären, wie und dass es zu diesem Ereignis kommen musste. Eine familiäre Zentralfigur in diesem Geschehen ist in ihrer Art dem jetzigen amerikanischen Präsidenten sehr ähnlich, und deshalb hat meine Geschichte, seitdem „jeder Trump kennt“, auch an Glaubwürdigkeit gewonnen.

Die Rechtsfragen im Brief 9 haben mich sehr nachdenklich gemacht. Aber ich bin der Meinung, ich will die Fakten so, wie ich sie kenne, den Menschen zuordnen, zu denen sie gehören, und nicht drumherum reden. Diesen Text muss ich ja nicht veröffentlichen. Er soll nur geschrieben sein für und gelesen werden von Leuten, die sich ein Bild machen wollen von dem Geschehen. Vielleicht habe ich später dann noch Zeit, die Geschichte zu verfremden und als „Roman“ zu veröffentlichen. Oder ich habe dann die Ruhe, meine vollständige Biographie zu schreiben.

Ich hoffe, ich konnte Ihnen klar machen, dass ich mir zu jedem Ihrer Briefe Gedanken gemacht habe, aber dass ich den Impuls, den Anstoß, loszulegen noch nicht gefunden habe.

Folgende ist meine Arbeitsweise bisher gewesen: Mein Zettelkasten ist mein Kopf und ich bin ganz schlecht darin, in meinen Aufgaben geordnet vorzugehen. Ich brauche einen Impuls, einen Trigger oder – am besten – mehrere aus unterschiedlichen „Richtungen“, damit ich anfange zu schreiben. Sobald ich kühlen Kopfes Notizen mache, erkalten diese und sagen mir nichts mehr und ich schaue sie mir nicht mehr an!

Auf Ihre kommenden Briefe bin ich sehr gespannt, und sobald ich einen Einstieg sehe, steige ich ein!

Einstweilen liefern mir Ihre Briefe die Methode, Erkenntnisse und Arbeitshilfen, die ich auf jeden Fall eines Tages gut gebrauchen kann!

Mit freundlichen Grüßen
Leveke Nieuwenhuis-von Garßen“