Königstein

Die Wohnung war nicht zu teuer, geräumig und gut ausgestattet, nur leider lag sie an der B8, die mitten durch den wunderschönen Ort geht. Ich dachte mir eigentlich nichts dabei, an einer Straße hatte ich noch nie gewohnt, aber ich war froh, endlich eine Wohnung gefunden zu haben.


Nachdem wir eingezogen waren, merkten wir, wie laut die Straße war. Ich dachte manchmal, mir fliegt der Kopf weg. Nie war Ruhe, bis auf nachts zwei Stunden, da saß ich manchmal auf dem großen Balkon, den man tagsüber nur als Abstellplatz benutzen konnte, und rauchte. Im Büro tröstete man mich: „Inge, in einem halben Jahr hörst du die Straße nicht mehr, dann hast du dich daran gewöhnt. Ich habe mich nach zwei Jahren nicht daran gewöhnt! Sogar Konstantin hatte Probleme, in Ruhe lernen zu können. Für ihn hatte ich eine sehr gute Privatschule gefunden, die er gern besuchte und an der er einen Riesensprung mit seinen schulischen Leistungen machte. Diese Schule war wirklich ein Segen für ihn. Dort sah man den einzelnen Schüler noch, kümmerte sich angemessen um Leistungen und auch um das gemeinschaftliche Leben. Und ich hatte es nicht weit bis zur Arbeit.

Eine AA-Gruppe gab es auch gleich um die Ecke, die ich wieder regelmäßig besuchte. Nur unserem Hund gefiel es in Königstein überhaupt nicht. Er war viel Freiheit in Haus, Garten, Wiesen und Felder gewöhnt, und hier musste er ständig an die Leine. Im Hintertaunus war er manchmal den halben Tag allein unterwegs gewesen, das gab es nun nicht mehr, und das machte ihm auch sehr zu schaffen. Er wurde nach einiger Zeit sehr krank, aber Gott sei Dank wieder gesund, denn wir hingen alle sehr an ihm. Das Tollste war, dass Melanie seit einiger Zeit auch in Königstein wohnte und in Mainz studierte. So waren wir alle wieder zusammen.

Bis auf die Lautstärke der Straße lief das Leben in geregelten Bahnen. Ich hatte eine sehr nette Ärztin, die sich Zeit und Mühe gab, meine gesundheitlichen Probleme zu verstehen. Inzwischen hatte ich einen Schwerbehindertenausweis aufgrund meiner angegriffenen Gelenke. Das war mit eine Nebenwirkung meiner jahrelangen Tabletteneinnahme, da all diese Medikamente eine Muskel relaxierende Wirkung hatten. Meine Muskeln waren immer erschlafft und die Gelenke hatten zu viel zu tun. Da war der vorzeitige Verschleiß vorprogrammiert. Und jetzt fing ich an, Sport zu treiben. Ein bisschen spät, aber wie sagt man: lieber spät als nie. Mit der richtigen Ernährung hatte ich ja noch nie Probleme, und so konnte ich diesen Prozess zumindest schmerzfrei halten.

Meine Bulimie hatte ich wunderbar im Griff. Ich durfte keine Süßigkeiten essen, vor allem nicht am Morgen, keine Marmelade, Honig oder gar Nutella – ansonsten viel Salat und Gemüse, möglichst keinen Nachtisch und am besten keine sehr gut schmeckenden Speisen. Dann hatte ich den Tag über Ruhe und kein Suchtgefühl. Da ich auch Expertin für Trennkost war, ernährte ich mich hauptsächlich nach dieser Ernährungsform. So hielt ich meine Sucht in Schach und den Gelenken tat es auch gut. Würde ich morgens mit einem „normalen“ Frühstück mit frischen Brötchen und süßem Belag anfangen, war der Tag gelaufen. Da fing die Sucht prompt wieder an. So ist das heute noch.

Ich war mal in einer Kureinrichtung, wo sehr viel Übergewichtige und Bulimiker waren. Es gab keinen extra Speiseraum für diese Leute, sondern sie konnten sich an allen Speisen, vor allem süße Sachen, bedienen. Ich habe mich damals mit dem Oberarzt dieser Klinik deshalb angelegt. Er meinte allerdings: „Die Patienten sollen lernen, damit richtig umzugehen.“ Für mich der absolute Oberquatsch! Das wäre wie in einer Alkoholentziehungskur mit Alkohol auf dem Tisch, damit man lernt, ihn zu dosieren. Es sind eben keine Profis, die hier arbeiteten, die findet man nur in den Selbsthilfegruppen. Mir konnte nur ein Therapeut helfen, der sich selbst damit auskannte, alle anderen nahm ich überhaupt nicht für voll.

Das ist ein Problem, wenn Suchterkrankungen von Nichtsüchtigen therapiert werden. Man kann noch so lange studiert haben, dieses Gefühl kennen Ärzte und Therapeuten nicht – woher auch? Es ist wie jemand, der noch nie Bauchschmerzen hatte – er weiß nicht, wie das ist. In meiner langen Suchtkarriere waren die Therapeuten die besten, die selbst diese Krankheit hatten. Früher war es möglich, als Betroffener eine Zusatzausbildung zu machen und konnte dann als Therapeut arbeiten, das ist heute leider nicht mehr zulässig – oder eben ein Heilpraktiker mit einer therapeutischen Ausbildung, aber dann muss ein Patient die Kosten selbst tragen, und das ist leider bei der Länge einer solchen Erkrankung meist nicht möglich.

Ich hätte gern eine solche Ausbildung gemacht und dann in der Suchtberatung gearbeitet. So arbeitete ich stattdessen in einer Versicherung und beschäftigte mich mit KFZ-Schäden – na, immerhin auch mit Schäden. Durch meinen Schwerbehindertenausweis hätte ich bis zur Rente dort arbeiten können, leider kam es wieder einmal anders.
Nachdem wir etwa ein Jahr in Königstein gelebt hatten, kam der 11. September 2001 – die Terroranschläge in New York. Ich saß gerade bei der Arbeit im Büro, als mein Sohn anrief und mir mitteilte: „Mama, die Aktien sind im freien Fall!“

Mir fiel vor Schreck der Hörer aus der Hand, die Beine zitterten, das Herz schlug mir zum Halse raus. Das gab es doch nicht, was war jetzt mit meiner Geldanlage? Im Geist sah ich alles zusammenbrechen und meine Altersvorsorge dahin. Es war dann schließlich nicht ganz so schlimm, aber ich hatte einen hohen Verlust, da ich unsere Miete monatlich aus den Fonds bezahlten musste. Das hieß, obwohl die Fonds nur die Hälfte wert waren, brauchte ich die monatliche Auszahlung und verlor somit sehr viel Geld. Vor lauter Angst, dass alles weg wäre, stieg ich zudem aus einigen Fonds aus und verlor somit noch mehr. Das war die sogenannte Zitterpartie, von der Kostolany früher gesprochen hatte. Ich zitterte mich aber aus lauter Angst, alles zu verlieren, leider nicht durch. Zudem wurde unsere Nebenkostenabrechnung auch immer höher, sodass mir ganz schön mulmig wurde.

Konstantin ging dann für ein Jahr in die USA auf eine Highschool, und somit fiel sein Unterhalt von seinem Vater auch noch weg. Hätte ich bloß früher eine Wohnung gekauft – ja, das berühmte „Hätte“…. Bevor Konstantin in die USA ging, fiel bei uns in der Wohnung noch der gesamte Putz von der Decke und machte das Wohnzimmer unbewohnbar. Es musste renoviert werden, und ich hatte wieder mal enormes Glück, denn die dicksten Brocken fielen genau über meinem Relaxsessel runter. Gut, dass ich da nicht drin gesessen hatte! Da fiel einem buchstäblich die Decke auf den Kopf. Zur gleichen Zeit kam meine Mutter mit Verdacht auf Ileus (Darmverschluss) in das Krankenhaus in Witzenhausen, und ich fuhr sofort hin. Konstantin übernahm allein das Ausräumen und wieder Einräumen des Zimmers. Diese Ereignisse brachten mich einmal mehr zum Nachdenken. Da fiel die Decke runter, und gleichzeitig musste ich zu meiner Mutter fahren. Das war schon fast wie ein Zeichen. Bisher hatte sie zwar immer mal wieder gesundheitliche Probleme, aber ich musste noch nie so schnell zu ihr fahren.

Sie lag ganz allein im Krankenhaus, keiner war bei ihr, und so blieb ich eine Woche dort, was mir ziemlichen Ärger im Büro einbrachte. Bei meinen Umwegen konnte ich aber nicht dauernd hin- und herfahren. Für eine Fahrt brauchte ich zwischen vier und fünf Stunden. Meine Mutter lebte seit dem Tod meines Vaters allein in dem kleinen Häuschen. Sie fühlte sich dort wohl, hatte Hilfen für Haus und Garten und war auch inzwischen ganz in die untere Etage gezogen, weil sie keine Treppen mehr laufen konnte. Bei größeren Aktivitäten war ich bei ihr und hatte auch schon vor Jahren versucht, eine Pflegestufe für sie zu bekommen: kurz, sie konnte nicht mehr allein in ihrem Haus bleiben.

Konstantin ging nach Amerika und wollte dort eventuell sogar studieren. Ich musste bei meinen schwindenden Finanzen eine teure Wohnung bezahlen, doch mein Verdienst reichte gerade für das tägliche Leben. Da bot sich wieder ein Umzug an: Meine Mutter müsste sonst in ein Heim und mein Elternhaus wäre somit auch weg. Die obere Etage war frei, warum zog ich nicht wieder ein und kümmerte mich um meine Mutter? Damit wäre uns beiden geholfen und keiner wäre allein.

Meinem Sohn sagte ich natürlich nichts von meinen Überlegungen, die mussten erst noch reifen. Schade wäre nur der Verlust des Arbeitsplatzes gewesen, doch vielleicht bekam ich in meiner Heimatregion eine andere Arbeit. Bisher hatte ich damit nie Probleme gehabt. Weil ich nicht wusste, was ich machen sollte, unterhielt ich mich mit allen möglichen Leuten und nahm einige Stunden bei einer Therapeutin. Niemand hat mir geraten, zu meiner Mutter zu ziehen. Es hat mich jeder gewarnt, obwohl keiner meine Mutter kannte. Allein die Tatsache, meine Eigenständigkeit aufzugeben und wieder in mein Elternhaus zu meiner Mutter zu ziehen, war anscheinend keine gute Idee.

Und dann war da noch Konstantin. Wo sollte er hin, wenn er wieder kommen würde und doch noch sein Abi in Königstein machen wollte? Er hatte im Notfall seinen Vater in der Nähe, und außerdem war er ein junger Mensch, und meine Mutter war über achtzig Jahre alt und brauchte Hilfe. Ich hatte mich all die Jahre mit meiner Mutter hervorragend verstanden, ihr erzählte ich fast alle meine Probleme und hatte immer einen Fluchtpunkt, den ich oft wahrgenommen habe. Ihn wollte ich nicht verlieren, doch dann konnte ich auch nicht mehr weg, wenn ich erstmal wieder eingezogen war.

Diese Unsicherheiten schob ich einfach zur Seite. Ich schaffte es nicht, meine Mutter in ein Altenheim zu bringen, zumal ich momentan keine Familie hatte. Meine finanziellen Schwierigkeiten wäre ich auch erstmal los, wenn ich zu ihr zöge. Keine teure Miete, und die Kosten für ein Altenheim würden auch gespart.

Ja, das liebe Geld, es war mir immer schon so wichtig – nicht die Menge, sondern die Unabhängigkeit, die ich dadurch hatte. Da nahm ich vieles in Kauf, auch meine Gesundheit. Schon die Vorstellung, von irgendjemandem wieder finanziell abhängig zu sein, und sei es vom Staat, machte mich krank.

Von Königstein aus fand ich eine neue Stelle in Kassel bei der AOK. Was sollte jetzt bitte noch schiefgehen? Es war perfekt, dachte ich. Mithilfe eines Attestes meiner Ärztin kündigte ich meine gute Arbeitsstelle. Man wollte mich nicht gehen lassen, ich war eine gute Kraft. Das war doch mal etwas ganz Neues, und trotzdem ging ich. Leid tat es mir, ich war dort sehr gern, die Arbeit hatte Spaß gemacht. Aber alles geht nun mal nicht. Wenn nur nicht immer diese Entscheidungen wären, und dann sind sie am Ende nicht richtig!

Meine Mutter freute sich natürlich, und die obere Etage wurde renoviert. So zog ich nach etwa fünfundzwanzig Jahren wieder in meine alte Heimat.
 
Wieder in der Heimat

Als wir, mein Hund Bernie und ich, ankamen, stand meine Mutter vor der Tür und es war ihr anzumerken, wie sehr sie sich freute, nicht mehr allein zu sein. Sie hatte niemals angemerkt, dass ich mich um sie kümmern sollte, wenn sie dieses Alter erreichen würde. So ganz hatte ich dieses Kümmern um sie auch überhaupt nicht richtig verinnerlicht. Ganz tief drinnen war in mir sicher das Gefühl von bemuttert werden, mein Ding zu machen, und Mutter kümmert sich um alles andere. Natürlich, sie war inzwischen zweiundachtzig Jahre alt, ich war oft bei ihr und habe bei Entscheidungen und größeren Anschaffungen geholfen. Das Bild, wie sie alt, gebrechlich, hilfsbedürftig und traurig vor der Tür stand, wenn ich wieder wegfahren musste, verfolgte mich jedes Mal fast die ganze Autostrecke in den Taunus, und trotzdem war da jetzt etwas von alles abgeben können, sie war ja da. Es hat mich auch nie interessiert, dass sie in ihrem Haus immer noch bestimmt hat. Ich fuhr ja wieder in mein eigenes Reich. Das wurde nun anders.
Ich zog in meine schön renovierten Räume und war anfangs voller Euphorie, hier zu sein. Der ganze finanzielle Druck, die teure Miete bezahlen zu müssen, und auch der immer größer werdende Stress im Büro waren mit einem Mal verschwunden. Alles andere würde sich schon finden, außerdem war ich auch nicht mehr allein. Und diese unglaubliche Ruhe in dem Haus und drum herum! Es gab zwar eine Bahnlinie, die recht nah an dem Grundstück vorbei läuft, aber ansonsten ist alles grün – kein direkter Nachbar, wirklich Idylle pur. Wenn ich im Bett lag, machte ich das Fenster auf und hörte auf die Stille. Nach zwei Jahren an der Straße wohnen, war das unbeschreiblich schön. Ich lag einfach nur da und hörte die Stille, als wenn es die schönste Musik wäre. Die Geräusche der Bahn waren immer schnell vorbei und dann war es wieder ruhig. Dagegen war eine Hauptstraße ständig befahren, und diese lauten Geräusche hörten nie auf. Fenster aufmachen ging einfach nicht. Meist bin ich einmal am Tag mit Bernie im Auto auf den nahen Feldberg geflüchtet, um eine Stunde Ruhe zu haben. Und hier hatte ich sie pur.

Dazu die wunderschöne Landschaft, die mich immer wieder aufs Neue fasziniert. Ein paar Meter weiter war ich schon im Feld und schaute auf das schöne Schloss Berlepsch. In Königstein wohnten nur die Superreichen am Wald oder Feldrand. Da standen die großen Villen, und da war es auch ruhig. Also lebte ich hier wie in einer Villa in Königstein. Das Haus war klein und schon recht alt, aber jetzt mit meiner neu renovierten Etage ließ es sich gut wohnen. Das Problem war nur, das ich kein eigenes Bad und Küche hatte. Das erschien mir auch erstmal nicht wichtig. In meinen Kurzurlauben hatte mich das nie gestört.

Meine Mutter war nun ein Mensch, der viel aufhob. Sie hatte eine Sammelleidenschaft für leere Quarkbecher und war kein Messie, sie wollte es auch schön haben, aber es stand eben wesentlich mehr herum, als bei mir in meinen Wohnungen.

Da fing der erste Streit schon an. Ich wollte die Küche aufräumen, besser entrümpeln. Sie: „Geh da ja nicht ran! Das sind wichtige Dinge, die brauche ich noch, bleib mir ja davon, ich räume dann mal auf.“ das passierte aber nie.
Die erste Zeit ließ ich mich auch immer wieder davon abbringen, und vor allem hatte ich ab Januar eine neue Arbeitsstelle in Kassel, da musste ich mich drauf konzentrieren. Es war auch nur eine Halbtagsstelle im Servicebereich, aber durch die Entfernung waren es einige Stunden mehr, da ich mit dem Zug fuhr und nicht mit dem Auto. Ich hatte eine prima Arbeitszeit von nachmittags bis abends und war gegen 21.30 Uhr zu Hause. Für mich war das eine wunderbare Einteilung, denn da hatte ich weniger Problem mit der Schlaferei. Eine Stelle morgens wäre nicht machbar gewesen. So war der innere Druck, nicht schlafen zu können, einfach geringer.

Ich musste ohnehin wieder einen Arzt finden, der mir meine Medikamente verschrieb. In Hann. Münden gab es eine neurologische Praxis, die sehr gut sein sollte. Von wegen! Eine Ärztin hörte gar nicht richtig hin: „Was, Sie nehmen Valium? Und das schon so lange? Das ist egal, wie viel, wenn Sie in einem Monat nicht ganz weg davon sind, muss ich Sie in eine Entzugsklinik einweisen!“

Das schon wieder, dachte ich. Ein Gespräch von acht Minuten, in dem eine völlig fremde Ärztin sich ein Urteil erlauben wollte. Wütend und enttäuscht verließ ich die Praxis: „Du kannst mich mal, hast doch keine Ahnung!“
Also wieder auf Suche. Das mit dem „unter-der-Hand-Besorgen“ wollte ich nicht mehr, ich musste eben weitersuchen. Für vier Wochen hatte ich ein Fläschchen mit Tropfen und fand dann auch einen sehr netten Arzt und Therapeuten, der sich mehr Zeit nahm und mich nicht gleich aburteilte. Ich wusste nach dieser langen „Suchtkarriere“ selbst am besten, dass ich nicht ganz clean war, aber das lief so nun schon fast zwanzig Jahre, und ich lebte ganz gut damit. Ich wollte keine Experimente mehr und nicht dieses ewige Karussell um Beruhigen und Schlafenkönnen.

Von diesem neuen Arzt ließ ich mich noch mal auf ein anderes Medikament einstellen, doch wieder das Gleiche: Ich war den ganzen Tag schläfrig und müde, und das konnte leicht in eine Depression umschlagen. Ich hatte doch so viel geschafft! Seit zwanzig Jahren keinen Tropfen Alkohol mehr! Ich hatte die Bulimie im Griff, war nicht mehr beziehungssüchtig, nahm überhaupt keine anderen Pillen mehr, ja ich konnte sagen, ich meisterte mein Leben! Aufpassen musste ich natürlich ständig, denn Sucht ist Sucht und sucht sich immer wieder ein neues Ventil. Eine AA-Freundin sagte mal: „Gib mir was, ich mach eine Sucht daraus!“ Das traf auf mich auch zu.

Es war immer noch nicht leicht, aber da gab es schlimmere Schicksale. Sicher ist mein Schlafproblem auch ein psychisches, denn wenn man vierzig Jahre lang erzählt und glaubt, dass man nicht schlafen kann, kann es gar nicht anders sein. Da hatten die Ärzte schon recht, nur: Mach das mal, nicht an Schlaf zu denken, wenn Jahrzehnte deines Lebens davon bestimmt waren! Eine halbe Tablette oder ein paar Tropfen gehörten inzwischen zu meinem Abendprogramm wie Zähne putzen – dann wurde ich ruhig und schlief einigermaßen. Es fing allmählich an, dass ich mein Gefühl nicht mehr verfälschen wollte. Ich bekam sogar Angst, wenn ein Medikament gefühlsmäßig zu spüren war, das wollte ich nicht mehr, das war nicht ich! Und früher wollte ich genau das. Mein eigenes Gefühl konnte ich damals nicht aushalten. Mit Schlafen war es ähnlich. Nahm ich mal eine höhere Dosis, weil ich wegfahren wollte oder sonst etwas Wichtiges bevorstand, war ich sofort morgens wach und unruhig und konnte nicht im Bett bleiben, musste sofort rausspringen. Da hatte mich das Mittel nur betäubt, ich schlief so lange, wie es wirkte, und dann war Schluss. Nahm ich nur eine geringe Menge, war das lediglich ein Schlafanstoß und ich schlief ganz anders. Dann wachte ich zwischendurch auf, musste mal aufstehen, legte mich wieder ins Bett und schlief sofort weiter, und morgens wollte ich dann gar nicht aufstehen, ich war normal müde und schläfrig und wollte mich immer wieder umdrehen und weiter schlafen. Darauf habe ich etwa dreißig Jahre gewartet. Für die meisten Menschen ist das so selbstverständlich, wie das Leben selbst. Die machen sich darüber keine Gedanken. Wenn ich dagegen mal eine schöne ruhige Nacht hatte, war ich am nächsten morgen dankbar und freute mich riesig.

So ähnlich ist es auch mit ständigen Schmerzen. Ich habe gelesen, dass Schmerzpatienten die dankbarsten Menschen sind, wenn sie mal keine Schmerzen haben. Ich bedanke mich sehr oft bei meinem Schöpfer. Mein Leben war bisher wirklich recht schwer, aber ich habe so viele Schutzengel gehabt, so ungeheuer viel Glück, das müsste ich mir nur viel öfter klarmachen! Leider neigen wir Menschen dazu, meist das zu sehen, was nicht funktioniert. So machte ich es auch bei meiner Mutter.

Irgendwie war ich plötzlich in meinem Elternhaus zurückversetzt in meine Kindheit. Teilweise merkte ich sogar, wie ich kleiner wurde, ständig meine Mutter anschaute, als wenn ich immer in ihrer Mimik oder Reaktionen sehen wollte, was sie denkt oder was ich jetzt machen soll. Ich merkte das, wollte es aber nicht. Verdammt noch mal, ich war doch nicht mehr das kleine Kind, ich war inzwischen erwachsen! So begann ein ständiges Wechselspiel bei mir im Inneren zwischen Kind und Erwachsensein. Morgens fing es an, wenn ich nach unten ging. Oben war alles renoviert, dort dachte ich überhaupt nicht an früher und fühlte mich richtig wohl. Ging ich aber runter und machte die Tür zur Wohnung meiner Mutter auf, war es gerade so, als wenn ich plötzlich fünfzig Jahre zurückversetzt war. Nach dem Tod meines Vaters hatte meine Mutter zwar auch einiges erneuert, aber die Küche, das Bad und der dunkle kleine Flur sahen noch genauso aus wie damals. Sofort veränderte sich etwas in mir! Das Wohlgefühl verschwand, ich war angespannt und sank stimmungsmäßig ein paar Etagen tiefer. Sah ich dann noch meine Mutter in ihrem Zimmer sitzen, war ich in einer völlig unrealen Welt – nicht in der von heute, sondern von damals. Meist überspielte ich das, aber manchmal gelang es mir nicht. Dann brauchte meine Mutter nur bestimmte Aussprüche oder Verhaltensweisen zu bringen, wie ängstlich besorgt schauen und etwas Negatives äußern – und sei es nur über das Wetter, da spannte sich in mir alles wie eine Katze auf dem Sprung, und ich biss regelrecht um mich.

In der Küche irgendetwas tun, war fast nicht möglich. Ich sah längst vergangene Bilder vor mir, die mich regelrecht blockierten. An dem Küchentisch hatte ich als kleines Mädchen gesessen und meiner Mutter beim Kochen zugeschaut, Angst gehabt, dass mein Vater bald nach Hause kommt und er wieder rumbrüllte und das Essen am Tisch nur in Schreierei ausartete und ich nicht wusste, was ich tun sollte, um das zu verhindern. Damals dachte ich: Niemals will ich Hausfrau werden, den ganzen Tag zu Hause arbeiten, kochen und dann vom Ehemann dafür auch noch angebrüllt werden! Niemals! Es war wie ein Versprechen, das ich mir gab. Ich wollte auch, wie mein Vater, draußen arbeiten, jeden Tag rausfahren, Geld verdienen und mein eigener Herr sein. Meine Mutter tat mir damals immer unsagbar leid. Ich konnte nie verstehen, was die Auslöser für die ewige Brüllerei waren, denn ich hatte meinen Vater sehr gern und konnte ihn nie verstehen.

In den darauffolgenden Jahren, die ich mich nun um meine Mutter kümmerte, merkte ich, dass sie oft eine Art hatte, die mich regelrecht zur Weißglut brachte. Manchmal ging ich in ihr Zimmer, setzte mich zu ihr auf einen Stuhl und wollte ihr irgendetwas Nettes erzählen. Da konnte es passieren, dass ich innerhalb von zehn Minuten völlig ausrastete, regelrecht auf 180 war und ich sie nur noch anbrüllte, dann rauslief, am ganzen Körper vor Aufregung zitterte, meinen Hund nahm, rausrannte, um mich wieder zu beruhigen. Was war passiert? Unterwegs, wenn ich beim Laufen allmählich ruhiger wurde, analysierte ich den jeweiligen Auftritt. Da war ich beispielsweise fröhlich nach unten gekommen, hatte mal richtig gut geschlafen und war demzufolge gut drauf, ging zu ihr ins Zimmer und sagte: „Morgen Mutti, ich habe vielleicht heute Nacht gut geschlafen, echt toll, es war so schön, und dann hatte ich noch einen wunderbaren Traum.“

Dann sie, mit hängendem Kopf sitzend auf ihrem Bett: „Ich habe wieder überhaupt nichts geschlafen, nachts um vier bin ich etwas eingenickt und eine Stunde später wieder wach gewesen.“ Dann redete sie weiter über irgendwelche zusätzlichen Unpässlichkeiten.

Das wäre ja in Ordnung gewesen, sie war nun schon alt, aber hätte sie nicht einfach mal sagen können: „Ach Mädchen, das ist ja schön, da freue ich mich für dich“ – und hätte mir dann ihre Probleme erzählt? Sie hat mich gar nicht wahrgenommen, sondern in meine Freude gleich was Negatives gestreut. Ich stand da wie ein Trottel, wie Luft: War ich überhaupt da? Sie überging mich total, sie war immer nur bei sich selbst.

Solche Dinge passierten ständig, und ich dachte dann immer mehr, dass das auch bei meinem Vater so ähnlich war. Meine Mutter tat alles Mögliche, nur konnte sie Anteilnahme, Mitgefühl oder nur einfaches Interesse für den Anderen schwer aufbringen. Sie hatte es sicherlich, konnte es aber nicht vermitteln. Und so stand man da wie ein begossener Pudel, kam sich völlig überflüssig vor und dann eskalierte das Ganze. Mein Vater hatte keine Heimat mehr, er schlug sich wirklich schwer durch, bevor er für damalige Verhältnisse einigermaßen Geld verdiente, um seine Familie zu ernähren und das Haus zu bauen. Meine Mutter war immer zu Hause auf dem Hof, dann hat sie geheiratet. Sie hatte immer ein Dach über dem Kopf. Sie wusste nicht, was Existenzängste sind – eine Arbeit haben zu müssen, um für Miete, Essen, Trinken und alle möglichen täglichen Verpflichten aufzukommen. Sie kannte den Druck nicht. Ich glaube, sie hat meinem Vater nicht das Gefühl gegeben, dass er mit ihr reden kann und sie zu ihm steht, sie ihn verstehen kann. Meine Mutter lief, wenn sie etwas wissen wollte, immer zu ihren Brüdern, und mein Vater stand auch da wie ein begossener Pudel. Das war sicher nicht einfach für ihn.

Wie dem auch sei, ich lernte in den letzten Jahren viel besser zu verstehen, was in meiner Kindheit eigentlich los war. Die beiden passten überhaupt nicht zusammen, mein Vater war ein sehr gefühlvoller Mensch und meine Mutter konnte keine Gefühle zeigen, sie wirkte immer unterkühlt. Nun, ich war ja auch schuld, dass sie ihn heiraten musste, das hatte sie mir doch mehrmals gesagt. Stammte daher bei mir das ewige Gefühl, an allem schuld zu sein? In meinem späteren Leben habe ich mir auch immer Situationen gesucht, bei denen ich ganz klar das schwarze Schaf war und auf mir alles abgeladen wurde. Ich war die Schuldige. Ich geriet immer wieder zwischen zwei Fronten, versuchte zu schlichten und stand zum Schluss als Buhmann bzw. -frau da.

 Auch Streitgespräche zwischen zwei Parteien konnte ich nie gut aushalten. Ich verspannte mich sofort, bekam teilweise richtig Angst und konnte damit einfach nicht umgehen. Vor allem, als ich keine Tabletten tagsüber mehr nahm, war das anfangs ganz ganz schwer für mich. Sogar in therapeutischen Gruppen hielt ich Disharmonien nicht aus. Manchmal stand ich einfach auf und rannte raus, oder ich wurde selber zunehmend aggressiv und brüllte los. Dann hieß es häufig, „sie spinnt mal wieder“ oder „sie muss wieder was geschluckt haben.“ Dass aber genau das Gegenteil der Fall war, konnte meine Umgebung nie verstehen. Eigentlich bin ich ein sehr toleranter Mensch, doch vieles im zwischenmenschlichen Bereich kann ich einfach nicht aushalten. Ob sich das nochmal ändert, weiß ich nicht. Wichtig ist, dass ich ohne Pillen und Alkohol leben kann, und da muss ich eben anderes in Kauf nehmen, so auch zur Not alleine zu leben.

Eigenartigerweise hatte ich in den Jahren, die ich wieder bei meiner Mutter lebte, immer nur die Jahre meiner Kindheit im Kopf. Die letzten 25 Jahre im Taunus waren zwar im Unterbewusstsein auch präsent, doch nur in Therapiegesprächen. Wenn ich bei meiner Mutter war oder mit ihr telefonierte, war das weit weg. Sie war in den Jahren wie eine Freundin zu mir gewesen, ich konnte sie immer anrufen oder eben zu ihr fahren. Sie hatte immer ein offenes Ohr für mich und so war es auch sehr harmonisch mit ihr. Doch warum war das auf einmal anders? Natürlich kam dazu, dass das Haus ihr gehörte, sie hat zwanzig Jahre alles allein entschieden, und so kam ich mir schon oft vor, wie das dumme kleine Mädchen von früher, und dagegen wehrte ich mich sehr.

Zum Glück hatte ich anfangs meine Arbeitsstelle in Kassel und meiner Mutter ging es soweit gut, dass ich sie den halben Tag alleinlassen konnte, ja sie sogar Bernie während meiner Abwesenheit in den Garten ließ. Leider war diese Arbeitsstelle ein kurzes Intermezzo, denn diese Krankenkasse entließ nach einem Jahr von Hundert neu eingestellten Mitarbeitern die Hälfte, und da war ich leider dabei. Das war wirklich schlecht für mich, denn hier in der Gegend gab es wenige Arbeitsstellen und im Servicebereich einer Versicherung überhaupt nicht.

Nun war ich ganz zu Hause – gut für meine Mutter, da sie sich im vergangenen Jahr den Oberschenkel gebrochen hatte, mehrere Wochen im Krankenhaus war und dann zu Hause nicht die ganze Zeit allein bleiben konnte. Ich fand eine Hilfe, die uns im Haushalt und auch meiner Mutter in meiner Abwesenheit half. Mit dieser Hilfe entrümpelte ich während ihres Klinikaufenthaltes die Küche von Quarkbechern und ähnlichen unsinnigen Gegenständen, ebenso die Speisekammer. Endlich konnte ich mich wenigsten etwas besser in der Küche bewegen. Ganz ausräumen und sie renovieren wollte ich nicht, dann hätte ich ihr den liebsten Raum genommen und meine Mutter wäre nie mehr in die Küche gegangen, um sich ein Brot zu schmieren oder mal ein Süppchen zu kochen. Ich legte ja auch nicht so viel Wert auf Küche.

Der Stress, zur Arbeit gehen zu müssen, war nun vorbei. Aber keine Arbeit mehr zu haben und nicht mehr jeden Tag raus zu müssen oder können und vor allem mich nicht mit einem Job aufwerten zu können, war anfangs ganz schlimm für mich. Ich merkte sehr schnell bei Verwandten und Bekannten, dass ich etwas mitleidig oder gar belächelnd angeschaut wurde. So ist wohl tatsächlich die weitverbreitete Meinung. Eine Frau, die nur zu Hause ist: Was ist das schon? Zu Hause sein und sich um seine Mutter kümmern, damit kann man überhaupt nicht glänzen. Mitgefühl und Menschlichkeit älteren oder schwächeren Menschen gegenüber wird leider nicht besonders groß geschrieben in unserer Gesellschaft, wenn die eigenen Lebensumstände dadurch beeinträchtigt werden, wenn man selbst auf etwas verzichten muss. Und da ich nie ein Außenseiter sein wollte, hatte ich ein gewaltiges Problem damit.

Damals bemerkte ich auch um mich herum, dass viele ihre alten Eltern regelrecht abschoben in ein Altenheim, sie waren wohl irgendwie in ihren schönen glänzenden Lebenssituationen im Weg. Auch diejenigen, die in großen Häusern lebten und einen alten Menschen wunderbar unterbringen konnten, schoben ihn lieber ab. Das fand ich von meinem Gefühl her einfach nicht richtig! Aber ich kam mit meiner Situation auch nicht klar. Keinen Partner, mit dem ich mich hätte aufwerten können… Gut, die Kinder waren erwachsen und studierten, das war ja etwas! Aber ich saß in dem Haus meiner Mutter, und das war nichts. Erst später sah ich das völlig anders und stand 100-prozentig zu meiner Entscheidung und würde es jederzeit wieder tun.

Als ich nun ganz zu Hause war, fing ich immer mehr an, mir Platz zu schaffen. Meine Mutter hatte vier große Kleiderschränke, die voll waren mit zum Teil sehr guten teuren Kleidern, Röcken und Mänteln, und auch vielem, was sie selbst genäht hat. Es durfte nichts weggeschmissen werden. Zwei Kleiderschränke standen im Keller, einer bei ihr und einer in meinen kleinen Zimmer. Das nervte mich gewaltig, ich hatte von mir so vieles weggeschmissen und mich störte einfach dieser alte Schrank, vollgestopft mit Sachen, die sie nie mehr anzog. Ich brauchte Wochen, um sie allmählich so weit zu kriegen, dass ich diese Sachen samt Schrank in den Keller stellen durfte.

So, das war schon mal geschafft! Dann hatten wir tagelange Debatten um ein paar Äste von einem Nussbaum im Garten, der den Satellitenempfang meines Fernsehers stark beeinträchtigte: „Mutti, wenn ich nicht endlich diese Äste abschneiden lassen darf, dann ziehe ich aus! Das ist ja wohl das Mindeste, dass ich fernsehen kann!“

Sie in einem jammernden, aber bestimmenden Tonfall: „An dem Baum dürfen keine Äste abgeschnitten werden, dann geht er ein.“
Ich ließ einen Fernsehmechaniker kommen, der sah sofort, dass diese Äste störten, stieg auf den Baum und säbelte kurz entschlossen die Äste ab. Oh je, ich hatte richtig Angst, danach ins Haus zu gehen! Aber meine Mutter hatte das gar nicht mitbekommen, Gott sei Dank! Der Baum ging auch nicht ein.

Ein Jahr später störte mich immer mehr ihre alte Rumpelkammer auf meiner Etage, vollgestopft mit alten Klamotten und regelrechtem Krimskrams. Da könnte ich doch wunderbar eine Dusche einbauen lassen, damit ich nicht immer ihr Bad benutzen müsste! Das gefiel mir auch überhaupt nicht. Bisher hatte ich schöne moderne Bäder gehabt, und hier musste ich ein altes, zum Teil vermodertes Bad benutzen, zumal auch noch zusätzlich Gegenstände darin waren, um das Duschen meiner Mutter etwas zu erleichtern. Monate habe ich auf meine Mutter eingeredet, bis sie endlich ihr OK gab. Es wurde wunderschön und ich war happy. Wieder hatte ich mir ein Stück erobert. Das war ein schönes Gefühl.

Meine Mutter war bis zu ihrem Tod geistig sehr rege und aktiv. Das war toll, nur dadurch wollte sie nach wie vor alles bestimmen und ich kam mir dann oft wirklich wie ein kleines Mädchen oder besser Dienstmädchen vor. Eine Putzhilfe hatten wir allerdings schon aus dem Grund, weil es jedes Mal Ärger gab, weil ich vollgestopfte Ecken beim Putzen entrümpeln wollte. Unsere Putzhilfe war da toleranter. Ihr konnte meine Mutter sagen, wie sie es wollte, und sie machte das dann auch genau so.

Einige Seiten vom Mauerwerk des Hauses ließ ich ebenfalls sanieren, sogar das ganze Haus wurde dabei gestrichen. Anschließend gefiel ihr das auch. Der Dachboden war nicht ausgebaut, die Ziegel nicht mal unterfüttert. Das hieß, es ging eine ganze Menge Wärme verloren und in dem Haus hatte ich schon immer im Winter gefroren. Ich sagte oft, das sei ein Sommerhaus. Es war in der warmen Jahreszeit auch wirklich wunderschön, doch im Winter eben kalt, und das Öl wurde auch nicht billiger. Also ließ ich den Boden isolieren. Dann schmiss ich die alten Tanks raus und ließ neue einbauen. Außentüren wurden ausgetauscht und sogar der alte Zaun erneuert. Und ich ließ mir in Omas früherem Gemüsegarten einen Carport bauen.

All diese Änderungen musste ich mir hart bei meiner Mutter erkämpfen. Für mich war das auch eine therapeutische Angelegenheit, denn so schaffte ich mir Raum und bestimmte mit, und das war für mich eine echte Leistung, denn sie ließ mir doch seit ewig keinen eigenen Raum. Umbauen, renovieren war mein Ding, das machte mir Spaß, und meine Ideen diesbezüglich waren nicht schlecht.

Inzwischen hatte ich auch einen – zugegeben – fiesen Trick, denn ich drohte ihr mit Auszug, wenn sie mir ihr OK verweigern wollte. Irgendwann sollte ich dann sogar das Haus überschrieben bekommen, doch das wollte ich nicht. Ich brauchte das Gefühl, Koffer packen und abhauen zu können, und das ging dann nicht mehr. Mir war es wesentlich lieber, dass ihr das Haus weiterhin gehörte.

Es gab zwischendurch immer Zeiten, wo ich tatsächlich am liebsten ausgezogen wäre, nicht nur wegen des ständigen Kampfes mit meiner Mutter, sondern weil ich von einer kleinen Wohnung träumte, die nicht so viel Arbeit machte. Außerdem war ich schon viel zu lange an einem Ort. Eigentlich hätte ich längst wieder etwas Neues machen müssen, aber ich brachte es nicht übers Herz, meine Mutter einfach allein zu lassen. Es gab ja auch sehr schöne Zeiten mit uns beiden, vor allem, wenn ich sie in mein Auto setzte und wir kleine Spritztouren unternahmen. Sie wurde da richtig jung und unternehmungslustig. Meine Mutter konnte sich herrlich über die Natur freuen, über Tiere auf der Weide. Sie inspizierte die bewirtschafteten Felder und freute sich buchstäblich über jeden Baum oder Strauch. Manchmal fuhren wir auch verbotene Wege durch Felder oder sogar durch Wälder, auch das machte ihr Spaß. Hinterher unterhielten wir uns darüber, was wir beide wieder angestellt hatten.

Oder wir fuhren in die Nähe zum Essen. Ich suchte Lokale aus, wo es keine Treppen gab und ich sie gut allein reinführen konnte. Laufen war schwer für sie – vor allem Treppen, und ich musste aufpassen, dass Mutter mir nicht hinfiel. Auch dieses Essengehen war immer richtig schön. Da zog sie sich auch jedes Mal schick an. Oder sie saß im Sommer vor der Haustür, ich werkelte im Garten und nach und nach kamen Nachbarn. Mein Cousin und wir erzählten und lachten, wie die Leute im Süden. Oft spielte ich ihr auch auf dem Klavier oder Akkordeon etwas vor, da war sie mein liebster Zuhörer. Richtig freuen konnte sich meine Mutter auch über ihre Musiksendungen im Fernsehen, da lebte sie auf, oder sie saß beim Reitturnier mit Zettel und Stift vor dem Bildschirm und ließ sich durch nichts aus der Konzentration bringen, da fehlte dann nur noch der Hut.

Wenn wir mal eingeladen waren, machte sie sich besonders schick, legte ihr Geschmeide an und war ganz Grand Dame. Man konnte mit ihr über alles reden, sogar über politische Ereignisse, wie zum Beispiel die Amtseinführung von Obama oder andere wichtige Ereignisse. Bei der Bundestagswahl 2009 war sie schon sehr schwach und trotzdem musste sie zum Wählen gehen, das hatte sie Konstantin am Telefon versprochen, das war wichtig.

Einmal habe ich ihr eine Sonnenfinsternis erklärt. Ich zeigte ihr mit mehren Bällen, wie sich die Planeten drehen und dass wir im Weltraum fliegen. Sie hörte gespannt zu und am nächsten Tag wollte sie trotz schönem Wetter nicht raus. „Mutti, was ist los, wir wollten doch wieder ein paar Schritte vor dem Haus laufen, nun komm.“
„Nein, ich habe keine Lust.“
„Aber wieso das nicht? Ist doch so schön draußen.“
„Ich bleibe lieber im Haus.“
Das ging noch eine ganze Weile so weiter, bis sie mir mit eingezogenem Kopf und ängstlichem Blick sagte: „Ich glaube, ich bin im Haus sicherer, sonst fliege ich noch weg.“ Ja, da hatte sie mein Vortrag über die Planeten voll verunsichert.
So gab es viele schöne Gespräche, auch mit Konstantin, der öfter im Ausland war und sich trotzdem telefonisch meldete, sich mit Oma unterhielt und ihr von dem jeweiligen Ort erzählen musste. Ebenso war es mit Melanie. Oder wenn die beiden mal zusammen hier waren, musste natürlich immer gespielt werden, meist „Mensch ärgere dich nicht“ oder „Uno“ (ein Kartenspiel). Ich ließ mich dann jedes Mal breitschlagen und spielte auch mit. Im letzten Jahr ihres Lebens hatten wir alle zusammen ein wunderschönes Weihnachtsfest. Mutter hatte sogar Klavier geübt und spielte Weihnachtslieder. Wir sangen oder spielten mit einem anderen Instrument mit. Es war ein wunderschönes Fest, und keiner hätte geglaubt, dass sie zwei Monate später stirbt.

Vor dem Tod hatte sie große Angst. Sie ist nie längere Zeit aus ihrem Heimatdorf weggewesen und als Kind schon mal gar nicht. Damals gab es hier einen Lehrer und einen Pfarrer, der die Kinder unterrichtete. Alles, was diese beiden Lehrpersonen den Kindern beibrachten, wurde geglaubt und nicht angezweifelt. Und so wurde früher auch viel von der Hölle geredet. Natürlich war das ein willkommenes Machtmittel. „Wenn du nicht artig bist, kommst du in die Hölle!“ Meine Mutter hatte genau davor schreckliche Angst und ich habe viele Stunden mit ihr darüber geredet, um sie ein wenig davon abzubringen.

Schlussendlich ist sie so schnell gestorben, als sie überhaupt nicht daran gedacht hat. Für sie war das sicherlich gut so. Die letzten zwei Jahre war sie allerdings immer bequemer geworden, weil sie schwächer wurde und sich immer schlechter bewegen konnte. Ich überlegte oft, wie das weitergehen sollte, wenn es noch schlimmer würde, denn ich war selber gehandicapt. Ich hätte sie nie heben oder Tag und Nacht parat sein können. Das war ich schon und hatte immer mein Telefon am Bett und nachts meine Tür auf, aber bis zum Schluss stand sie allein auf und ging allein zur Toilette, bis auf einige Ausnahmen. Nur dauerhaft hätte ich das nicht gekonnt. Für mich war es einfach schlimm, sie alt und gebrechlich dasitzen zu sehen, weil ich mich dann selbst in einigen Jahren sah, und das machte mir schreckliche Angst. Eine Zeit lang wäre ich am liebsten einfach weggelaufen, um meine Mutter nicht sehen zu müssen. Das tat mir dann aber wieder leid, wenn ich mich etwas abweisend verhielt.

Am schlimmsten war wohl für mich die Rollenverteilung. Immer war meine Mutter für mich da und hat mich versorgt. Schon als Kind durfte ich nichts im Haushalt tun, und als Jugendliche auch nicht. Sie hatte immer Angst, ich könne etwas kaputt machen. Und da meine Eltern wenig Geld hatten, war das umso schlimmer. Sie traute aber auch keinem etwas zu. Sie konnte alles am besten, das war auch bei meinem Vater so. Im Garten durfte er zum Beispiel nie etwas von den Bäumen abschneiden, dann schimpfte sie ihn aus. Sie war im Krieg für den ganzen elterlichen Hof verantwortlich gewesen und musste schon mit vierzehn Jahren den Haushalt für die ganze Familie schmeißen, weil die Mutter krank war, und so war meine Mutter eben später auch die Chefin, und was Arbeit anging, war ich total verwöhnt.

Wenn ich all die Jahre mich richtig erholen wollte, fuhr ich zu meiner Mutter und wurde rundum verwöhnt. Vor allem brauchte ich nicht kochen und bekam das schönste Essen mit Gemüse und Salat aus dem eigenen Garten. Und nun musste ich das alles selbst machen! Den Gemüsegarten gab es schon lange nicht mehr, aber alles andere. Das hatte ich überhaupt nicht überlegt und begriffen, als ich hierher kam. Dass ich meine Mutter umsorgen musste, das war mir damals einfach nicht klar. Sie ging ja auch noch in die Küche und kochte kleinere Gerichte und wusch natürlich auch ab. Doch nach ihrem Beinbruch wurde das schlagartig anders. Sie konnte einfach nicht mehr. Ich wusste das, und trotzdem lehnte ich mich oft innerlich dagegen auf und wurde manchmal richtig zornig. Hinterher entschuldigte ich mich wieder und sagte manchmal zu ihr: „Ach Mutti, warum bist du alt geworden? Wenn ich dir etwas übel nehme, dann das.“

Sie lachte dann immer und sagte: „Ach Mädchen, daran kann ich ja nun nichts ändern.“

Das wusste ich auch, aber wie sagt man so schön: Ich war mal wieder in meine eigen Falle getappt. Was allerdings wirklich sehr schwer für mich war, waren ihre negative Einstellungen. Bei ihr konnte immer und überall etwas passieren. „Pass auf“, das waren die Hauptwörter meiner Kindheit. Jetzt war sie alt und genau diese Charaktereigenschaft wurde immer heftiger. Ich hatte ja ursprünglich genau dieses Muster von meiner Mutter übernommen und in vielen Jahren auch Ängste regelrecht abtrainiert, und nun saß da meine Mutter und zog mich ständig dort wieder hinein, doch genau das wollte ich nicht. Sie war damit alt geworden, für mich jedoch konnte das tödlich sein. Ich nahm dann wieder mehr Pillen und dann? Das war ein schlimmer Kampf. Egal, ob ich sagte, das Wetter ist schön, die Sonne scheint. Bei ihr gab es dann gleich wieder Regen. Sie hatte immer auf eine positive Aussage einen negativen Einwand. Manchmal merkte ich, wie ich innerlich am Runterrutschen war und rannte nur raus. Bloß weg! Nach kurzer Zeit kam ich zurück, da tat es mir wieder leid. Sie war doch alt und konnte es nicht mehr ändern. Als ich dann auch ganz zu Hause war und keinen Job mehr hatte, wurde das regelrecht dramatisch für mich. Da war ja niemand, der mich positiv motivierte. Allerdings meine Mutter jetzt, wo sie mich wirklich brauchte, deshalb allein zu lassen, das konnte ich nicht.

Sehr geholfen haben mir immer wieder die Natur und Bernie. Wenn ich draußen spazieren ging, pendelte ich mich innerlich wieder ein, ich liebte die wunderschöne Landschaft meiner Heimat und war immer wieder von diesen hügeligen, richtig romantisch geformten Bergen begeistert. Das ist sicherlich schon in meiner Jugend angelegt worden, denn mit meinem Vater bin ich viel draußen gewesen, da fühlte ich mich auch richtig wohl.
Leider wurden meine Knie immer schlimmer und ich konnte nicht so viel laufen, wie ich wollte. Doch ich sagte mir dann, meine Suchtkarriere hat mich nicht klein gekriegt, die Gelenke werden es auch nicht! Dann lief ich wie verbissen trotz Schmerzen. Jeden Morgen setzte ich mich auf mein Heimfahrrad, fuhr ein paar Kilometer, dann machte ich bestimmte muskelaufbauende Krankengymnastik – das Ganze mit Musik. Immer musste ich erst eine Hürde überwinden, bevor ich mich ans Trainieren machte, doch wenn ich erst einmal zehn Minuten Fahrrad gefahren war, ging es leicht und es machte mir sogar Spaß, so dass ich gar nicht mehr aufhören wollte und bald zwei Stunden dabei war.

Anfangs war ich in einem Fitnessstudio, doch dieses ständige Dahinfahren zu bestimmten Zeiten war nicht meine Sache, und meist war die Luft stickig. So trainierte ich daheim und konnte das Fenster aufmachen, wann ich wollte und die Musik hören, die mir gefiel. Außerdem kam ich mir beim Fitnessstudio vor, als wenn ich in eine Folterkammer käme.

Zum Training noch eine entsprechende Ernährung, und meine Gelenke wurden wesentlich beweglicher und meist sogar schmerzfrei. Anfangs hatte ich zu Hause immer noch versucht, irgendwo eine neue Arbeitsstelle zu finden, doch leider ohne Chance. Einige Zeit telefonierte ich für Unternehmen von Zuhause aus, aber leider war das meist nur für kurze Zeit, dann wurde das wieder eingestellt. Da ich ohnehin schon mehrere Jahre einen Schwerbehindertenausweis hatte, reichte ich die Frührente ein und aufgrund meiner nervlichen Verfassung wurde sie mir auch gewährt. Da ich fast fünfzehn Jahre während der Familienpause überhaupt nicht gearbeitet hatte, fiel die natürlich nicht hoch aus. Aber hier brauchte ich keine Miete zahlen und meine Mutter war gut versorgt. Weil ich mich um sie kümmerte, sparten wir das Altenheim. Um hin und wieder unter Menschen zu kommen, fuhr ich samstags nach Göttingen in ein Meeting, und manchmal ein Gespräch mit einem Therapeuten, damit ich ein wenig Beistand hatte.

Ich besuchte Kurse in der Volkshochschule und eine Malschule. Irgendwann hatte ich mich an das Rentnerdasein gewöhnt. Zu tun gab es genug, Langeweile kam keine auf. Sehr geholfen hat mir natürlich auch Bernie. Manchmal hatte ich keine Lust, morgens aufzustehen, dann kam er, sprang am Bett hoch, schaute zur Tür, als wenn er sagen wollte: „So Frauchen! Zeit zum Aufstehen, ich muss raus.“ Da hatte ich keine Chance und der Tag begann.
Sehr traurig wurde es, als Bernie vierzehn Jahre alt war, krank wurde und innerhalb von ein paar Wochen starb. Ich weiß nicht, wann ich mal so viel Tränen vergossen habe wie an dem Tag. Es lief nur so aus meinen Augen. Bernie war in meinem unruhigen Leben die einzigste Konstante gewesen: Beziehungen kamen und gingen, Jobs ebenfalls, und die ständigen Umzüge… Doch Bernie war immer dabei und sein Leben beinhaltete die gesamte Zeit, die ich mit meinen Kindern vorwiegend allein war. Das war nun alles zu Ende. Oft habe ich gestöhnt und auch geschimpft, dass ich immer an den Hund denken musste, nie einfach mal wegfahren konnte, ohne vorher mit ihm zu laufen. Fuhr ich mal zu Bekannten oder zu meinen Kindern, musste der Hund in einer Pension untergebracht werden, und meine Mutter in einem Altenheim. Oft habe ich darüber gestöhnt, doch es war alles in allem ein Segen, dass Bernie da war, denn er zwang mich, nicht in irgendeiner Ecke sitzen zu bleiben. Der Hund musste raus und ich kam immer mit besserer Laune von einem Spaziergang wieder, als ich weggegangen war. Er war ein richtiger Halt. Und nun war er weg.
Raus ging ich nur noch zum Einkaufen oder wenn ich einen Termin hatte. Allein durch die Natur laufen tat ich nur ganz selten. Sicher war der Druck auch weg, doch einfach wegfahren konnte ich wegen meiner Mutter ohnehin nicht. Überall im Haus fehlte er, keiner, der um die Beine rumwuselte, es war so unsagbar still, er fehlte. Eigentlich hatte ich immer gesagt, nach Bernie will ich keinen Hund mehr, da ich ohnehin nicht so weit mehr laufen konnte, aber das hielt ich kaum aus. Ein altes Haus mit einer alten Mutter, das zog mich richtig runter, und ab und zu saß ich am PC und schaute mir Cockerspaniel im Internet an. Eine Katze wäre auch nicht schlecht gewesen, doch Melanie hatte eine Katzenallergie, und somit ging das nicht. Oder einen kleinen Hund, Zwergdackel oder so? Doch das fanden meine Kinder blöd. Einmal Cocker, immer Cocker!

So kam Weihnachten 2007 wieder ein Hund in unser Haus. Natürlich ein Cockerspaniel, vierzehn Wochen alt, und ich musste ihn erstmal stubenrein bekommen. Das war keine leichte Angelegenheit, denn diesmal war ich damit allein, Oma konnte ja nicht mithelfen. Fast hätte ich aufgegeben und ihn wieder weggebracht, immerhin habe ich in vier Wochen einige Pfund abgenommen: immer die Treppe hoch und runter, bis er es irgendwann kapiert hatte. Außerdem merkte ich ziemlich schnell, dass das kein alter Hund war, sondern er unglaublich viel Power hatte. Nun, das hatte ich wieder einmal nicht bedacht. Libero oder Libo, so heißt er, ist jetzt zwei Jahre hier und ich bin sehr froh, dass ich ihn habe. Oma hat ihn anfangs total abgelehnt, aber nach einiger Zeit wurden sie die besten Freunde. Sie hatte noch viel Spaß mit ihm, ja es war wieder Leben um uns herum, das war gut so.
 
Ganz allein

Es ist jetzt ein Jahr her, dass meine Mutter gestorben ist. Sie fehlt mir jeden Tag, das hätte ich nie geglaubt. Der Tod meines Vaters war nicht ganz so schlimm für mich, da er lange krank war und die letzten zwei Jahre in einem Pflegeheim. Er hatte Alzheimer und ich empfand es für ihn als eine Erlösung, als er sterben durfte. Meine Mutter war bis zu ihrem Tod völlig klar im Kopf, und noch die Tage vor ihrem Tod haben wir uns toll unterhalten. Meine ersten Lebensjahre hatte ich es sehr schwer mit ihr, doch später war sie immer wie eine gute Freundin zu mir.

Jetzt gehe ich auf den Friedhof, um mit ihr zu reden. Vielleicht sieht sie mich oder antwortet mir auch, doch sehen und hören kann ich sie nur in meinem Herzen. Jetzt bin ich gezwungen, alleinsein zu lernen, eine Freiheit, die ich nie kannte, aber auch immer gefürchtet habe. Ich werde jetzt sehr aufpassen, dass ich mich nicht wieder in ein Gefängnis setze. Vielleicht hat mich das Leben hier in meine Heimat in mein Elternhaus geführt, damit ich meinen Innenausbau zu Ende bringe. Hier hat alles begonnen, hier habe ich mich verloren und später nicht wieder gefunden. Wie bei dem Hausbau habe ich jetzt Zeit und Ruhe, die fehlenden Innenverstrebungen wachsen zu lassen, die Leere mit einem guten Fundament und einer schönen Wohnung für meine Seele auszustatten. Vielleicht kann ich sogar eines Tages ganz normal schlafen, wenn ich meine innere Geborgenheit gefunden habe und nicht mehr vor Gefühlen weglaufe, sogar Schmerz und Trauer fühlen und akzeptieren kann und nicht glaube, dass ich es nicht aushalte. Inzwischen denke ich, dass wir nur so viel aufgeladen bekommen, wie wir tragen können. Doch wir Menschen wollen immer mehr, und dann brechen wir zusammen. Ich mache inzwischen innerlich Shopping, so brauche ich im Außen nicht ständig den auferlegten Wertvorstellungen meines Umfelds nachlaufen.

Cooper hat oft gesagt: „Sie haben keine Beziehung zu sich selbst, die müssen Sie aufbauen.“ Damals wusste ich nicht, was er meinte. Auch den folgenden Vergleich verstand ich nicht: „Das Leben ist wie ein großer gedeckter Tisch mit wundervoll schmeckenden Speisen, aber auch bitteren oder scharfen Gerichten, doch Sie stehen daneben und verhungern.“ Klar, wenn ich alle Geschmacksnerven abtöte… Um meinen Hunger an Gefühlen zu stillen, stopfte ich mich mit Essen voll, damit ein wenig von der Leere verschwindet. Dann war ich voll mit allem möglichen Zeugs, was ich gar nicht brauchte und holte es wieder raus. Was ein Dilemma!

Von Tieren kann man sich ebenfalls eine Menge abschauen. Irgendwie ist bei ihnen alles so klar, sie beschränken sich auf das Wesentliche. Uns Menschen ist ganz oft der Verstand im Weg. Mein Kopf sah immer Dinge, die er dann auch wollte: so sein, wie andere Menschen, das tun, was andere tun und nie habe ich mein Inneres gefragt, ob es damit einverstanden war und es auch kann.

Wenn ich heute mal in der Stadt bin und die hetzenden Menschen an mir vorbeilaufen sehe und in ihr Gesicht schaue, dann ist da oft ein unruhiger, abgehetzter Blick. Manchmal bin ich Menschen begegnet, die ein unglaublich schönes Leuchten in ihren Augen hatten, ein richtiges, ruhiges Strahlen. Das können nur Menschen sein, die ein schönes Zuhause in sich haben, wo sie sich zurückziehen und geborgen sind. Wenn ich aber nur rumrenne, alles haben will in einer lauten, oft stinkenden, voller Reizen überfluteten Stadt, wie soll ich mich da finden?

Oft habe ich mich gefragt, was habe ich an lebenswichtigen Dingen von meinen Eltern gelernt? Nie hatte ich etwas gefunden. Immer habe ich gesagt, von meiner Mutter habe ich nur Angst und Schrecken gelernt! Heute sehe ich das etwas anders. Bei allem, was sie tat, ob beim Kochen, im Garten oder beim Nähen, war sie immer in ihrer Arbeit ganz dabei. Selbst die einfachsten Handlungen bekamen ihre ganze Aufmerksamkeit! Ich konnte das nie, ich wollte immer mehr, immer wieder etwas anderes, es war mir nie genug.

Mein Vater brachte mir schon früh die Schönheit der Natur nahe. Als Kind fand ich das natürlich oft langweilig, stundenlang durch Wald und Felder zu laufen. Heute gibt es nichts Schöneres für mich. Inzwischen kann ich auch verstehen, wenn Menschen stundenlang dasitzen und meditieren. Für mich früher undenkbar, zu sitzen und still sein: unmöglich!

Oft habe ich in den letzten Jahren ansatzweise selbst schon erlebt, welche Zufriedenheit und Mit-sich-eins-sein man dabei erleben kann. Eine unglaubliche Stille mit einem wundervollen strahlenden Licht und einer grenzenlosen Liebe. Wenn man die Sonne durch eine dunkle Scheibe betrachtet, kann man das Pulsieren des Lichts sehen. So denke ich, sollte es auch bei einem Menschen sein – innerlich einen Akku oder besser einen großen Diamanten zu haben, dann ist man wertvoll und kann strahlen. Man kann sich äußerlich alles voller Gold und Diamanten hängen, wenn sie verloren gehen, strahlt nichts mehr.

Lange habe ich nicht gewusst, was ich hier soll – sicher, meiner Mutter helfen, aber ansonsten ist hier doch nichts los, wie meine Kinder sagen. Jetzt weiß ich aber, dass hier ganz viel los ist, denn hier ist meine Heimat und hier setzte ich den Rest von mir zusammen. Ich habe wundervolle liebe Menschen getroffen, die mir in den letzten Jahren sehr viel Mut gemacht und mir bei meiner Suche geholfen haben. Heute brauche ich nicht mehr auf meine Eltern zu schimpfen, sondern ihnen danken, dass sie mir sehr viel Wertvolles gezeigt haben. Ich habe es aber nie gesehen. Mein Kopf hat mir immer vorgegaukelt, was ich haben wollte, und wenn ich das nicht bekam, dann wollte ich im schlimmsten Fall nicht mehr leben. Der Verstand und das Denken sind sicher sehr wichtig, nur sollten sie sich mit dem Bauch abstimmen. Bei mir führte der Kopf ein Eigenleben und hat den Bauch völlig unterdrückt. Wenn beide zusammen eine Einheit bilden, dann bin ich fertig mit meinem Hausbau.

Alles in allem war es bisher ein sehr reiches Leben, reich an vielen Erfahrungen und Prüfungen. Ich bin sehr dankbar und auch ein wenig stolz darüber, dass ich so vieles lernen durfte und die besten Schutzengel hatte – wohl wirklich einen Vater im Himmel, der mir immer zur Seite stand und es auch weiterhin tun wird. Wie heißt es doch in einem Sprichwort? „Gott gebe mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, und den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das Eine vom Anderen zu unterscheiden.“