Hausbau

Michael wollte in eine andere Wohnung ziehen, möglichst in ein Haus. Wir hatten uns überlegt, dass es schön wäre, wenn Melanie endlich bei uns sein könnte, und dazu war die Wohnung zu klein. Ich besuchte sie zwar regelmäßig, auch mit Michael, aber ich hatte sie nie bei mir gehabt, und meine Mutter wurde auch immer älter. Es war für mich immer schon traurig gewesen, Melanie nach einem Besuch wieder zu verlassen, und mit Michael war es inzwischen eine feste Beziehung geworden – auch verstanden sich die beiden sehr gut. Nur die Wohnung war für drei Personen zu klein.

Wir schauten uns in der Umgebung Häuser an, doch so richtig gefiel uns keines. Da entschieden wir uns, selbst ein Haus zu bauen. Wir erstanden einen günstigen Bauplatz im Hintertaunus und der Grundstein wurde gelegt. Mein Vater hatte einiges Geld gespart und beteiligte sich an dem Unternehmen. Er hatte schon lange vorgehabt, mir eine Wohnung zu kaufen, als Geldanlage – nun dann eben so.

In den AA-Meetings wurde u.a. gesagt, dass man nach einem Entzug möglichst ein einfaches Leben ohne Selbstständigkeit oder Hausbau leben sollte, um sich nicht zu sehr zu belasten. Nur für mich galten diese Regeln nicht, glaubte ich immer. Die alten Verhaltensmuster – irgendwie alles hinzukriegen, notfalls eben mit Tabletten – funktionierten immer noch. Ich überforderte mich ständig und merkte es noch nicht einmal. Ich ging zwar regelmäßig in die Gruppe, doch vieles, was dort gesagt wurde, galt für mich nicht, ich war ja ohnehin kein richtiger Alkoholiker, dachte ich oft. Sicher, ich kannte viele Formen des Alkoholismus nicht, doch süchtig ist süchtig, egal ob nach Alkohol, Tabletten, anderen Stoffen oder auch Verhaltensweisen. In dem Moment, wo irgendetwas meine Gedanken ständig beeinflusst, sodass ich kaum an etwas anderes denken kann, stimmt etwas nicht mit mir. Aber ich wollte ja schon immer nicht abseitsstehen, sondern alles, was zum „normalen“ Leben gehört, mitmachen. Das war mein Fehler. Und da ich genau das nie kapieren, vor allem auf nichts verzichten wollte, gab es immer wieder – auch nach meiner letzten Langzeitkur – kleine Rückfälle. Allerdings habe ich es bis heute geschafft, nie mehr in einer Psychiatrie eingewiesen zu werden.

Die speziellen Tabletten, die mir damals meine Neurologin gab, halfen wirklich gut. Ich hatte auch kein schlechtes Gewissen deshalb, sie hatte sie mir ja verschrieben und sie wusste um meine Suchtanfälligkeit. Leider wurde ich auch von diesem Mittel abhängig und brauchte immer mehr, und irgendwann musste auch dieses gegen ein anderes ausgetauscht werden – wieder eines, das nicht süchtig machen sollte…

Eines hatte ich zumindest im Griff: Ich verlor nie mehr die ganze Kontrolle und nahm immer nur abends von diesen Stoffen. Gab es bisweilen Unstimmigkeiten in meiner Partnerschaft, trank ich auch mal Alkohol. Disharmonie aushalten konnte ich nicht, obwohl ich oftmals Streit provozierte, völlig irrational, doch dann hatte ich es in der Hand, unter meiner Kontrolle: ein Verhalten aus meiner Kindheit, wenn ich den Streit zwischen meinen Eltern auf mich lenken wollte. Trotzdem war alles besser, als allein zu leben, das konnte ich überhaupt nicht, obwohl Michael mit seinen äußeren Ansprüchen mir oft ganz schön zu schaffen machte. Er war in der Modebranche tätig und musste schon von Berufswegen auf Äußerlichkeiten bedacht sein, doch sein Lebensstil war für mich einfach zu schwierig. Ich hatte schon Probleme mit dem ganz einfachen Leben, und dann noch auf so viele Dinge im Außen achten! Das war zu viel für mich, aber ich glaubte immer, dass ich das schaffen würde. Ich zog mich auch mal gerne schick an, doch am wohlsten fühlte ich mich nun mal in Jeans und Pulli. Jahrelang bin ich in Kliniken im Kittel rumgelaufen, da hat keiner auf ein schickes Outfit geachtet. Und jetzt sollte ich plötzlich modebewusst aussehen – am besten 24 Stunden um die Uhr.

Interessant ist, dass ich in der Hauptschule wegen meiner Kleidung, die mir meine Mutter verpasst hatte, gehänselt worden war, und dann suchte ich mir einen Mann aus der Modebranche, der meistens auch etwas an meiner Kleidung auszusetzen hatte! Und vor allem, er beobachtete mich oft, dass ich auch ja keinen Fehler machte, z.B. bei Tisch. War ich etwas zittrig, was nach einer schlaflosen Nacht häufig vorkam, und mir fiel etwas hin, verschüttete etwas oder kleckerte nur, wies mich Michael mit einer manchmal für mich abfälligen Bemerkung und der dazugehörenden Mimik zurecht. Oder er verbündete sich mit jemand, der anwesend war, als wolle er sagen: „Meine Güte, sie kann noch nicht mal vernünftig essen. Wie kann man nur…“ – und das in einem grinsenden Tonfall. Sicher meinte er es nicht so, und man sagte mir auch, ich solle diese Bemerkungen einfach ignorieren, nur ich konnte das überhaupt nicht aushalten, unterbewusst erinnerte mich das an meine Volksschulzeit, als Mitschüler grinsend um mich herumstanden und mich auslachten. Natürlich war mir das in den Momenten nicht bewusst, aber ich reagierte regelrecht panisch darauf und rastete manchmal total aus. Und schon hatten wir den größten Streit.

Ein späterer Therapeut, von dem ich viel gelernt habe, hat mir mal gesagt, dass man viele Dinge aus der Kindheit im späteren Leben wieder sucht, um sie immer wieder nachzuspielen, bis man die Rolle irgendwann satthat und von der Bühne als Schauspieler abtritt. Man sucht auch die dazugehörigen Menschen. Meistens ist uns das nicht bewusst, lässt man aber sein Leben Revue passieren und betrachtet es von außen wie ein Zuschauer, wird vieles Unverständliche klar und ergibt einen Sinn. Manchmal spielen wir eine traurige oder schmerzhafte Rolle das ganze Leben lang, weil wir ein schlimmes Gefühl immer wieder haben wollen. Das ist dann masochistisch oder eben auch einfach nur vertraut, so wie ein Gefängnis vertraut und sicher sein kann. Freiheit, Freude und Wohlbefinden sind mir nicht geheuer und machen sogar Angst, sodass ich dann unbewusst diese schönen Gefühle wieder kaputtmache. Da war ich ein echter Meister drin, nur damals konnte ich das alles noch nicht sehen und somit auch nicht ändern.

Wir bauten also unser Haus, was auch wirklich sehr schön wurde, und zogen nach einem Jahr ein. Jetzt konnten wir Melanie holen, und das taten wir in einer richtigen Nacht- und Nebelaktion, denn Melanie wollte nicht wirklich mit mir leben, sie fühlte sich bei Oma sicher und aufgehoben – wie sollte das mit ihrer chaotischen Mutter werden? Zu Michael hatte sie damals Vertrauen, und so packten wir sie ins Auto und nahmen sie mit. Meine Mutter war natürlich schwer sauer und machte einen Riesenaufstand. Ich verstand das damals überhaupt nicht, aber wirklich nüchtern und realistisch habe ich vieles in meinem Leben nicht gesehen. Ich wollte nur einfach endlich meine Tochter bei mir haben. In der AA sagt man, dass die wirkliche Nüchternheit erst nach vielen Jahren Abstinenz kommt.

Für Melanie fing wieder eine schwere Zeit an. Sie hatte jetzt zwar ihre Mutter und einen Ersatzvater, also eine richtige kleine Familie, doch Oma und Opa waren weit weg, und Freundinnen hatte sie nun auch keine. Alles war fremd für sie, und zu Hause war es auch nicht gerade einfach. Ich arbeitete noch in Bad Nauheim, ca. 24 km von unserem neuen Wohnort entfernt, Michael war ständig unterwegs und Melanie in einer fremden Umgebung ohne Freunde und Bekannte. Außerdem wurde das gute Verhältnis zu Michael schlagartig anders, denn Melanie sollte nun auch auf viele Äußerlichkeiten achten, was sie von Oma nicht gewöhnt war. Ständig Schuhe ausziehen, und wehe, da war Dreck darunter! Niemals an die Wände fassen oder irgendwo im Laufen essen und dann Krümel verteilen! Immer nur aufpassen, aufpassen – und diesmal nicht auf ihre Mutter, sondern auf die vielen Sonderwünsche ihres Ersatzvaters. Ich schaute nur noch auf den Boden, ob nicht tatsächlich irgendwo ein Fußtritt zu sehen war. Das war für uns beide eine sehr schlimme Zeit.

Melanie wäre gerne wieder zu Oma gefahren. Sie ging in Usingen in die Förderstufe und musste jeden Morgen und mittags mit dem Bus fahren. Irgendwann hatte sie auch Freundinnen, doch das dauerte lange, denn wenn tatsächlich mal ein Mädchen mit im Haus war, verschwand es meist sehr schnell wieder, wenn Michael auf der Bildfläche erschien und genau darauf achtete, dass ja nichts mit ungewaschenen Fingern angefasst wurde.

Melanie saß einmal auf der Treppe, war furchtbar traurig und sagte: „Mama, wie soll ich denn in der Schule aufpassen, wenn ich hier zu Hause schon auf so viele Dinge achten muss!“ Sie tat mir unglaublich leid, was hatte ich nur wieder angestellt? Melanie fühlte sich bei uns nicht wohl. Die einzige Freude, die ich ihr machen konnte, war, sie sportlich zu unterstützen. Sie spielte schon gern Fußball, auch mit den Jungs im Ort, die sie bald voll integrierten, und Melanie fing an, sich mehr und mehr für Leichtathletik zu interessieren. Anfangs fuhr ich sie in benachbarte Sportvereine, doch bald fuhr sie allein mit dem Fahrrad oder Bus dorthin. Ich förderte sie, wo ich konnte, denn sie brauchte etwas, womit sie sich richtig wohlfühlen und Frustrationen abbauen konnte und sich zu etwas zugehörig fühlen. Sie interessierte sich am meisten für Speerwerfen und Kugelstoßen und hat es später bis zur Deutschen Meisterschaft gebracht und viele Urkunden bekommen.

Das Reformhaus, in dem ich arbeitete, wurde zugemacht, und somit verlor ich meinen Arbeitsplatz. Eine Zeit lang war ich zu Hause, aber das gefiel mir nicht. Ich fand eine Tätigkeit, für eine Firma in Reformhäusern Brot zu backen und damit den dazugehörigen Ofen und natürlich die Brotmischung anzubieten. Grundsätzlich war das eine interessante Tätigkeit, nur war ich ständig unterwegs in Orten, die weiter weg waren, und musste dort auch übernachten. Das lief dann natürlich wieder schief, weil meine Versagensängste oder soziale Phobien wieder stärker wurden und ich auch tagsüber Beruhigungsmittel brauchte, nur um dieses In-der-Öffentlichkeit-Stehen, Vorträge halten, etwas vorführen anders nicht zu bewältigen war. Ich konnte es ja bestens, meine fachliche Kompetenz war auch in der Reformhausbranche wirklich sehr gut. Ich hatte nur immer diese Angst, es eben nicht zu können, und dazu an den Abenden vermehrt Schlafschwierigkeiten. Ausgehen ohne meinen Mutmacher Alkohol ging überhaupt nicht, und da ich keinen trinken wollte, konnte ich nicht ausgehen und blieb zu Hause. Dabei fühlte ich mich aber auch nicht wohl, weil ich schon gern mit Kollegen ausgegangen wäre: ein schöner Job, aber leider eben nichts für mich! Um nicht wieder abzurutschen, gab ich diese Tätigkeit auf und suchte etwas Neues.

Langzeitarbeitslosigkeit wäre für mich nichts denkbar gewesen, in dieser Beziehung war ich wirklich immer auf Zack. Einen Job weg, und schon hatte ich den nächsten und hab dadurch sehr viel Wissen, auch in anderen Bereichen, erworben.

Eines Tages bekam ich vom Arbeitsamt ein Stellenangebot in Bad Nauheim in einer Klinik für ein paar Monate, eine Diätassistentin zu vertreten. Obwohl ich nun schon längere Zeit in keiner Klinik gearbeitet hatte, nahm ich die Stelle an. Es war zwar eine Tätigkeit in einer Küche, aber es gefiel mir trotzdem. Ich arbeitete mich richtig gut ein und wurde auch bald von den Mitarbeitern geschätzt und war bald traurig, dass diese Stelle leider befristet war. Vielleicht hatte ich deshalb auch weniger Bedenken, es nicht zu schaffen – auf alle Fälle wurde es eine meiner erfolgreichsten Tätigkeiten überhaupt in meinem Berufsleben. In der Hauptsache war ich für die Diätküche zuständig, ging auf Station und beriet Patienten, und wenn es sein musste, half ich sogar dem Küchenpersonal bei ihren Arbeiten. Mir fiel auch auf, dass diese Küche nicht richtig strukturiert war, und gab das an die Personalabteilung weiter. Als ich leider gehen musste, wurde ich von allen freundlich verabschiedet und bekam ein sehr gutes Zeugnis.

Dann war ich wieder zu Hause… Was sollte ich jetzt tun? Langweilig wurde es mir nicht gerade, ich hatte mich um Haus und Garten zu kümmern, um meine Tochter und um Michael. Eigentlich war ich ausgefüllt, doch es trieb mich weiter. Ich wollte nie nur Hausfrau sein, da hatte ich das Gefühl, keine Anerkennung zu bekommen. Ohne Bestätigung von außen, und sei es nur durch mein monatliches Gehalt auf dem Konto, hatte ich immer noch im Inneren das Gefühl, nichts wert zu sein. Da mich Medizin schon immer sehr interessiert hatte und ich ursprünglich gerne studiert hätte, überlegte ich mir, eine Heilpraktikerschule zu besuchen. Ich fing also mit einem Wochenendkurs an und war hellauf begeistert. Das war mein Ding! Dem Unterricht konnte ich bestens folgen, war wie so oft die Beste und stellte mir schon in meinen Gedanken vor, wie es sein würde, eine eigene Praxis zu habe.

Da wurde ich plötzlich von der Klinik in Bad Nauheim angerufen und gebeten, dort vorzusprechen. Die Diätassistentin, die ich einige Monate vertreten hatte, war tragischerweise ums Leben gekommen, und nun musste die Stelle neu besetzt werden. Dort hatte es mir gefallen und es war keine Frage, dass ich wieder hin wollte, aber diese Heilpraktikerschule gefiel mir auch. Was machte ich also? Weil ich immer glaubte, alles zu schaffen, nahm ich die Stelle an und ging weiter zur Schule. Das hieß, ich hatte kein Wochenende mehr frei. Vierzehntägig musste ich in der Klinik auch samstags und sonntags arbeiten, und das andere Wochenende im Monat fuhr ich zur Schule. Natürlich hatte ich dann zu Hause kaum Zeit, es blieb viel liegen, ich war ständig gereizt und meine Schlafprobleme wurden wieder massiv. Michael hatte natürlich auch von seiner Partnerin nicht viel und orientierte sich anderweitig. Es kam sogar so weit, dass er sich trennen wollte. Das ging aber überhaupt nicht, was sollte ich denn meinem Vater sagen? Er hatte sich an dem Haus finanziell mitbeteiligt. Es ging hin und her, ich gab schweren Herzens die Schule auf, obwohl ich ein halbes Jahr später die Prüfung hätte machen können, aber das Geldverdienen war mir wichtig. Irgendwann pendelte sich unsere Partnerschaft wieder ein und Melanie war natürlich auch froh, dass ihre Mutter öfter zu Hause war.

Damit mein Leben sich ja nicht ruhig einpendelte, wurde ich plötzlich, ganz unverhofft wieder schwanger. Eigentlich wollten wir beide kein Kind mehr, und überhaupt sollte angeblich mein Mann laut eines Klinikberichts zeugungsunfähig sein – und ich jetzt doch schwanger? Ich war ja nicht gerade die Supermutter, hatte genug mit mir zu tun, und ich hatte bereits eine Tochter. Trotz Verhütung war es passiert. Was nun? Michael überließ es mir, mich dafür oder dagegen zu entscheiden. Tage- und nächtelang überlegte ich, doch es war wie bei Melanie: Ich konnte mich nicht dagegen entscheiden, und so wollte ich das Kind bekommen! Als die Entscheidung gefallen war, freuten wir uns beide und Melanie ganz besonders. Da ich zu dem Zeitpunkt schon 38 Jahre alt war, ließ ich eine Fruchtwasseruntersuchung machen. Es war alles in Ordnung und man sagte mir auch, was es werden würde. Ich hielt bis zur Geburt dicht und erzählte niemanden, dass es ein Junge werden würde. Wieso bekam gerade ich zwei Kinder, eines trotz Pille und eines, weil angeblich der Vater zeugungsunfähig war? Hat da vielleicht jemand von oben dran gedreht? Die Existenz meiner Kinder hat mir tatsächlich am meisten geholfen, auf den richtigen Weg zu kommen.
Lange bevor ich überhaupt schwanger war, träumte ich von der Geburt meines Sohnes. Es war wieder einer dieser Träume, die anders waren, so wie gelebte Wirklichkeit. Ich hatte Michael davon erzählt, und als ich dann tatsächlich schwanger war, ging es darum, würde ich eine richtige Geburt haben oder wieder einen Kaiserschnitt? Medizinisch gesehen waren die Ärzte einstimmig gegen eine normale Geburt, nur ich hatte sie ja im Traum schon erlebt. Also was würde wohl stimmen? Wer bekam recht? Das interessierte sogar meinen Mann.

Die Schwangerschaft verlief wieder bestens. Wie schon bei Melanie, konnte ich auf Zigaretten, Alkohol und andere Tabletten verzichten. Von meinem Frauenarzt bekam ich allerdings Valium verschrieben für Notfälle. Dieses Mittel würde keine Schäden bei dem Kind verursachen, sagte er, und für Notfälle brauchte ich etwas. So kam ich zu Valium, was ich bisher nie genommen hatte.

Warum konnte ich in einer Schwangerschaft, wenn es um mein Kind ging, auf krankmachende Substanzen verzichten? Vielleicht, weil ich auf keinen Fall ein Kind schädigen wollte, zumal mein eigenes, oder auch, weil es nicht um mich ging. Gutes für mich tun – irgendwie konnte ich das nicht! Ich schaute immer nach außen: Was machen andere? Womit stehe ich nicht abseits? Wie kann ich Geld verdienen, wie kann ich mich aufwerten? Das ging nur durch äußere Leistung, so dachte ich damals, doch bewusst war mir das nie.

Ein ganz wichtiger Meilenstein in meinem Leben war mein wichtigster und langjähriger Therapeut, den ich damals durch Zufall fand. Ich hatte immer mal ein paar Sitzungen bei einem Psychologen gehabt, aber es ging nicht über die Probesitzungen hinaus, weil ich nie das Gefühl hatte, das sei jetzt der Richtige, von dem kann ich etwas lernen. Also ließ ich es ganz und ging mehr oder weniger regelmäßig in AA-Meetings. Da fühlte ich mich aber auch nie so ganz zugehörig, da ich damals der Meinung war, mit Alkohol nie richtig abgestürzt zu sein, sondern in erster Linie mit Tabletten, und außerdem hatte ich nicht regelmäßig Alkohol getrunken, meist, wenn ich ausgehen wollte oder aber, wenn ich keine Tabletten hatte. Zumindest konnte ich keine, wie man sagte, Alkoholkarriere aufweisen, und so dachte ich immer, so richtig gehöre ich da nicht hin. Bei mir ist das etwas anderes, ich habe doch in erster Linie Angst und Hemmungen vor allen möglichen Dingen, und dann meine Schlafschwierigkeiten. Ich müsste etwas finden, das mir diese Ängste nimmt, und dann bin ich ruckzuck ein anderer Mensch.

Dass ich aber zum Ursprung zurück und wie beim Sport diese Dinge immer wieder trainieren muss – ohne Mutmacher, und dass es dann völlig egal ist, was man dafür oder dagegen einsetzt, – das war mir damals nicht klar. Ebenso wenig klar war mir, dass diese Probleme nicht von heute auf morgen verschwunden sind und ich dann ein neuer Mensch bin. Ich wollte alles – innen fit sein und äußerlich Höchstleistungen bringen, um anerkannt zu sein, – und das ging eben nicht! Ich hätte Zeit und Ruhe gebraucht, um innerlich zu wachsen, und diese Zeit gab ich mir einfach nicht. Immer wieder gab es etwas vermeintlich Wichtigeres. Wenn man ein Haus bauen würde mit der schönsten äußeren Fassade, aber ohne richtiges Fundament, Stützmauern und Innenwände, würde es auch spätestens beim ersten großen Sturm zusammenbrechen.

Als ich in Bad Nauheim arbeitete, ging ich eines Tages in einer Freistunde spazieren und kam an einem Haus vorbei, an dem ein Praxisschild angebracht war für psychotherapeutische Behandlungen. Ohne groß nachzudenken, ging ich hinein und fragte, ob ich einen Termin bekommen könnte. Den bekam ich sogar recht schnell und war voller Hoffnung auf die erste Sitzung. Der Therapeut stellte sich als netter junger Mann heraus, der mir aber gleich sagte, dass er nur vorübergehend da wäre und dann ein anderer die Praxis übernähme. Ich fand das erst sehr schade, denn ich hatte das Gefühl, dort gut aufgehoben zu sein. Ein paar Monate später kam dann der neue Therapeut, und ich war ganz erstaunt, denn das war ein schwarzer Amerikaner, der in New York in der Drogenszene gearbeitet hatte, also bestens über Suchtkrankheiten Bescheid wusste. Cooper, so hieß er, war wesentlich älter als der Vorgänger, sprach ein bisschen gebrochen Deutsch und ich merkte gleich, dass ich ihm nichts vormachen konnte – eine etwas verquere Wahrheit war bei Suchtpatienten üblich! Ich tat das Beste, was ich tun konnte, und blieb als Patientin bei Cooper, ging regelmäßig wöchentlich zur Therapie und habe sehr viel Grundwissen über das Leben allgemein und speziell meines gelernt. Einiges passte mir auch nicht, denn er ging manchmal ganz schön heftig mit mir ins Gericht, sodass ich anschließend aus der Praxis ging und vor mich hinblubberte: „Jetzt reicht es aber, ich komm nicht mehr!“  

Ich bin immer wieder hingegangen und kann heute, zwanzig Jahre später, sagen: Es war die wichtigste Therapiezeit in meinem Leben. Und sogar heute noch, obwohl er schon viele Jahre tot ist, rede ich manchmal mit ihm, wenn ich in Schwierigkeiten stecke. Dann gehe ich raus in die Natur und sage: „Na Cooper, was soll ich jetzt wohl machen, was würden Sie mir jetzt sagen?“ Und dann fällt mir irgendeine Weisheit von ihm ein. Er hat mir als Amerikaner auch beigebracht, was einige Wörter in der deutschen Sprache bedeuten, z.B. das Wort „aber“ oder „eigentlich“. Diese beiden Wörter habe ich damals viel gebraucht, bis er mir klar gemacht hat, dass ich dann das eben Gesagte verniedliche oder in Zweifel ziehe. „Frau Wagner, Sie müssen mehr überlegen, was Sie sagen, dann merken Sie auch, was Sie denken.“ Ja, und heute weiß ich: Der Mensch ist das, was er denkt! Das kann ich aber immer noch nicht richtig. Oft plappere ich viel zu viel, das dann auch prompt falsch ankommen kann, und erst hinterher merke ich, was ich wieder für einen Mist erzählt habe. Gedanken ordnen und negative durch positive Gedanken zu ersetzen, das habe ich damals angefangen zu üben, doch zwischendurch immer wieder lange Zeiten vergessen.

Sich selber zu ändern, ist wohl das Schwerste überhaupt, deshalb versucht man es ja meist nur in seiner Umgebung. Einen anderen ändern zu wollen, erscheint leichter, deshalb gibt es viele Menschen, die Schuld bei anderen suchen. Das ist eine verbreitete Charaktereigenschaft. Mein eigenes Tun wie ein Beobachter von außen zu sehen, ist schwer, aber sehr hilfreich. Cooper war fast zehn Jahre mein therapeutischer Begleiter und brachte einen Nacherziehungsprozess in Gang, der heute mit sechzig Jahren noch andauert. Immer wieder bin ich von meinem direkten Weg abgekommen, weil er mir zu schwierig und vor allem zu langwierig und mühsam erschien. Später versuchte ich durch sogenannte Außenseitertherapieformen meinen Weg abzukürzen, es geht aber leider nicht! Step by Step muss ich meine eigene Lebensstrecke erkennen lernen, irgendwann habe ich es kapiert. Dazu gehört allerdings in erster Linie Ruhe und Zeit, und die hatte ich nie. Irgendetwas fand sich auf meinem Weg immer wieder, das erst einmal Wichtiger war – wie jetzt meine beginnende Schwangerschaft. Ich wollte nie heiraten, weil ich dann keine Fluchtmöglichkeit mehr hatte, wie ich dachte, doch mit zwei Kindern hatte ich die auch nicht mehr, also heirateten Michael und ich am 4. April 1984. Es war eine kleine Feier nur mit einem engen Freund und dessen Frau in einem Schwarzwaldort. Unsere Eltern waren ziemlich sauer, dass wir sie nicht dabei haben wollten, wie sie meinten.
Die Schwangerschaft verlief ohne Zwischenfälle und mein Arzt bereitete mich für einen Kaiserschnitt vor, der in einem benachbarten Krankenhaus durchgeführt werden sollte. Man wollte warten, bis die Wehen einsetzten. Kurze Zeit über dem errechneten Zeitpunkt war ich gerade im Supermarkt einkaufen, als ich plötzlich heftige Bauchschmerzen bekam. Zum Glück war Michael zu Hause und brachte mich gleich in die Klinik. Dort verbrachte ich die kommende Nacht, doch die Wehentätigkeit hörte wieder auf. „Es ist Freitag, Ihr Mann ist zur Stelle. Wenn Sie wollen, können Sie noch mal nach Hause fahren und wieder kommen, wenn es richtig losgeht“, sagten die Ärzte. Michael holte mich ab und wir fuhren los. Unterwegs auf der Landstraße sagte er plötzlich: „Mir wird schlecht, ich kann nicht weiter fahren, du musst fahren“, und hielt am Straßenrand. Seinen Wagen hatte ich nie gefahren, weil er mir zu schnell und zu groß war, und jetzt sollte ich hochschwanger dieses Auto steuern… und außerdem war ich von der Nacht im Krankenhaus ziemlich kaputt und müde.

„Das kann ich nicht, ich kann deinen Wagen nicht fahren.“
„Du musst aber, sonst bleiben wir hier stehen.“

Michael setzte sich auf den Beifahrersitz und ich fuhr langsam los. Plötzlich gab es ein paar fürchterliche Töne neben mir. Erschreckt schaute ich zur Seite und sah, wie Michael Beine und Arme von sich streckte und ohnmächtig wurde. „Um Himmels willen, Michael, was ist los?“, schrie ich voller Angst. Er hörte mich nicht. Ich klopfte mit einer Hand auf seine Schulter, und mit der anderen lenkte ich sein Auto mit überhöhter Geschwindigkeit über die Landstraße. Jetzt in dieser Not konnte ich plötzlich fahren! Tausend Gedanken rasten durch meinen Kopf: Meine Güte, wenn ihm jetzt etwas passiert! Er wird nicht schnell genug zum Arzt kommen, am Ende sterben, dann habe ich wieder keinen Vater für mein Kind! Was hat er nur, am Ende Herzinfarkt? Ich klopfte weiter und fuhr durch unseren Wohnort durch direkt nach Usingen in das Krankenhaus. Zwischendurch kam Michael tatsächlich kurz zu sich, war dann aber gleich wieder ohne Besinnung.

Ich hielt am Krankenhaus, rannte raus, so gut ich kannte, und schrie verzweifelt um Hilfe. Gleich kamen Pfleger, die ihn auf eine Trage legten und ins Krankenhaus brachten. Ein Herzinfarkt war es nicht, man hat es nie wirklich rausbekommen. Michael kam wieder zu sich, brach aber an diesem Tag noch öfters zusammen. Ich rief Melanie an und Michaels Eltern, die kurze Zeit später kamen. Eigentlich sollte ich doch ein Kind bekommen, das hatte ich völlig vergessen, und ich wusste auch gar nicht, wie es ihm ging. Eine Schwester machte mich aufmerksam, dass gegenüber die Entbindungsstation sei, ich solle dort mal hingehen und mich untersuchen lassen. Das tat ich auch, es war alles in Ordnung, von den fehlenden Wehen abgesehen.

Abends schliefen Melanie und ich daheim in meinem Zimmer und sie trichterte mir ein, sie ja zu wecken, wenn etwas wäre. Ich war gerade vor lauter Erschöpfung eingeschlafen, als ich wieder wach wurde und heftige Bauchschmerzen bekam. Ich schaute auf die Uhr: Es waren Wehen, die sich in regelmäßigen Abständen wiederholten. Na toll, jetzt ging es los und ich war allein. Melanie schlief tief und fest, ich versuchte sie aufzuwecken, aber sie reagierte nicht. Ach, lass sie schlafen, dachte ich, wie komme ich jetzt in das Krankenhaus? Tatsächlich überlegte ich, ob ich nicht die paar Kilometer mit meinem eigenen Auto fahren könnte. Das war aber Gott Lob vor ein paar Tagen nicht angesprungen, und so verwarf ich den Gedanken. Ich rief ein Taxi und ließ mich ins Krankenhaus fahren, wo Michael lag. Dort wussten sie ja nichts von meinen Voruntersuchungen und dem geplanten Kaiserschnitt. Ich kam also nachts auf der Entbindungsstation an und wurde gleich untersucht.

 Der diensthabende Gynäkologe war nicht der Meinung, mein Kind mit einem Kaiserschnitt zu holen. Ich sollte allen Ernstes eine normale Geburt durchstehen, obwohl ich total übermüdet war. Michael ging es einigermaßen gut, er wurde von einem Arzt mit einem 24-Stunden-EKG in den Kreißsaal gebracht und durfte bei mir bleiben. Ich hatte überhaupt keine Kraft mehr angesichts der durchstanden Nächten und der ganzen Aufregungen. Doch der Arzt lehnte einen Kaiserschnitt ab. Zeitweise war es so schlimm, dass ich fast aus dem Fenster springen wollte, Michael konnte mich aber immer wieder beruhigen. Zum Schluss bekam ich noch ein Wehenmittel, das ich zwar ablehnte, aber es wurde mir trotzdem gegeben. Meine Bedenken, dass mein Gewebe nicht mitmachte, verwarf der Arzt.

Dann war es soweit, Konstantin wurde geboren. Er bekam sofort Sauerstoff, und dann legte man ihn mir auf den Bauch. Es ist kaum zu glauben, eine Geburt ist unter normalen Umständen schon kein Spaziergang, und dieser kleine Kerl hatte im Bauch seinen Kopf abgestützt und ließ ihn nicht mal bei der Geburt los, sodass er mit Kopf und Ärmchen gleichzeitig ausschlüpfte! Ein Auge war ganz blau, wo sein Arm draufgelegen hatte. Er kam schon als Denker zur Welt. Und was war mit meinem Traum? Durch diese ganzen Zwischenfälle war er tatsächlich wahr geworden, so wie ich es vorhergesehen hatte. Ich war überglücklich und merkte überhaupt nicht mehr, dass ich übermüdet war.

Am nächsten Tag stellte ich fest, dass irgendetwas mit meinem Bauch nicht stimmte, gerade so, als wenn Urin unkontrolliert austreten würde, und es war auch ein ganz eigenartiges Gefühl. Ich machte die Schwester darauf aufmerksam, doch die meinte nur, das wäre etwas mehr Wochenfluss. Da ich aber sehr viel trank, um diesmal stillen zu können, war das schon extrem viel.

Bei der Visite sagte ich es dem Arzt. Der nahm es nicht so leicht, untersuchte mich und glaubte, dass die Blase durch die Geburt ein kleines Loch bekommen haben müsse. Er schickte mich zur Begutachtung in die Urologie nach Höchst. Dort in dem großen Klinikum geriet ich – man kann es nicht anders sagen – einem Idioten von Urologen in die Hände, der meinte: „Das ist nur eine sogenannte Überlaufblase, kommt häufiger bei Geburten vor, ist nicht weiter schlimm und gibt sich von alleine wieder.“

Irgendwie glaubte ich ihm nicht, wurde dann aber wieder nach Usingen in das Krankenhaus gebracht. Dort bekam ich einen Katheter, um die Harnblase etwas zu entlasten. Trotzdem lief der Urin an der Seite raus. Ich trank viel Wasser und hatte gut Milch, sodass ich voll stillen konnte. Mit Konstantin war alles bestens. Ich war überglücklich, Michael auch, und Melanie war ganz aus dem Häuschen vor Freude. Sie war jetzt nicht mehr allein, sondern hatte einen kleinen Bruder. Ich lief mit meinem Katheter auf der Station hin und her und eigentlich ging es mir gut. Nach zwei Wochen schickte mich der Gynäkologe noch mal nach Höchst in die Urologie, weil der unkontrollierte Urinfluss nicht aufhörte. Dort schnauzte mich der schon bekannte Urologe förmlich an mit den Worten: “Was wollen Sie denn schon wieder hier? Ich habe Ihnen doch gesagt, dass Sie nichts haben.“

Ich glaubte ihm nicht und verlangte, dass er mich auf eine Station legen ließ und man mich in der Endoskopie untersuchte. „Wenn Sie sich lächerlich machen wollen!“
„Hören Sie!“, blaffte ich ihn an. „Wenn Sie mich nicht umgehend aufnehmen, bekommen Sie gewaltigen Ärger mit meinem Anwalt“. Die Sanitäter, die mich gebracht hatten und danebenstanden, schüttelten nur den Kopf. Aber ich kam auf Station.

Der Gynäkologe auf der Station, ein Oberarzt, hakte meine Beschwerden nicht so einfach ab wie sein Kollege. Ich kam noch am gleichen Tag in die Endoskopie und wurde untersucht. Danach stand fest, dass es eine Ruptur – einen Riss – in meinem Bauch geben musste. Die Operation wurde auf den nächsten Tag angesetzt. Ich hatte zwar ein gutes Gefühl, denn mein Bauch musste aufgemacht werden, um zu sehen, was da los war, doch hatte ich sehr viel Angst. Am Nachmittag kam mein kleiner Sohn nach Höchst, damit er in meiner Nähe war und ich ihn stillen konnte. Er gab mir Kraft, um nicht völlig in Ängsten zu versinken. Michael war auch bei mir und sprach mit den Ärzten. Ich fühlte mich gut versorgt. Abends bekam ich etwas zum Schlafen, aber daran war bei meiner Nervosität vor der Operation nicht zu denken, ich würde ja ohnehin durch die Narkose schlafen. Morgens ging ich zu meinem kleinen Konstantin, stand an seinem Bettchen, streichelte ihn sanft über sein kleines Köpfchen, Tränen liefen mir die Wangen runter vor Rührung über dies kleine Kind, und vor allem wusste ich nicht, ob ich ihn wieder sehen würde. Ich sagte ihm aber ganz tapfer „tschüss, Mama ist bald wieder da.“

Die Operation dauerte sechs Stunden. Als der Bauch auf war, bot sich den Ärzten ein erschreckendes Bild. Die Gebärmutter war geplatzt, die Wundränder schon nekrotisch, und in der Harnblase war ein taubeneigroßes Loch. Die Gebärmutter wurde geflickt, das Loch in der Blase ebenfalls, und ich kam auf die Intensivstation, gespickt mit vielen Schläuchen. Nach Stunden wurde ich wach und sah Michael und meinen kleinen Sohn im Bettchen neben mir. Ich lebte also noch, und das war das Wichtigste! Ich freute mich sehr und dankte meinem Schöpfer. Das war auch wirklich nötig, denn dass ich nicht verblutet bin und keine Bauchfellentzündung bekommen hatte, war ein großes Wunder, medizinisch nicht erklärbar, denn normal war das nicht, dass ich damit zwei Wochen mehr oder weniger herumlaufen konnte. Und dieser eigenartige Oberarzt in der Urologie hatte gemeint, das sei alles nicht schlimm – im Gegenteil, ich selbst musste mit Anwalt drohen, damit er mich überhaupt aufnahm!

Ich blieb vier Wochen in dieser Klinik und mein Sohn auch. Die Ärzte glaubten an eine weitere Operation, da die Gebärmutter sich wohl entzünden würde und sie dann ganz raus müsste. Doch es passierte nichts, sie blieb drin. Natürlich wurde ich abgestillt, weil zu viel Medikamente in meinem Körper waren, doch Konstantin wollte das nicht einsehen. Als es mir besser ging, brachte man mir den kleinen Kerl und er fing sofort an, bei mir nach Milch zu suchen. Er wollte von mir keine Flasche. Später ließ ich ihn nuckeln und er schaffte es tatsächlich, dass wieder etwas Milch kam.

Nach rund drei Wochen sollte der Katheter gezogen werden. Mir war nicht wohl dabei, denn hoffentlich hielt das gestopfte Loch in der Harnblase. Als die Schwester kam, wollte ich noch eine kurze Wartezeit. Später sagte ich zu Michael, der an meinem Bett saß: “Nun muss es wohl sein, ich rufe jetzt die Schwester“, und drückte auf den Klingelknopf. In dem Moment kam der Katheterschlauch unter dem Bett vor und fiel auf die Erde. „Ach, das gibt es ja nicht, jetzt ist der Schlauch allein herausgefallen, nun wird die Blase auch halten“, sagte ich prompt.

Die Schwester schüttelte nur mit dem Kopf und konnte es nicht fassen. Ich wurde sowieso schon als medizinischen Wunder von den Ärzten und Professoren betrachtet, denn normalerweise hätte ich das alles nicht überleben dürfen. Jetzt nach dem Katheterauswurf meines Körpers schauten mich die Ärzte und Schwestern schon reichlich eigenartig an, und einer sagte sogar: “Haben sie übernatürlich Fähigkeiten?“ Vielleicht hatte ich oder habe ich wirklich ein paar besondere Stärken, denn dass ich überhaupt noch lebe, ist auch für mich immer wieder ein Wunder, wenn ich über mein Leben nachdenke.

Es war dann noch eine recht schöne Zeit in der Klinik, ich wurde gut versorgt, war mit meinem kleinen Sohn zusammen und bekam viel Besuch, auch von meiner Mutter. Konstantin gedieh prächtig. Michael meldete sich nach diesem Ereignis auf Raten eines Anwaltes in dem Patientenschutzbund an. Meine, gelinde gesagt, falsche Diagnose musste ein Nachspiel haben. Wir zahlten ein Jahr lang Beiträge und die Angelegenheit wurde genauestens recherchiert. Zum Schluss wurde lediglich die Hebamme entlassen, die mit mir überhaupt nichts zu tun hatte. Der Urologe in Höchst war selbst nierenkrank, musste ständig an die Dialyse, war aber finanziell an der Klinik mitbeteiligt, und so schützte man ihn natürlich.

Das Wichtigste war, dass wir beide lebten, mein Sohn und ich. In der Klinik brauchte ich außer Schlafmitteln keine weiteren Tabletten zur Beruhigung, und später wurde ich regelmäßig von dem Gynäkologen, der Konstantin entbunden hatte, mit Valium versorgt. Vielleicht hatte er ein schlechtes Gewissen?
 
Wieder zu Hause mit meinem Sohn

Nach vier Wochen wurde ich nach Hause entlassen, und jetzt musste ich mich um alles wieder selbst kümmern. Ich war natürlich recht schwach und meine Schwiegermutter kam die erste Woche, um mir zu helfen. Meine Mutter konnte nicht, da mein Vater zu dem Zeitpunkt bereits schwer an Alzheimer erkrankt war. Es wurde alles sehr anstrengend mit meiner Schwäche, und vor allem konnte ich nachts nur ein paar Stunden schlafen. Konstantin bekam seine eingeforderte Milch, und somit durfte ich auch keine Medikamente nehmen.

Wochenlang schlief ich nur zwei bis vier Stunden und brach manchmal tagsüber fast zusammen. Einmal fiel mir auf der Treppe fast mein Baby aus dem Arm, weil ich überhaupt keine Kraft mehr hatte – dazu kam die anfallende Hausarbeit, und Melanie brauchte mich auch. Sie kümmerte sich rührend um ihren kleinen Bruder und nahm mir auch viel ab. Doch irgendwann sollte die Mutter und Ehefrau auch wieder auf Zack sein! Ich war aber nur müde, schwach und kaputt und konnte mich zeitweise kaum auf den Beinen halten, nur das sah niemand. Zum Putzen kam eine sehr nette ältere Frau, aber alles andere blieb an mir hängen.

Nach einigen Monaten, als ich immer noch nicht schlafen konnte und todmüde herumlief, fing ich an, Piccolo zu trinken. Sekt war doch anregend, und vielleicht konnte ich damit meine Müdigkeit ein wenig eindämmen. Konstantin war inzwischen abgestillt. Aus dem einen Piccolo wurden zwei und dann sogar eine ganze Flasche Sekt. Eines Tages saß ich neben dem Bettchen meines Sohnes und bekam fürchterliche Angst, da mir auf einmal klar wurde, wenn ich so weiter machte, rutsche ich voll in die Alkoholabhängigkeit, und das wollte ich auf keinen Fall. In diesem Moment entschied ich mich gegen die Sucht und für meinen kleinen Sohn! Was das heißt, kann wohl nur jemand beurteilen, der über Sucht Bescheid weiß.

Meine Bulimie hatte ich seit der Schwangerschaft im Griff, denn ich aß nur gesunde Nahrungsmittel und vor allem wenig Zucker, meist gar keinen: keine Schokolade, kein Weißmehl, keine Süßigkeiten und kein Kuchen. Das tue ich heute noch, und seitdem ist dieses furchtbare Verlangen auch immer mehr vorbei. Das war anfangs ein richtiges Abtrainieren von Süßigkeiten! Immer wenn es mit dem Verlangen ganz schlimm wurde, aß ich jede Menge Wackelpudding mit Süßstoff, bis mir das Zeug zum Halse raushing, aber es hatte mich eine Zeit lang vom Zucker abgehalten und war dann ganz vorbei.

Nun dieses Sektproblem!

Ich zog in Windeseile Konstantin an und lief mit ihm zu unserm Hausarzt in unserem Wohnort. „Sie müssen mir unbedingt helfen und zwar sofort, ich habe Angst, in die Alkoholsucht reinzurutschen.“ Er sah meine Not, rief in einem Krankenhaus an, und ich wurde noch am gleichen Tag mit dem Kleinen zusammen aufgenommen. Eine Woche blieb ich dort und entzog meinen wochenlangen Sektabusus.

Danach übte ich, gezielt beim Einkauf im Supermarkt den Gang mit Alkoholika zu meiden – auf der einen Seite waren Süßigkeiten, auf der anderen Alkohol. Diesen Gang mied ich total, ich schaute demonstrativ an den Regalen vorbei, es gab ihn einfach für mich nicht, er war nicht da. Schwierig wurde es manchmal an der Kasse, denn wenn ich dort warten musste, kam die Versuchung, irgendetwas an Süßigkeiten oder Alkohol einzustecken. Die erste Zeit kam ich oft ins Schwitzen. Es dauerte viele Wochen, in denen ich dieses regelrechte Training absolvierte. Zum Schlafen nahm ich Valium, das war am wenigsten schädlich. Ich fing an, dieses Medikament dosiert einzunehmen und nicht mehr zu viel, sodass ich nie mehr wegen Tabletten in die Nervenklinik musste. Ich ging wieder in die AA-Gruppen und zu Cooper.
Die ersten Jahre waren zwar sehr hart, aber ich hatte mich entschieden, dass meine Kinder mich nie mehr in einer Psychiatrie besuchen sollten, und das hielt ich auch durch. Viele Ängste trainierte ich regelrecht ab oder zeigte sie möglichst nicht, denn meine Kinder sollten keine „Angsthasen“ werden… Melanie hatte in der Schule zu tun, inzwischen war sie dort gut integriert, hatte Freundinnen und engagierte sich mehr und mehr im Sport. Manchmal begleitete ich sie am Wochenenden auf Sportplätze in der Umgebung, wenn sie einen Wettkampf hatte. Konstantin war ein süßer kleiner Kerl, der sich prächtig entwickelte und uns allen viel Freude bereitete. Nur leider konnte ich nicht mehr arbeiten gehen, das machte mir schon sehr zu schaffen. Ich war jetzt ganz Hausfrau, Mutter und Ehefrau. Eine Weile genoss ich das sogar, aber dann wurde ich zunehmend unzufrieden.

Für meine Familie gab es ein sehr gesundes Nahrungsangebot – alles, was ich mal gelernt hatte, vor allem in der Reformfachakademie, wollte ich meinen Lieben zugutekommen lassen. Viel, viel Rohes, eingeweichte Körner und Sprossen, selbst gebackenes Brot und Brötchen, sogar Säfte presste ich selber. Fleisch wurde häufig durch Sojaprodukte ersetzt, Milch holten wir beim Bauern, ich stand manchmal den halben Tag in der Küche. Ich gab mir sehr viel Mühe, doch oft kamen meine Körner- und Sojaprodukte vor allem bei den Kindern nicht gut an. Kochen tat ich nach wie vor ungern. Solange der Herd kalt blieb, war alles in Ordnung, aber sowie ich in Töpfen oder Pfannen etwas brutzeln musste, ging meine Laune schlagartig in die Tiefe, und manchmal flüchtete ich regelrecht aus der Küche, um draußen Luft zu schnappen oder eine Zigarette zu rauchen. Michael sagte oft, ich wäre großküchengeschädigt. Da war sicher was dran.

Nach dem Mutterschutz hätte ich in Bad Nauheim halbtags weiterarbeiten können, aber das wollte mein Mann nicht. Ich musste ja auch erst nach Nauheim fahren, und so wären das locker sechs Stunden gewesen. Man hätte eine Tagesmutter finden können, aber ich durfte nicht.

Ich wurde immer unzufriedener, und Fluchtmöglichkeiten mit Essen, Trinken oder vermehrt Tablettennehmen hatte ich nicht mehr, und das merkte ich schon sehr. Dieses Abhauen, in Stoff versinken, wenn ich etwas nicht aushielt, lief jetzt nicht mehr, da waren mir meine Kinder zu wichtig, auch wenn das manchmal schwer auszuhalten war. Dazu kam dann noch, dass Michael oft sauer war, weil ich nicht mit ihm ausgehen wollte. Es gab jedes Mal Ärger. Nicht, dass ich nicht gewollt hätte! Aber das unbeschwerte Ausgehen war nun etwas, das ich ohne meinen Mutmacher Alkohol nie gelernt hatte, und den gab es für mich nicht mehr. Ich blockte innerlich so ab, dass ich oft richtig krank wurde, wenn ein Nein nicht ausreichte. Sicherlich hätte ich das auch lernen können, aber ich tat es halt nie, sondern drückte mich davor. Ich schluckte auch negative Äußerungen oder Verhaltensweisen meiner Familie längst nicht mehr, sondern fing an, mich allmählich zur Wehr zu setzen. Mir bekam das gut, nur meine Umgebung fand das weniger schön, sodass es immer mehr Krach – vor allem mit Michael – gab. Manchmal, wenn der Haussegen total schief hing, kippte ich auch schon mal irgendetwas Alkoholisches in mich hinein, das waren Gott Lob aber nur kleine Ausrutscher.
Den allerletzten Tropfen habe ich in einer Mutter-Kind-Kur mit Konstantin an der Ostsee getrunken. Das war auch so eine typische Ausfluchtsituation. Die anderen Mütter saßen abends zusammen oder gingen aus. Ich wollte oder konnte nicht, blieb zu Hause, aber gut ging es mir dabei auch nicht. Natürlich ärgerte ich mich, und was tat ich? Ich holte mir ein paar Flaschen Bier. Nachdem ich eine getrunken hatte, schaute ich auf den schlafenden Konstantin und hatte wieder eine tolle Eingebung: „Ja, bist du denn verrückt! Wenn du damit jetzt wieder anfängst, war alles Abtrainieren umsonst und du sitzt hier angetrunken neben deinem Sohn, du spinnst wirklich!“

Ich nahm die beiden vollen Flaschen und kippte sie weg, und danach habe ich nie wieder einen Tropfen angerührt!
Bis heute habe ich Schwierigkeiten, privat auszugehen. Gerade da, wo andere hingehen und einfach nur Spaß haben wollen, da kneife ich. Ein Konzert, Oper oder alle beruflichen Aktivitäten machen mir nichts aus, aber dorthin zu gehen, wo Menschen zusammensitzen und nur fröhlich sind, schon sehr. Vielleicht sind das immer noch meine sozialen Ängste, ausgelacht zu werde, oder einfach nur das Gefühl, von anderen bewertet zu werden.

Ich schluckte zwar keinen Stoff mehr, um mich zu betäuben, dafür wurde ich immer gereizter, unausgeglichener und fühlte mich zunehmend wie in einem Gefängnis. Immer noch glaubte ich, kein Mensch versteht mich, ich bin das arme Opfer. Wie schwer es allerdings ist, mit einem suchtkranken Menschen umzugehen, vor allem, wenn der keine „Freunde“ mehr hat, das verstand ich erst viel später.

Es kam, wie es kommen musste: Der Haussegen hing immer schiefer, und als Konstantin drei Jahre alt war, haute ich eines Tages einfach ab und wollte mich scheiden lassen. Ich fuhr zu meiner Mutter, um bei ihr Unterschlupf zu finden. Meine Vater war inzwischen verstorben, was mich auch nachhaltig bewegte. Kurz, es war mir alles zu viel, ich wollte nicht mehr. Meine Mutter redete mir ins Gewissen, und nach einigen Tagen fuhr ich wieder zurück. Vor allem hatte ich unglaubliche Sehnsucht nach meinen Kindern. Heute noch sehe ich den kleinen Konstantin im Garten, wie er mit seinem Vater Ball spielte und ich plötzlich am Zaun stand. Seine Augen wurden ganz groß, er lief auf mich zu und sagte ganz glücklich, aber auch recht kläglich:
“M a m a.“

Er schlang seine kleinen Ärmchen um mich und wir mussten beide weinen.

Ich wollte mich aber scheiden lassen, ging zu Cooper und ließ mich in eine Privatklinik in Königstein einweisen. Ich brauchte Abstand. Außerdem hatte mir ein Arzt wieder ein anderes Medikament verordnet, das ich eigentlich auch nicht nehmen sollte, und so wurde dieser Stoff wieder entzogen. Melanie ging in dieser Zeit in Bad Sooden-Allendorf in ein Sportinternat, und Konstantin wurde bei einer Tagesmutter untergebracht.
 
Drei Monate psychosomatische Klinik in Königstein

In dieser Klinik bekam ich durch einen Mitpatienten Kontakt zur Esoterik. Mit meinem Glauben konnte ich mich immer noch nicht richtig anfreunden, obwohl in den AA-Gruppen von einer höheren Macht gesprochen wurde. Jetzt las ich ein Buch über Karma und Wiedergeburt. Es fesselte mich völlig, deshalb suchte ich immer mehr nach solcher Lektüre und kam irgendwann zu folgender Vorstellung: Es war völlig egal, ob die Eltern ein Kind wollten oder nicht, es ist höhere Bestimmung, wenn ich geboren werde. Und vor allem, wenn ich mit diesem Leben nicht zufrieden bin und mich umbringen würde, könnte ich mein Lebenspensum nicht lernen und müsste es im nächsten Leben wiederholen.

Ich stellte mir vor, dass das Leben wie ein Konto ist: auf der einen Seite Haben und auf der anderen Seite Soll. Vielleicht hatte ich in einem früheren Leben viel Unheil angerichtet und musste es in diesem Leben regelrecht abarbeiten. Ich hatte Dinge zu lernen, die ich noch nicht konnte. Und dass ich besonders fleißige Schutzengel habe und man mich nicht so einfach sterben ließ, das hatte ich einige Male erlebt. Dieses Denken ließ mich also nicht mehr los und half mir sehr in den nächsten Jahren, schwierige Strecken zu meistern.

Ich las immer mal wieder zwischendurch Bücher über Glaubensdinge, bin allerdings ein Zweifler geblieben. So einfach etwas zu glauben, das man nicht beweisen kann, fällt mir heute wieder recht schwer. Ich setze nach wie vor mein Gehirn in Gang und sortiere: wie? Warum? Kann das…? Ist das…? Ich mache es mir damit nicht leicht. Damals jedoch glaubte ich an Wiedergeburt und vor allem an Karma. Je besser ich später mit meinem Leben klarkam, umso realistischer wurde auch wieder mein Glaube.

Von der Klinik aus suchte ich mir eine Halbtagstätigkeit in einem Reformhaus. Die Ärzte und Therapeuten waren sich einig, dass ich wieder raus musste und neben meinen Pflichten zu Hause eine Tätigkeit ausüben sollte. Die Scheidung zog ich zurück. Michael bemühte sich auch sehr, wir wollten beide unsere Familie nicht zerstören. Vielleicht klappte es ja doch. Eine Zeit lang ging es auch gut, die Arbeit im Reformhaus machte Spaß, nur war der Anfahrtsweg sehr weit, wir wohnten im Hintertaunus und die Arbeit war in Königstein. Konstantin war bei einer Tagesmutter, und Melanie lebte noch in dem Sportinternat. Eigentlich hätte es klappen können, aber es ging nicht lange gut. Mir war natürlich wieder alles zu viel. Eine gesunde Frau hätte es geschafft, aber davon war ich noch weit entfernt.

Immer, wenn etwas zu viel wurde, fiel ich innerlich zusammen, so als wenn die inneren Stützmauern zu schwach waren – zu viel tragen mussten und dann einfach einbrechen. Das passierte oft, weil ich mich ständig überforderte. Ich hatte nun mal Mann, Kind, Haushalt und Garten. Michael verdiente gut, ich hätte zufrieden sein können. Nein, das war ich nie. Wenn eine Situation neu war, dann strengte ich mich besonders an, und nach kurzer Zeit verließen mich meine Kräfte, ich fiel innerlich zusammen, und dann wollte ich nur weg, immer aus der jeweiligen Situation fliehen. Später sagte ich oft: Ingeborg auf der Flucht.

Es war von jeher in meinem Leben wichtig, dass ich eine Fluchtmöglichkeit hatte, seien es Tabletten oder Alkohol, bloß weg von mir und meinen Gefühlen oder auch dem ständigen Kopfkino, das mich manchmal sehr quälte. Cooper hatte recht, wenn er sagte: „Sie haben so viel mit sich selbst zu tun, da haben Sie für äußere Dinge keine Kraft mehr.“ Nur: Äußere Dinge wollte ich ja auch alle, die besonders! Ich wollte doch nicht abseitsstehen! Ich wollte dazugehören und eigenes Geld verdienen, um nicht abhängig zu sein. Doch war ich abhängig von vielen Stoffen und äußeren Dingen – welche Ironie!

Die Menschen sehen doch nur die Leistung außen und nicht innen, zumindest nicht viele. Erst einmal kommt der ganze äußere Glanz, und dann schaut vielleicht mal jemand nach inneren Werten. Ich war wohl ständig auf der Suche und Flucht. Nur schaffte ich es immer wieder, mich irgendwo festzusetzen, die Freiheit konnte ich doch gar nicht aushalten. Ich hörte mir vieles in den Gruppen an, setzte auch einiges um, doch dann verfiel ich wieder in meine ständige Rennerei. Einfach mal stehen bleiben oder sitzen bleiben und nichts tun, das konnte ich nicht. Sah es äußerlich so aus, als ruhte ich, galoppierte ich innerlich mit meinen Gefühlen und meinem Kopfkino: ein Computer, der sich nie ausschalten ließ. Wenn ich manchmal sah, wie meine Mutter bei ihren jeweiligen Arbeiten auch innerlich anwesend war – ob Nähen, Gartenarbeit oder Süppchen kochen – wurde ich richtig neidisch, ich konnte es nicht. Sie war mit ihrem ganzen Sein bei der Arbeit.

Stand ich am Herd, wälzte ich ganze Lebensgeschichten in meinem Schädel. Für einen Partner ist das sicher auch nicht einfach. Wenn ein Suchkranker unter Stoff steht, weiß er nicht, was passiert, aber wenn der Partner clean wird, ist es zum Teil noch schwieriger. Dann wird der Partner gar nicht mehr berechenbar, und damit ist die Familie oft total überfordert. Immer wieder musste ich an den Mann aus meiner letzten Kur denken, er und andere in den Gruppen hatten gesagt, dass es einfacher ist, wenn man allein lebt, sich aus den alten Beziehungen löst. Doch das wollte ich auch nicht, und deshalb kam ich nur schleppend vorwärts: zwei Schritte vor und einen zurück.
Unsere Ehe war auf dem absteigenden Ast. Michael und ich kamen überein, dass eine Trennung das Beste wäre. Inzwischen war Melanie wieder zurück und ich suchte eine Wohnung. Die Spannungen zwischen Melanie und Michael wurden auch immer größer, sodass es einfach sinnvoll war, auszuziehen. Damit es Melanie nicht so weit zur Schule haben sollte, entschied ich mich für eine Wohnung in Usingen. Konstantin wollte in seiner gewohnten Umgebung bleiben. Er war das erste Jahr in der Schule, hatte Freunde, tobte im Garten und wollte nicht in eine kleine Wohnung ziehen.