Berufssuche

Was gab es für Berufe, bei denen ich nicht zu Hause wohnen musste, sondern ich weg konnte? Studieren war ja nun nichts, da hätte ich noch ein paar Jahre in der Schule und zu Hause verbringen müssen – und dann die ewigen Geldsorgen! So entschloss ich mich, Krankenschwester zu werden. Ständig malte ich mir aus, wie es wohl wäre, wenn ich Geld verdienen würde und ich älter wäre – da ginge es mir sicher sehr viel besser! Nun, mit Krankenschwester wurde es schon mal nichts, da ich mir ein halbes Jahr vor dem Schulende ein Knie beim Tanzen ausrenkte.

Ich durfte tatsächlich eine Tanzschule besuchen und war vielleicht gerade dreimal dort, als es passierte. Meine Eltern waren nicht zu Hause, ich stellte das Radio laut an und tanzte Twist. Diesen Tanz konnte ich richtig gut, das ging auch wunderbar allein, ich kam sogar mit dem Kopf bis auf die Erde. Dabei wurden natürlich die Knie besonders stark belastet – und plötzlich ein wahnsinniger Schmerz! Ich flog hin und sah, dass das eine Knie doppelt so dick war wie vorher. Ich schaute es mir genauer an und klopfte mit der Hand dagegen, und tatsächlich sprang die Kniescheibe zurück. Auftreten konnte ich zwar nicht, aber das Knie sah wieder normal aus. Ich saß auf der Erde und wartete, bis meine Eltern nach Hause kamen. Sie holten den Arzt und der schickte mich ins Krankenhaus. Gottlob brauchte das Knie nicht operiert werden, da ich mit dem Reinklopfen der Kniescheibe genau das Richtige gemacht hatte, ich also nur eine Bänderdehnung hatte, es war nichts gerissen. Doch die ganze Aktion brachte mir vier Wochen Krankenhausaufenthalt ein, mit Streckverband und anschließend das ganze Bein in Gips, auch noch mal vier Wochen. Ich hieß im Krankenhaus „unser Twistbein“. So lustig war es aber für mich nicht, zumal ich fast ein halbes Jahr nicht richtig laufen konnte.

Nicht unwichtig war nach dem Krankenhausaufenthalt meine Gewichtszunahme. Von Kalorien hatte ich damals noch nichts gehört, und so aß ich alles auf, was ich bekam, und abends schnuckte ich Schokolade, Pralinen, all die schönen Dinge, die mir meine Besucher mitbrachten. Es war ja langweilig, still im Bett zu liegen, da half essen ungemein, und so polsterte ich meinen Umfang gewaltig auf. Als ich später wieder laufen konnte, habe ich mich mit meinem Übergewicht so geschämt, auf die Straße zu gehen, dass ich sogar im heißen Sommer immer einen dünnen Mantel anzog.

Dann beschloss ich abzunehmen und aß nur noch Gemüse und Salat aus dem Garten meiner Mutter. Ich saß am Tisch meiner Eltern, sie aßen die schönsten Speisen, und ich saß mit einer Salatgurke, Möhren oder Tomaten daneben. Diese Prozedur hielt ich vier Wochen durch und meine Pfunde purzelten auf Normalgewicht. Später sagte mir mal ein Patient in der Diätberatung: „Fräulein, Sie sind ja auch nicht die Schlankste…“ Daraufhin reduzierte ich auf Idealgewicht und habe es heute immer noch. Nie mehr in meinem Leben hatte ich Übergewicht. Klappte es mit der Verdauung mal nicht richtig, weil ich zu viel Schokolade gegessen hatte, trank ich Bekunis-Tee. Tee ist ja gesund, dachte ich.

Und mit Tanzschule war dann auch nichts mehr. Da durfte ich mit den anderen etwas mitmachen – und dann so etwas! Meine Mutter hatte mir sogar ein wunderschönes Kleid aus hellblauer Atlasseide für den Abschlussball genäht. Ich brauchte es nie. Und genau deshalb wurde das mit der Ausbildung zur Krankenschwester auch nichts. Man sagte mir: „Als Krankenschwester müssen Sie fest auf den Beinen stehen.“ Und ich kam humpelnderweise mit einem Stock an. Was nun?

Interessiert hatten mich damals Sprachen, da hätte ich nach Kassel auf die Sprachenschule gemusst und wäre doch nicht von zu Hause fort gewesen – jeden Tag nach Kassel mit dem Zug fahren und abends wieder zu Hause. Außerdem war das meinem Vater zu teuer. Dann gab es noch Zeichnen. Technische Zeichnerin oder Modezeichnerin wäre auch schön gewesen, doch damals gab es dafür nur Schulen in den Großstädten, ich hätte mir ein Zimmer suchen müssen, und das traute ich mir nicht zu. Da war mir die Vorstellung, in einem Schwesternheim zu wohnen, viel angenehmer. Mein Vater hätte gern gesehen, wenn ich eine Lehre auf der Bank oder bei der Post gemacht hätte. Doch um Himmels willen, den ganzen Tag sitzen und wieder nicht von zu Hause weg: nein, das nicht!

Bei der Berufsberatung wurde ich von einem damals neu aufgekommenen Beruf informiert: Diätassistentin. Das schien mir eine gute Sache zu sein. Ich musste von zu Hause weg, konnte in einem Schwesternheim ein Zimmer bekommen, und mit Medizin hatte das auch etwas zu tun. Dass ich aber hauptsächlich in Küchen zu tun hatte, das erzählte man mir nicht. Von Beratung und Aufklärung im Ernährungsbereich war da die Rede, aber doch nicht selber kochen! Niemals hätte ich diese Ausbildung angefangen, wenn mir das Ausmaß der Küchentätigkeit klar gewesen wäre. Als ich das merkte, war es zu spät, denn aufhören, etwas Neues anfangen – das hätte es damals nicht gegeben! Außerdem gab es nur drei Schulen damals in Deutschland, eine davon in Gießen, und da wohnte Tante Frieda. Sie war eine pensionierte Lehrerin, hatte eine kleine Wohnung und vermietete ständig ein Zimmer an Studenten. Meine Eltern fanden das natürlich besonders toll, denn Tante Frieda sollte auf mich aufpassen. Allerdings entpuppte sich Tante Frieda später als eine sehr tolerante Pensionärin, die alles andere tat, nur nicht auf mich aufzupassen. Ich fing also nach dem Realschulabschluss mit der Ausbildung zur Diätassistentin an.

Vor der Fachschule in Gießen musste ich ein Großküchenpraktikum absolvieren, was ich im Krankenhaus in Witzenhausen tat. Da ich bereits morgens um 6.00 Uhr anfangen musste, bekam ich im Krankenhaus unter dem Dach ein kleines Zimmer. Das erste kleine Zimmer für mich, ohne die Obhut meiner Eltern!

Morgens war das natürlich erst mal ganz schön heftig, so früh aufzustehen, dafür war ich aber auch nachmittags um 14.00 Uhr fertig und hatte den weiteren Tag frei. Da schlief ich erst mal eine Stunde, und dann konnte ich machen, was ich wollte. Manchmal fuhr ich zu meinen Eltern, aber meistens blieb ich in Witzenhausen. In der Küche lernte ich eine fertige Diätassistentin kennen, die ein paar Jahre älter war als ich und ebenfalls unter dem Dach des Krankenhauses ein Zimmer hatte. Sie war zwar verlobt, aber ihr Freund war in der Woche nicht da, und so unternahmen wir einiges zusammen. Vor allem lernte ich bei ihr das Rauchen, früher fand ich das blöd, mein Vater rauchte auch, aber es stank mir eigentlich viel zu sehr. Nun plötzlich rauchte ich auch und tue es heute nach vierzig Jahren immer noch – zwar sehr eingeschränkt und nur draußen, aber ich rauche. In irgendwelchen Kneipen wurde auch Alkohol getrunken, und so machte ich bereits nach ein paar Wochen Freiheit auch damit Bekanntschaft. Es schmeckte mir überhaupt nicht und den Geruch konnte ich gar nicht ab, doch jeder trank etwas in einer Kneipe, und jetzt wollte ich nicht mehr abseitsstehen, sondern mitmachen. Außerdem war ich sehr schüchtern, was fremde Menschen anging – vor allem jungen Männern gegenüber -, und das legte sich, wenn ich etwas getrunken hatte. Das war ein toller Nebeneffekt, dafür nahm ich den blöden Geschmack in Kauf. So machte ich also mit 16 Jahren, direkt nach der Schule, mit zwei Drogen Bekanntschaft. Damals wurde bereits der Grundstein zu meiner späteren Sucht gelegt, denn ich trank und rauchte nicht, weil es mir schmeckte, sondern weil ich damit meine Unsicherheit überdecken wollte. Meine Eltern durften das nicht wissen, sonst wäre ich ganz schnell wieder nach Hause geholt worden.

Die Arbeit in der Küche machte nicht wirklich Spaß, ich hätte damals noch von dem Beruf zurückgekonnt, aber die Freiheit reizte mich doch sehr, und so machte ich mir leider keine Gedanken über die Zukunft in der Küche. Nach einem halben Jahr durfte ich in der Diätküche bereits selbstständig Diäten zubereiten, doch von Beratung war weit und breit nichts zu sehen, das machte die Diätküchenleiterin selbst. Eigentlich hätte mir das zu denken geben müssen, denn mit Küche wollte ich eigentlich nichts zu tun haben!

Nach einem Jahr kam ich dann zu Tante Frieda nach Gießen, um die zweijährige Diätschule zu besuchen.
 
Diätschule in Gießen

Meine Eltern brachten mich zu ihr, gaben Tante Frieda Verhaltensmaßregeln, was mich anbetraf, und ließen mich dann in einer für mich damals großen Stadt allein.

Die Schule war im Institut für Ernährungswissenschaften und an die Uni Gießen angeschlossen. Unser Unterricht begann morgens um 7.30 Uhr mit praktischen Anleitungen in der Diätküche, nachmittags hatten wir theoretischen Unterricht. Verteilt auf verschiedene Kliniken, hatten wir Patienten zu versorgen, die ganz spezielle Diätformen bekamen. Damit nicht zu viele Schülerinnen morgens in der Diätküche waren, mussten wir im Laufe der zwei Jahre auf verschiedenen Stationen Praktikum machen. Das war nichts anderes als eine Stationshilfe, die den Schwestern zur Hand ging und an den Visiten teilnehmen durfte. Zum ersten Mal hatte ich also Kontakt zu Patienten, denen wir das Essen servierten und die Betten machten, ihnen auch mal einen Schieber brachten, oder manchmal bei der Blutabnahme helfen konnten. Hin und wieder durften wir auch Medikamente stellen und sie an die Patienten verteilen. Damals lagen die kranken Menschen sehr viel länger auf den Stationen als heute, und es gab auch noch keinen Personalmangel, sodass wir oft sehr nette Beziehungen aufbauen konnten und für längere Gespräche noch Zeit war.

Nachmittags trafen wir uns alle wieder zu den einzelnen Unterrichtsfächern. Eine unliebsame Tätigkeit war der Aufenthalt in der sogenannten Milchküche in der Frauenklinik. Erst einmal ging diese Tätigkeit bereits morgens um 6.00 Uhr los, was uns natürlich allen viel zu früh war. Zum anderen war dort eine unglaubliche Hitze, die der große Sterilisator verbreitete. In dieser Milchküche wurden die Fläschchen mit verschiedenen Milch- und Breisorten für die Babys zubereitet. Damals gab es mehr Neugeborene als heute, und zum anderen kam in Mode, dass die Frauen ihre Kinder nicht unbedingt stillen sollten oder wollten. Also gab es viele Fläschchen. Außerdem war dort eine sogenannte Milchküchenleiterin, die von allen gefürchtet war. Sie hatte buchstäblich Haare auf den Zähnen, was wahrscheinlich von der ständigen Hitze kam.

Für all diese verschiedenen Praktikums-Zeiten gab es natürlich auch Beurteilungen, die sich auf die Gesamtnote am Ende auswirkten.

Mich interessierte zumeist der theoretische Unterricht: Anatomie, Physiologie, Psychologie, Diätetik, Hygiene waren die Hauptfächer. Ich fand es unheimlich spannend, die Zusammensetzung und Arbeitsweise unseres Körpers kennenzulernen. Ich passte sehr gut auf und galt schon bald als die beste Schülerin, die sicher ein gutes Examen machen würde – wenn da nicht die vielen Nebenbeschäftigungen von mir gewesen wären!

Meine Mitschülerinnen, es gab nur junge Mädchen und Frauen, darunter eine Dunkelhäutige aus Ghana, trafen uns auch privat. Wir gingen Kaffee trinken, besuchten uns gegenseitig, was bei zwei Schülerinnen am schönsten war, denn sie hatten ein Zimmer in einem Haus, in dem mehrere Studenten lebten: Das hieß sturmfreie Bude. Wir anderen waren meist zur Untermiete untergebracht, wo das Mitbringen von Besuch nur sehr eingeschränkt möglich war – auch bei mir, denn Tante Frieda beäugte mich am Anfang sehr genau. Das ließ jedoch später nach, zumal sie auch sehr viel unterwegs war – mal bei ihrem Bruder in Gießen, dann bei ihrer Freundin mit sieben Katzen, oder sie fuhr mehrere Wochen zur Kur. Ich hatte ein sehr schönes Zimmer bei ihr, was auch nicht allzu weit von der Schule und von der Stadt entfernt war.

Die besagten zwei Schülerinnen hatten durch ihre Mitbewohner sehr schnell Kontakt zu Ingenieurschülern, und so wurde ich dann eines Abends zu einem Treffen eingeladen. Nie werde ich diesen Abend vergessen, denn er war richtungsweisend für viele Jahre später. Ich saß da mit einigen meiner Mitschülerinnen und mit jungen Männern der Ingenieurschule zusammen. Sehr geübt war ich in solchen Dingen ja nicht, und mir gegenüber saß auch noch ein sehr gut aussehender junger Mann. Sofort wurde ich leicht ängstlich, rutschte nervös auf meinem Stuhl hin und her und wäre am liebsten abgehauen. Das war nun endlich die Gelegenheit, doch noch in einer Schule dazuzugehören und nicht abseitszustehen. Hier konnte mir keiner etwas verbieten. Aber ich fühlte mich alles andere als wohl. Wenn ich jetzt gehen würde, war ich für die gesamte Schulzeit wieder ein Außenseiter. Also sagte ich mir: Inge, halt bloß durch, und vor allem so, dass die anderen deine Nervosität nicht merken. Auf dem Tisch standen Bierflaschen, und natürlich trank auch ich Bier. Und auf einmal verschwand meine Unsicherheit, meine Ängstlichkeit, und ich taute auf. Ich konnte mich an den Gesprächen beteiligen und wurde zunehmend lustiger.

Ein Ingenieurschüler interessierte sich besonders für mich, ich mich aber eher für den mir Gegenübersitzenden. Ich ließ den anderen abblitzen und ging spät in der Nacht tatsächlich mit dem gut aussehenden jungen Mann nach Hause. Ganz klar wollte er mich nicht nur nach Hause bringen, sondern zumindest mit mir knutschen. Das war dann mein erster wirklicher Kuss, und der war benebelt. Ich hatte sogar so viel getrunken, dass ich mich am nächsten Tag nicht genau an den Vorgang erinnern konnte. Schade eigentlich, wenn ich mir das heute so bedenke.

So lief das dann später viele Jahre ab: Alkohol, Mann kennenlernen, knutschen und ins Bett. Ich habe bis heute nie einen Mann völlig nüchtern kennengelernt und bin nie das erste Mal mit ihm nüchtern ins Bett gegangen. Es blieb wie ein Ritual. Traf ich einen Mann, der gut aussah, ging ich regelrecht stiften, wenn ich nichts getrunken hatte. Doch seit der Zeit in Gießen hatte ich nun einen Mutmacher, einen vermeintlich guten Freund, und musste keine Angst mehr haben. Dass das aber ein großer Fehler war, sagte mir damals niemand, ich habe natürlich auch niemanden gefragt. Keiner bekam meine Unsicherheit mit, ich kam gut bei den anderen an und war endlich, wie ich dachte, mitten im Leben angekommen. Es ging mir gut.

Da ich anfing, vermehrt auszugehen, entsprechende Klamotten kaufte und rauchte, brauchte ich natürlich mehr Geld. Mein Vater bezahlte die Schule und gab Tante Frieda monatlich Geld für das Zimmer. Ich bekam ein geringes Taschengeld, was überhaupt nicht reichte. Also musste ich Geld verdienen. Ich ging zur Arbeitsvermittlung für Studenten und bekam als Erstes drei verschiedene Stellen zum Putzen. Von morgens 7.30 Uhr bis nachmittags 17.00 Uhr war ich in der Schule. Danach ging ich also putzen und abends meistens in eine Disco, die nicht weit von Tante Friedas Wohnung entfernt war. Meist kam ich da nicht vor Mitternacht nach Hause. Das heißt, ich war ganz schön im Stress.

Bald hatte ich einen Freund, für den brauchte ich auch noch Zeit. Hansi, so hieß er, studierte Pädagogik und wollte Lehrer werden. Tante Frieda war richtig begeistert von ihm, nur bei mir hielt die Begeisterung nicht lange an. Es gab so viele gut aussehende Studenten, und außerdem wollte ich keinen festen Freund. Da konnte ich ja wieder nicht machen, was ich wollte!

Nach einiger Zeit lernte ich andere junge Männer kennen und Hansi war Geschichte. In der ganzen Zeit in Gießen hatte ich dann keine länger dauernde Freundschaft mehr. Es war auch ohne wesentlich praktischer, ich ging abends allein aus und lernte immer neue Leute kennen, meist in einer richtigen urigen kleinen Disco in einem Gewölbekeller, schön schummerig, alte Bierfässer als Tische und Tropfkerzen darauf. Natürlich trank ich vorher mindestens zwei Gläser Bier oder später auch Wein, denn sonst wäre ich da nie alleine hin. So war ich mutig und hatte überhaupt keine Hemmungen oder sogar Angst.

Meine damalige Freundin hieß Heide und war im Gegensatz zu mir ein richtig braves junges Mädchen. Sie hatte ein Zimmer bei sehr netten Leuten zur Untermiete, ging zur Schule, lernte sehr fleißig, ging auch nicht nebenbei arbeiten, sie brauchte nicht so viel Geld wie ich. Heide ermahnte mich oft, mein Leben ein wenig ruhiger zu gestalten, nur davon wollte ich nichts wissen. In der Schule gingen meine Leistungen gewaltig zurück, denn zum Lernen hatte ich gar keine Zeit. Aber Heide half mir immer aus der Patsche. Sie hatte irgendwann einen festen Freund und führte ein ruhiges anständiges Leben. Mir waren irgendwann die Stunden als Putzhilfe zu wenig, und so machte ich zusätzlich noch ein- oder zweimal die Woche nachts Sitzwachen in der Klinik. Das wurde gut bezahlt und schwierig war es auch nicht gerade. Nur der nächste Tag wurde etwas anstrengender, denn ich ging von der Sitzwache morgens direkt in die Schule. Den praktischen Unterricht kriegte ich ohne Schlaf ganz gut hin, nur nachmittags bei den Vorlesungen schlief ich häufig ein. Danach legte ich mich ein paar Stunden in meinem Zimmer hin und abends war ich wieder auf Tour. Ich hatte ein ständiges Schlafdefizit.

Dann lernte ich einen Mann kennen, in den ich mich richtig verliebte, nur leider liebte er eine andere, die ihn kurzfristig verlassen hatte. Ich glaubte natürlich, ihn über den Verlust hinweg trösten zu können, sodass er die andere nicht mehr wollte. Dem war aber leider nicht so, er ging zurück und ich stand da. Und das konnte ich dann nicht so schnell abhaken. Für mich brach buchstäblich eine Welt zusammen, ich hatte keine Lust mehr, mich anderweitig zu amüsieren, und besorgte mir Schlaftabletten, zog mich in mein Zimmer zurück, machte Kerzen und das Radio an, natürlich richtige Schmusemusik, wie damals ganz aktuell – Only You – trank irgendwas Alkoholisches, nahm ein paar Tabletten dazu und dämmerte in meinem Schmerz dahin. Meine Liebe dahin, die Welt war sch… und das Leben ohnehin, also warum weiterleben…

Glücklicherweise kam an dem Abend meine Freundin noch spät, um nach mir zu sehen, weil sie wusste, dass ich höllischen Liebeskummer hatte. Tante Frieda ließ sie nichts ahnend in mein Zimmer. Sie alarmierten sofort den Rettungswagen, und so kam ich zum ersten Mal wegen eines Suizidversuchs in ein Krankenhaus und musste zum ersten Mal die Bekanntschaft mit dem Magenauspumpen machen. Tante Frieda sagte meinen Eltern Bescheid und meine Mutter kam sofort angereist. Sie war furchtbar erschrocken und redete mir gut zu. Mein Vater konnte das überhaupt nicht begreifen. Nach ein paar Tagen war ich wieder zu Hause und ich kam mir ziemlich blöde vor. Das Leben ging weiter, meine Mutter fuhr wieder nach Hause, und von dem besagten Mann distanzierte ich mich auch. Heide kümmerte sich nett um mich, und eine Weile hatte die Schule auch wieder Vorrang. Dann wurde mir das wohl wieder alles zu langweilig, ich ging vermehrt aus und brauchte auch wieder mehr Geld.

Eine Mitschülerin erzählte mir von einem Hotel am Rande von Gießen, die eine Serviererin suchten, sie arbeitete dort auch. Ich stellte mich vor und konnte tatsächlich bald anfangen. Das war vorwiegend am Wochenende. Ich musste nachmittags beim Kaffeegeschäft helfen und dann abends bis spät in die Nacht. Das Hotel war in erster Linie ein sogenanntes Offizierskasino für Amerikaner. Das hieß natürlich, dass ich Englisch sprechen musste. Nach anfänglichen Schwierigkeiten lernte ich das dann ziemlich gut und mir machte die Arbeit großen Spaß. Es war ein recht großer Saal mit einer Band, der am Wochenende brechend voll war. Ich hatte Turnschuhe an, damit ich schneller laufen konnte, denn zu tun hatten wir reichlich. Der Geschäftsführer war sehr nett und zeigte mir, wie man servierte, Sektflaschen öffnete, einschenkte – eben alles, was dort gebraucht wurde. Der Besitzer dagegen war ein dicker, unsympathischer, schmieriger Typ, vor dem ich richtig Angst hatte, aber zum Glück kam der nicht so oft. Nur wenn er da war und mich nachts nach Hause fahren wollte, hatte ich meine Bedenken. Gott sei Dank hat der Geschäftsführer mich dann meist gerettet und mich gefahren. Er war recht nett, auch mit seiner Frau verstand ich mich sehr gut.

Meine Bekannte hörte komischerweise ziemlich schnell dort auf, weil angeblich ihr Freund Stress machte, später wusste ich dann, warum. Verdient hatte ich sehr gut. Es gab eine Menge Trinkgeld und die stundenweise Bezahlung. Für mich sah das Ganze alle zwei Wochen ziemlich stressig aus, denn wir hatten nur 14-tägig frei, da wir auch am Wochenende unsere Patienten in den Kliniken betreuen mussten. Das hieß für mich, Samstagnacht gegen morgen nach Hause kommen. Um nicht zu verschlafen, blieb ich wach, trank starken Kaffee, duschte, zog mich um, ging morgens zur Schule, absolvierte bis mittags meinen Dienst, ging nach Hause und zog mich wieder um in Serviermontour in Schwarz mit weißem Schürzchen. Wieder starken Kaffee trinken und dann mit dem Bus zu dem Hotel gefahren zum Nachmittagsgeschäft am Sonntag. Wieder bis spät in die Nacht, wieder morgens zur Schule und dann am Montagabend zum ersten Mal richtig geschlafen. Irgendwie schaffte ich das. Natürlich habe ich bei der Arbeit auch Alkohol getrunken, vorwiegend Sekt, denn der soll ja beleben.

Ich merkte damals natürlich auch, dass ich unter Alkohol meine Müdigkeit nicht so stark merkte. Ich war leicht betäubt und außerdem hätte ich diesen Job vor lauter Ängstlichkeit auch gar nicht machen können. Dann sollte ich plötzlich während der Woche auch mal zum Servieren kommen. Klar machte ich das, und dann kam das dicke Ende!
An diesem Abend waren wenig Gäste da, die auch schnell verschwunden waren. Der Geschäftsführer trank mit mir einen besonderen Sekt. Auf irgendetwas wollte er mit mir anstoßen, dann schloss er ringsum die Türen ab und rief mich in die kleine Küche. Dort wurde er plötzlich zudringlich, wollte mich küssen, zog mir den Rock hoch und schmiss mich regelrecht auf den Kühlschrank. Ich merkte plötzlich, was er vorhatte, und wehrte mich heftig, strampelte und schrie. Doch er war stärker als ich und hielt mich in einem regelrechten Schwitzkasten fest, ein Riesenschmerz, und dann vergewaltigte er mich heftigst. Ich war völlig unter Schock, sprang von diesem Tisch, rannte zur Tür, die war zu, zur nächsten, die ebenfalls geschlossen war. Die Tür zum Treppenhaus war auf, ich rannte die Treppen runter (das Lokal war im 10. Stockwerk), in panischer Angst, dass dieser Mensch hinter mir herkommt! Dann merkte ich, dass mir an den Innenseiten der Beine Flüssigkeit runterlief. Ich schaute hin, es war Blut. Völlig daneben rannte ich auf die mitternächtliche Straße und dann immer weiter, nur weg. Mir wurde schwindelig und irgendwie torkelte ich wohl, auf alle Fälle hielt ein Taxi an, der Fahrer sah, in welchem Zustand ich war und brachte mich in die Klinik. Ich wurde medizinisch versorgt, dann musste ich zum ersten Mal zu einem Klinikpsychologen. Wir haben über die Vergewaltigung gesprochen und dass ich diesen Mann anzeigen sollte. Das wollte ich aber nicht, irgendwie hatte ich Angst, er könnte mir dann gefährlich werden, denn ein wenig kam mir dieses ganze Hotel auch dubios vor, und außerdem schämte ich mich, wenn die Vergewaltigung öffentlich geworden wäre.

Damals hätte ich auch gut über meine anderen Schwierigkeiten reden können, von meinen Ängsten, Hemmungen und dem dagegen eingesetzten Alkohol. Das tat ich natürlich nicht, weil ich alles in dieser Richtung verdrängte, es ging mir doch mit meinem „Freund“ gut, und außerdem trank ich ja nur etwas, wenn ich ausging oder mich mit Männern traf, und auch nie viel. Wenn ich es mir heute überlege, wäre das damals der richtige Zeitpunkt gewesen, eine Therapie zu machen.

Nach kurzer Zeit entließ man mich aus dem Krankenhaus mit der Auflage, weiter zu einem Therapeuten zu gehen, das tat ich aber nicht. Meine Mutter kam und bot mir an, mich finanziell aus ihrem kleinen Sparguthaben zu unterstützen, damit ich nicht mehr in diesem Hotel arbeiten musste. Das nahm ich natürlich dankbar an, denn mein Vater sagte ganz einfach, ich brauche ja nicht zu rauchen, so viel auszugehen und Alkohol zu trinken. Dafür gibt er mir kein Geld. Das verstehe ich heute sehr gut, auch meinen Kindern gab ich nicht gern Geld, wenn ich wusste, sie brauchen es zum Ausgehen.

Nun hatte ich endlich Zeit, für die Schule etwas zu tun, denn das war auch bitter nötig. Man hatte mir bereits von der Schulleitung eine Ermahnung ausgesprochen, dass ich das Examen wohl nicht schaffen würde. Na, und das ging ja gar nicht, da würde ich wieder ohne Geld sein, also hieß es lernen, lernen, lernen! Ich ging also ohne irgendeine Nebentätigkeit brav zur Schule, absolvierte morgens meine praktischen Tätigkeiten, und nachmittags war ich voll bei den Vorlesungen. Dann ging ich nach Hause, legte mich ins Bett und schlief ein paar Stunden bis meistens 20.00 Uhr. Dann stand ich auf, kochte mir eine große Kanne Kaffee und lernte die ganze Nacht durch. Es war ruhig, niemand störte mich, ich fraß mich regelrecht in den Lernstoff rein und holte zusätzliche Bücher aus der Bibliothek, sodass mein ganzer Fußboden in meinem Zimmer übersäht war mit Büchern und Schriftstücken. Ich war so in der jeweiligen Materie drin, dass es mir einen Riesenspaß machte, zu lesen und zu lernen. Die Zusammensetzung des menschlichen Körpers mit seinen Funktionen war so interessant, dass ich noch mehr lernte, als ich eigentlich musste.

Dieses Pensum mit der nächtlichen Lernerei zog ich etwa drei Monate durch. Um es auch wirklich zu schaffen, nahm ich zu dem starken Kaffee jeden Abend noch eine Captagon-Tablette, ein nicht ungefährliches Aufputschmittel. Das setzte ich nach den drei Monaten auch wieder ab. Nun kam der Tag des Examens.

Zugelassen wurde ich Gott sei Dank und ich dachte, dass ich die Prüfung schaffen würde – na, vielleicht mit der Note 3. Meine Freundin Heide war durchgehend die Beste in dem Jahrgang gewesen und jeder nahm an, dass sie die Note 1 bekam. Jeder musste irgendetwas Besonderes kochen, das war nicht so mein Ding, aber ich bekam einen gespickten Wildschweinbraten mit Gin hervorragend hin. Und dann ging es in den Prüfungsraum. Da saßen ein paar Professoren, unser Schulleiter und Schulleiterin, insgesamt sieben Personen. Ich saß vor ihnen und wartete auf meine Fragen. Irgendwie war ich total relaxt, lächelte die Prüfer sogar an und konnte alle mir gestellten Aufgaben richtig gut lösen. Die Prüfer konnten das wohl nicht so ganz glauben, da ich ja in dem letzten Jahr ziemlich abgerutscht war, und so wurde ich noch länger geprüft. Je mehr ich wusste, umso mehr Spaß machte mir die ganze Sache. Als alle durch waren, warteten wir auf unsere Ergebnisse. Zuerst kamen die besten Noten, und da reihte ich mich nicht mit ein, also hörte ich nur halb hin, als verkündet wurde: „Wir haben eine ganz hervorragende Leistung mit der Examensnote „sehr gut mit Auszeichnung“, und dann wurde mein Name vorgelesen. Ich hatte damit nicht gerechnet, ich hörte es überhaupt nicht, bis mich meine Nachbarin anstupste und sagte: „Inge, du!“ „Was, ich, wieso?“ Ich war total verdattert und konnte das wirklich nicht glauben. Ja, so war es aber! Meine Freundin Heide bekam für ihren durchgehenden Einsatz natürlich auch eine 1, nur ich hatte noch ein Sternchen, das hat sie schon sehr gewurmt.
Alle gratulierten mir und ich lief rum wie in einem Traum. Da sollte ich fast nicht zum Examen zugelassen werden, und dann mache ich das beste Examen! Es war alles so unwirklich. Nach der Feier war mein Aufenthalt in Gießen zu Ende.
 
Stellensuche

Ich fuhr wieder nach Hause und bewarb mich um eine Stelle über die Agentur für Arbeit in Frankfurt, die für das ganze Bundesgebiet damals zuständig war. Meine Eltern waren natürlich wahnsinnig stolz auf mich, und meine Mutter bekniete mich, erst einmal ein paar Monate zu Hause zu bleiben, damit ich mich nach der ganzen Strapaze erholen konnte. Nein, ich wollte so schnell wie möglich eine Arbeitsstelle, damit ich mein lang ersehntes eigenes Geld verdiente! Innerhalb kurzer Zeit hatte ich 75 Stellenangebote aus ganz Deutschland. Ich selbst fand noch ein paar in unserer Fachzeitschrift für Diätassistentinnen, darunter ein sehr gutes Angebot aus der Schweiz in Basel.

Nun war wirklich guter Rat teuer. In die Nähe von Gießen, in den Taunus wollte ich nicht mehr, die Schweiz war mir dann doch zu weit, mir war am liebsten eine Klinik, wo ich ein Zimmer in einem Schwesternheim bekam und mir keine eigene Wohnung suchen musste. Irgendwie hatte ich davor Bammel. Eine eigene Wohnung war mir wohl zu einsam oder zu anonym, genau wusste ich das nicht.

Zu einigen Stellen fuhr mich sogar mein Vater hin, unter anderem auf die Bühler Höhe. Oh je, so ein Hotel hatte ich ja noch nie gesehen, eine für mich unglaublich pompöse Halle! Ich konnte gar nicht genug staunen, und dann kam der Hit. Die Zimmer für die Bediensteten waren unter dem Dach, mit jeweils 4-6 Hochbetten, aus Eisengestell. Dazu jeweils ein kleiner Spint, Dusche und Toiletten auf dem Flur. Da wollte ich nicht bleiben, und wir fuhren zur nächsten Stelle.

Ein sehr schönes Angebot bekam ich von einer großen Firma in Melsungen, ich hätte nur im Labor gearbeitet und wäre für die Herstellung von Diätsonden zuständig gewesen: mit Sicherheit der beste Job, aber den traute ich mir nicht zu.
 
Bad Wildungen

Schlussendlich landete ich in Bad Wildungen in einer Privatklinik. Auch dort hatte ich ein winziges Zimmerchen unter dem Dach, aber immerhin für mich allein. Der Chef und Eigentümer, ein Herr mittleren Alters, sagte im Eingangsgespräch zu mir: „Da müssen Sie ja richtig gut sein mit so einem Spitzenzeugnis.“

Das war es dann. Natürlich hat mich das gefreut, nur setzte ich mich von Stund an unter Druck, jetzt musste ich besonders gut sein. Wie es zu meinem Beruf in erster Linie gehörte, war mein vorwiegender Arbeitsbereich in der Küche. Dort waren zwei jüngere Köche und eine Köchin, die mich natürlich interessiert beobachteten, denn der Beruf einer Diätassistentin war neu und: Konnte die überhaupt kochen? Schnell merkte ich, dass Diätküche in einer Klinik und in einem Privatsanatorium zwei völlig unterschiedliche Dinge waren. Natürlich konnte ich nicht kochen wie die Köche, und damit fing das Dilemma schon an. Aus meinen roten Ohren kam ich gar nicht mehr raus. Zudem kam dann hinzu, dass ich von Stund an nicht mehr richtig schlafen konnte. Ich war abends einfach nicht müde, und morgens musste ich früh aufstehen. Mein ganzer Schlaf-wach-Rhythmus war durcheinander, und hier musste ich etwas leisten, um Geld zu verdienen. Ich hielt das ein paar Tage durch, konnte mich aber nicht konzentrieren bei dem Schlafdefizit, und zum Arzt zu gehen, traute ich mich nicht. Was sollte ich dem sagen, dass ich mit 18 Jahren nicht schlafen konnte? Also schritt ich zur Selbsthilfe, ging in die Apotheke und kaufte mir freiverkäufliche Schlafmittel. Die konnten doch nicht schädlich sein, wenn sie einfach so zu kaufen waren.

Diese Schlafmittel damals waren alle mit einem Wirkstoff – Brom – versehen, den es heute nicht mehr ohne Rezept gibt, weil er viel zu gefährlich ist. Nun: Ich schluckte meine Schlaftabletten und konnte endlich wieder abends einschlafen und morgens früh aufstehen. Wenn eine Schachtel leer war, holte ich die nächste, und als mir das dann doch zu heiß wurde, ständig Tabletten zu nehmen, kaufte ich Beruhigungssaft. Säfte bekamen sogar kleine Kinder, also war das nicht schädlich – nur, in diesem Saft war auch Brom enthalten. Der Körper kann Brom nicht richtig wieder ausscheiden, und so setzt sich dieser Stoff im Körper ab und wird immer mehr. Ich wusste das damals nicht, habe aber auch niemanden gefragt.

Erst einmal lief alles prima, ich arbeitete mich in der Küche ein, lief zwar häufig mit Pflastern an den Händen herum, denn ich schnitt mich in sämtliche Finger und verbrannte mich oft und heftig, hatte also in der Küche zwei linke Hände – und das war nun mein Beruf! Gleich in den ersten Wochen verbrannte ich mich so stark beim Pfannkuchenbacken, dass der ganze Arm voller Blasen war und ich ein paar Tage krankgeschrieben wurde. Ein Koch zeigte mir, wie man Pfannkuchen beim Backen in die Luft katapultierte und mit der Pfanne wieder auffing. Das wollte ich nachmachen, hatte jedoch zu viel Fett in der Pfanne, und der Pfannkuchen landete auf meinem Arm.

Eigentlich war ich für die Diätpatienten zuständig, nur war es ein Privatsanatorium, da musste ich halt überall helfen. Diätberatungen führte ich auch durch, nur lief das am Rande mit und ich dachte, das wäre mein Haupttätigkeitsfeld. Auf die Idee nun, doch einen anderen Beruf zu lernen, denn Küche machte mir absolut keinen Spaß, kam ich nicht. Ich musste und wollte Geld verdienen, das war das Wichtigste.

In meiner Freizeit war ich in den ersten Wochen richtig brav, trank keinen Alkohol und brauchte ihn auch nicht, denn ich ging nicht aus. Davon hatte ich damals richtig die Nase voll, auch mit Männern wollte ich nichts zu tun haben. Ich ging mal in ein Café, abends ging ich früh zu Bett und war am nächsten Tag halbwegs fit, denn ich merkte schon, dass ich mit diesen Tabletten morgens einen dicken Kopf hatte, aber das verging im Lauf des Tages.

Damals lernte ich, immer irgendetwas zu schlucken, damit ich schlafen konnte. Dieser Mechanismus ist vierzig Jahre geblieben, nur die Stoffe änderten sich. Das ganz normale Zubettgehen, sich umdrehen und schlafen, geriet aus den Fugen. Mein Leben hing immer mehr von meinem Schlafen ab. Ohne konnte ich mich nicht konzentrieren, und ohne Tabletten oder andere Stoffe konnte ich von da an nie mehr einschlafen.

Eines Abends kamen ein paar Kolleginnen aus der Küche, eine junge Köchin und ein paar gleichaltrige Küchenhilfen, und wollten mir in Bad Wildungen die Lokalitäten zeigen. Ich hatte erst keine Lust, überlegte es mir dann aber doch anders. Wir zogen durch mehrere Lokale, es war wirklich nett. Zuletzt kamen wir in ein Tanzlokal, das hieß Kajüte. Gleich vorne hinter dem Eingang war ein dicker Vorhang, den ich zurückschob, um in das Lokal zu gelangen. Mein Kopf kam hinter dem Vorhang vor, und in dem Moment schaute ich in zwei wunderschöne blaue Augen, denn hinter diesem Vorhang stand ein Tisch, an dem mehrere junge Männer saßen, und diese blauen Augen gehörten einem von ihnen, der mich in dem Moment anschaute, als ich den Vorhang beiseiteschob. Dieser Blick schlug bei mir wie eine Bombe ein! Ich hatte sofort weiche Knie und lief wackelig hinter meinen Begleiterinnen her. Wir setzten uns an einen Tisch, ich mich natürlich so, dass ich den jungen Mann im Blickfeld hatte. Die Musik war ganz nach meinem Geschmack, von einer recht guten Band live gespielt. Wir tranken etwas, unterhielten uns und ich schielte natürlich immer an diesen anderen Tisch. Auf einmal schob der Betreffende mit einem Schwung seinen Stuhl zurück, schaute mich an, machte mir mit den Händen Zeichen zum Tanzen und nickte auffordernd. Ich stand auf wie im Traum, er holte mich ab und wir tanzten wie in einem Märchen zu einem französischen Schlager, der damals modern war: Je t’aime.

Es war um mich geschehen. Er war ein unglaublich gut aussehender Mann, der auch noch gut tanzen konnte und ein überaus charmantes Lächeln hatte. Wir tanzten, bis die Band Schluss machte, meine Begleiterinnen waren längst gegangen. Er brachte mich in einem weißen VW-Käfer nach Hause. Die Welt war von da an für mich nicht mehr so, wie sie früher war. Ich war unglaublich verliebt und wir hatten ein paar wundervolle Wochen. Der einzige Wermutstropfen war, dass Eckhard zwischendurch immer mal von einem Tag auf den anderen verschwunden war. Angeblich war er beim MAD und wurde plötzlich abberufen und war dann eben verschwunden, was er angeblich vorher auch nie wusste.

In dieser Kajüte verkehrten viele Bundeswehrsoldaten aus Fritzlar, wo auch Eckhard und sein Freund Ralf stationiert waren. In der Zeit mit Eckhard trank ich überhaupt keinen Alkohol, er mochte das nicht, ich brauchte auch keinen Mutmacher, da er mich meistens abholte, wenn wir irgendwohin gingen und ich mich dann ziemlich sicher fühlte. Wenn er aber eine Zeit lang verschwunden war, ging ich allein in das Tanzlokal, und da brauchte ich wieder einen seelischen Beistand.

Eines Tages war ich auch allein und traf seinen Freund Ralf, der schleppte mich durch einige Lokale und erzählte mir eine Story, dass Eckhard in Bonn verlobt und deshalb ewig weg sei. Gleichzeitig füllte er mich regelrecht mit Alkohol ab und kam dann anschließend mit zu mir, um noch einen Kaffe zu trinken. Dann hatte ich einen Filmriss. Angeblich war ich mit ihm im Bett, wovon ich nichts wusste, was er dann aber Eckhard erzählte. Der trennte sich daraufhin von mir. Ich konnte das alles nicht verstehen und drohte ihm mit den Worten: „Wenn du mich jetzt verlässt, kannst du mich auf dem Friedhof besuchen.“ „Das zieht bei mir nicht“, entgegnete er und war weg.

Was sollte ich nun machen? Aushalten konnte ich das nicht. Eine Trennung oder Zurückweisung war bei mir gleichzusetzen mit Tod! Die Vorstellung, das auszuhalten und mein Leben allein weiterzuführen, kam mir überhaupt nicht in den Sinn. Mein Leben schien mir in solchen Fällen immer zu Ende zu sein. Was tat ich? Ich ließ mich zu Hause volllaufen und schluckte auch noch Schlaftabletten. Unsere Köchin, die Susi, mit der ich öfters unterwegs war, kam an dem Abend vorbei und fand mich. So landete ich zum zweiten Mal wegen Suizidversuch im Krankenhaus.

Anschließend gab es eine Verwarnung meines Chefs und ich konnte weiterarbeiten.

Über diese Trennung kam ich einfach nicht hin weg. Einige Monate zog ich mich völlig zurück, arbeitete zwar, war aber ansonsten jeden Abend zu Hause, nahm meine Schlaftabletten mit einer gehörigen Portion Alkohol und schlief. Eines Tages stand ein junger Mann vor meiner Tür, den ich auch aus der Kajüte kannte, und sagte: „Hallo, ich bin hier, um dich endlich aus deiner Versenkung rauszuholen. Du ziehst dich jetzt an und kommst mit in die Kajüte!“ Natürlich wollte ich nicht, aber er ließ nicht locker, und so tauchte ich aus meiner Einsamkeit auf.

Ich ging danach wieder regelmäßig aus, trank auch regelmäßig Alkohol und lernte andere junge Männer aus der Kaserne in Fritzlar kennen. Es gab einen Dietmar, den ich sehr gern mochte, aber er trauerte einer Verflossenen nach, und das hatte ich ja schon mal erlebt. Trotzdem wurde ich seinen Eltern vorgestellt, die in der Nähe wohnten, und kam damals auch zum ersten Mal auf den Flugplatz in Kassel. Sein Vater arbeitete im Tower und beide flogen leidenschaftlich Segelflugzeug. Ich schaute mir das Ganze allerdings lieber von unten an, in ein Segelflugzeug zu steigen war für mich bei meiner Höhenangst unvorstellbar. Schade eigentlich, wo doch Fliegen so toll sein soll!

Nach Dietmar kam ein Hansi aus Frankenberg, doch der war verheiratet, so war das auch wieder nix. Mit ihm und dessen Freund hatten wir einen schlimmen Autounfall. Wir waren alle zusammen in Frankenberg zu einer Gartenparty eingeladen worden und fuhren anschließend spät in der Nacht wieder nach Bad Wildungen, da ich am nächsten Tag arbeiten musste. Wir fuhren also fröhlich durch die dunkle Nacht, als wir von einem Gewitter überrascht wurden. Hansi saß am Steuer, machte Blödsinn und sagte: „Schaut mal, wie ich zickzack fahren kann!“ In dem Moment schlug direkt vor uns ein Blitz ein und dann überschlugen wir uns zickzack zwei Mal! Ich sah die Böschung auf uns zukommen, ein paar Umdrehungen, und wir standen wieder auf den Rädern. Von hinten hörte ich: „Los Inge, raus!“ Ich öffnete etwas umständlich die lädierte Autotür, schwankte aus dem Auto und der Freund von Hansi ebenfalls. Verdattert und zitternd standen wir da und wussten gar nicht so richtig, was los war – und Hansi war verschwunden! Ihn haben wir etwas entfernt von dem demolierten Auto gefunden. Er war bei dem Manöver durch die Scheibe geflogen. Wir tasteten uns nach Verletzungen ab und hatten wohl einige Schutzengel gehabt! Niemanden war etwas passiert, außer ein paar Schrammen, nur Hansi hatte jede Menge Scherben und Splitter auf dem Kopf.

Wir rückten die Sitze in dem eingedrückten Wagen zurecht und probierten, ob er noch ansprang, dann zogen wir ihn aus dem Acker und fuhren tatsächlich mit diesem Wrack noch bis Wildungen. Die Straße war zum Glück wenig befahren, und um diese nächtliche Uhrzeit schon gar nicht. Bei mir im Zimmer gab es einen Kaffee und ich suchte Hansi die Scherben aus den Haaren. Anschließend fuhren die beiden mit dem Schrotthaufen tatsächlich noch nach Hause.

Am nächsten Tag bekam ich im Nachhinein erst richtig Angst und konnte es gar nicht glauben, wie viel Glück wir hatten. Ich machte zu dem Zeitpunkt den Führerschein. Die weitere Teilnahme am Unterricht sagte ich ab und setzte mich einige Zeit in kein Auto mehr.

Danach lernte ich Hartmut kennen. Hartmut war auch in Fritzlar stationiert und ein sehr netter junger Mann, der außerdem frei und ungebunden war. Er mochte mich sehr gern, nur ich hatte bei all den Bekanntschaften immer noch Eckhard im Kopf, und Eckhard kam auch tatsächlich noch einmal wieder und wir verbrachten einen wunderschönen Abend in der Kajüte und tanzten auf dieselbe Musik, wie bei unserem ersten Tanz. Leider verabschiedete sich Eckhard dann für immer, weil er mit seinem Freund nach Südafrika ging, um dort ein Büro zu übernehmen.

Sofort hatte ich die fixe Idee, als Entwicklungshelferin ebenfalls dort zu arbeiten. Als Krankenschwester wäre das sofort gegangen, nur Diätassistentinnen brauchten sie leider nicht. Also hielt ich mich nach heftiger Wiedersehensfreude und anschließender großer Trauer an den besagten Hartmut. Hartmuts Familie hatte eine recht große Firma für Alufenster und Türen. Außerdem besaßen sie ein paar Sportflugzeuge, da hätte ich auch wieder fliegen können – nur das war nun leider nicht mein Ding! Hartmut meinte es ernst mit mir, ich ließ mich auch drauf ein, obwohl sein Vater alles andere als begeistert von mir war. Eine Büroangestellte oder Sekretärin wäre ihm wesentlich lieber gewesen, als eine Diätassistentin – ich hatte doch keine Ahnung von geschäftlichen Dingen.
Hartmut ließ aber nicht locker und wollte sich mit mir verloben. Karten wurden verschickt, es sollte eine größere Feier werden. Ich half auch bei den Vorbereitungen, bis ich dann zwei Tage vorher kalte Füße bekam und einfach abhaute. Das war dann diese Episode. Hartmut gab zwar immer noch nicht auf, aber ich wollte einfach nicht. Er war ein echt guter Kerl, ich hatte ihn auch sehr gern, aber Liebe war das nicht, ich dachte immer nur an Eckhard, der bis heute meine große Liebe blieb. Solche weichen Knie und Schmetterlinge im Bauch habe ich nie mehr in meinem Leben gehabt. Irgendwann war Eckhard noch einmal in Bad Wildungen, als er in Deutschland zu Besuch war, doch da war ich nicht mehr dort, als er mich treffen wollte und in meiner damaligen Arbeitsstelle nach mir fragte.

Gesundheitlich ging es mir immer schlechter, mir wurde oft schwindelig, und hin und wieder fiel ich einfach um und war kurz bewusstlos. Mit den Tabletten brachte ich das überhaupt nicht in Verbindung, und das bisschen Alkohol konnte es auch nicht sein, denn andere tranken viel mehr. Man schickte mich zum Arzt, der checkte mich durch, fand aber nichts, aber mir ging es immer schlechter. Alle meinten dann, ich hätte psychische Probleme, und so hörte ich dort auf zu arbeiten und ging tatsächlich wieder nach Hause. Was sollte ich auch noch in Wildungen? Eckhard kam nicht wieder, auf ihn brauchte ich dort also nicht zu warten.

 
Bromintoxikation
 
Nach kurzer Zeit zu Hause fing ich im Krankenhaus von Witzenhausen an zu arbeiten und hatte auch dort ein Zimmer im Schwesternheim. Die Arbeit war nichts Neues, die Küche kannte ich bereits von meinem Praktikum her. Einen Freund wollte ich nicht, also vergrub ich mich in die Arbeit, und mit meinen Pillen konnte ich schön lange schlafen. Nur wurde es gesundheitlich immer kritischer, was ich gar nicht verstand. Ich trank keinen Alkohol, ich ging nicht aus, ich schlief viel und der Arzt in Wildungen hatte auch nichts fest gestellt. Was war bloß mit mir los? Eines Abends war ich so neben der Kappe, dass ich wie bewusstlos auf meinem Bett lag, nachdem ich eine Zigarette geraucht hatte. Irgendwie war ich richtig weggetreten, die Zigarette glimmte vor sich hin, ich wäre fast im Bett verbrannt. Bettzeug und mein Bademantel waren zum Teil verkohlt. Wieder war mein Schutzengel da.

Ich musste zum Chefarzt der inneren Abteilung gehen und er checkte mich ebenfalls durch – ohne Erfolg! Meine Mutter war sogar noch dabei, weil ich fast nicht allein stehen konnte und mir ständig schwindelig war. Dann sagte dieser Arzt doch tatsächlich zu mir bzw. mehr zu meiner Mutter: „Ihrer Tochter fehlt nichts, ich kann nichts finden, wahrscheinlich ist das psychisch bedingt.“

Daraufhin sagte ich – ich konnte ihn sowieso nicht leiden, wir hatten oft Meinungsverschiedenheiten wegen der Diäten: „Ich stell mich doch nicht an, ich kann kaum allein stehen, dann bin ich wohl bekloppt, da müssen Sie mich in die Nervenklinik einweisen!“

„Wenn Sie das wollen, überweise ich Sie.“

„Na, irgendwas muss ja wohl passieren, so geht es nicht weiter, also ja!“

Meine Mutter fuhr mit nach Göttingen in die Universitäts-Nervenklinik. Dort kam ich in der Ambulanz zu einem Arzt, der mich als Erstes fragte, ob ich irgendwelche Medikamente einnehmen würde. „Na ja, Medikamente direkt nicht, aber ich kann nicht schlafen, und so hole ich mir seit etwa zwei Jahren freiverkäufliche Schlaftabletten aus der Apotheke oder einen Beruhigungssaft.“

Der Arzt schaute mich an, untersuchte mich gar nicht weiter, sondern nahm mir Blut ab. Danach schickte er mich nach Hause. Ich sollte mich am nächsten Tag melden wegen des Ergebnisses. Dass ich ständig Schlaftabletten nahm, hatte ich bis dahin noch niemanden erzählt – es hatte mich allerdings auch niemand, auch kein Arzt, danach gefragt. Ich hätte nie gedacht, dass diese Tabletten schädlich sind, es nahmen doch viele Menschen Schlaftabletten, und die gab es ja sogar ohne Rezept.

Ich fuhr also mit meiner Mutter wieder mit dem Zug nach Hause. Als wir zur Haustür reinkamen, klingelte das Telefon. Ich ging dran, es war der Arzt aus der Klinik in Göttingen. „Sie haben eine sehr schlimme Bromintoxikation und müssen sofort stationär behandelt werden. Ich beauftrage einen Krankenwagen, der ist gleich bei Ihnen.“ Ich war total erschrocken, und meine Mutter konnte es auch nicht fassen. Wir packten schnell ein paar Sachen zusammen, und dann war auch schon der Krankenwagen da.

In der Göttinger Klinik schaute man mich an, als wenn ich ein Geist wäre. Ich kam in ein Einzelzimmer und wurde rund um die Uhr betreut, wirklich wie eine Schwerkranke. Ich musste viel trinken, und dazu auch noch Salzwasser, und bekam Infusionen, damit dieses Bromzeug aus dem Körper ausgeschwemmt werden sollte. Ich hatte einen so hohen Bromspiegel im Blut, dass ich eigentlich schon längst hätte tot sein müssen. Doch ich lief noch rum und hatte sogar Tage davor gearbeitet und der Arzt in Witzenhausen meinte, ich würde mich anstellen, ich wäre nicht krank. Hätte ich nicht auf eine Überweisung in die Nervenklinik bestanden, wäre ich damals bereits gestorben! Mein Schutzengel war wieder recht aktiv.

Zum Schlafen bekam ich ein anderes Mittel und man empfahl mir, anschließend eine Therapie zu machen, damit sich mein Schlafrhythmus wieder normalisierte. Ich lehnte ab, ein halbes Jahr ohne Arbeit und Geld, das ging nicht! Später sollte ich diese Entscheidung schwer bereuen.

Mein ganzes Leben geriet wegen dieser Schlafprobleme aus den Fugen. Acht Wochen war ich in der Klinik und hatte mir bereits von dort aus schon wieder eine neue Arbeitsstelle in Bad Pyrmont besorgt. Von der Klinik bekam ich für die nächsten drei Monate ein dickes Paket mit Beruhigungs- und Schlaftabletten mit, damit ich ja nicht wieder Brom zu mir nahm. Eigentlich hätte mir mal der Gedanke kommen können, dass ich nicht mein ganzes Leben solche Medikamente nehmen könnte, denn ich war damals gerade zwanzig Jahre alt. Soweit dachte ich leider nicht, Geld verdienen war mein oberstes Gebot, egal zu welchem Preis.