Wieder zu Hause – doch nicht lange…

Wieder richtete ich mich zu Hause ein. Melanie freute sich, dass ihre Mama wieder ganz da war, doch sie fing immer mehr an, mich zu beobachten. Natürlich hatte sie längst mitbekommen, dass ich manchmal sehr eigenartig war, überdreht oder meistens müde. Ich redete oft komisch und dann schlief ich. Sie bekam mit, dass Oma und Opa besorgt über ihre Mama sprachen, und fing wahrscheinlich schon als kleines Kind an, auf ihre Mama aufpassen zu wollen. Wenn ich nach Hause kam, an der Tür klingelte und meine Mutter aufmachte, stand sie schon hinter Omas Rücken und hielt sich an ihrem Rock fest. Der Kopf schaute an der Seite vor, die Augen auf mich gerichtet, ängstlich prüfend und auch mit ein wenig Hoffnung, so als wenn sie fragen wollte: „Ist meine Mama in Ordnung oder hat sie wieder so ein komisches Zeug genommen?“


Irgendwann sah mir Melanie jede Tablette an. Dann schaute sie traurig zur Seite, drehte sich um und lief in die Wohnung. Jedes Mal krampfte sich mein Herz zusammen und trotzdem konnte ich mich nicht ändern. Noch heute sehe ich in der Erinnerung diese traurigen Augen meiner kleinen Tochter. In meinem Heimatort traute ich mich nicht mehr auf die Straße, ich fuhr nur noch mit dem Auto durch das Dörfchen, hoffend, dass mich niemand sah. Irgendwie hatte ich schon erkannt, dass diese Tabletten mir nicht wirklich halfen, ich aber ohne sie auch nicht klarkam. Alkohol wollte ich auch keinen trinken, um meine Ängste zu bremsen, er hatte mir noch nie geschmeckt, ihn trank ich nur im „Notfall“, wenn ich keine Beruhigungsmittel hatte. Ein- oder zweimal kam ich mit dem Rettungswagen ins Krankenhaus, wo mir der Magen ausgepumpt wurde, weil ich mal wieder nicht ansprechbar in meinem Bett lag und meine Eltern Angst hatten. Es war wohl auch immer an der Grenze, was ich da einnahm, doch umbringen wollte ich mich nicht mehr, einfach nur betäuben. Diese inneren Ängste wurden natürlich mit den Tabletten immer schlimmer anstatt besser, das wusste ich aber nicht, und dann diese unglaubliche Leere und tiefen schwarzen Löcher, die mich zu verschlucken drohten. Was sollte ich bloß machen?

Vielleicht noch einmal eine Kontaktanzeige? Weit weg von daheim zu arbeiten ging ja nicht gut. Irgendwie hatte ich ständig das Gefühl, allein nichts wert zu sein, und zum anderen gar nicht allein leben zu können. Wie die Saiten einer Geige einen Resonanzkörper brauchen, so brauchte ich einen anderen Menschen, mit dem ich vielleicht leben könnte, als wenn ich einen anderen Körper zum Existieren brauchte. So lernte ich durch eine Anzeige einen Mann aus Bad Oeynhausen kennen. Er war sehr nett, unterhaltsam, war geschieden und hatte selbst eine Tochter, die bei der Mutter lebte. Er hatte eine große Wohnung in Bad Oeynhausen, wo ich nach kurzer Zeit tatsächlich mit Melanie hinzog. Ich wollte endlich mit einem Mann eine richtige Familie haben und nicht nur mit Melanie bei meinen Eltern leben.

Anfangs lief es recht gut, ich war zu Hause, kümmerte mich um den Haushalt und um Melanie, er war Geschäftsführer und tagsüber nicht da. Natürlich ging das auch wieder schief. Er merkte ziemlich schnell, was mit mir los war, rief meine Eltern an, damit sie Melanie abholten. Ich wollte noch dort bleiben und wieder in einer Klinik in Bad Salzuflen arbeiten. Wie immer war ich am Anfang sehr motiviert und nahm auch keine Tabletten. Dann konnte ich aber nächtelang nicht schlafen, wobei ich morgens um sechs Uhr zu arbeiten anfangen musste. Wenn ich dann erst um vier Uhr morgens eingeschlafen war und um fünf Uhr wieder aufstehen musste, hatte ich mich kaum erholt.

Ein paar Wochen schaffte ich das irgendwie, doch meine Konzentration war gleich null, und somit musste ich dann zur Klinikleitung. Dem Chefarzt erzählte ich von meinen Schlafproblemen, er gab mir irgendein Schlafmittel und empfahl mir, Sport zu machen, zum Beispiel im Klinikschwimmbad zu schwimmen. Ich tat alles, aber nach kurzer Zeit versackte ich wieder. Ich war einfach total ausgebrannt, nachts konnte ich nicht schlafen, tagsüber war ich todmüde, unruhig und konnte überhaupt nicht mehr denken. Ich wollte nur noch endlich wieder schlafen.

Mein Freund war ein paar Tage zu einem Seminar gefahren, ich war allein zu Hause, und schon schwamm mein ganzes Leben wieder dahin. Abends trank ich zu den Tabletten, weil sie nicht schnell genug wirkten, Alkohol und torkelte durch die Wohnung, fiel hin und voll gegen eine Glastür, die zu Bruch ging, und in den Scherben schnitt ich mir den linken Arm an mehreren Stellen richtig tief auf. Zum Teil waren sogar Scherben in den Wunden drin, aber das bemerkte ich gar nicht. Ich sah nur, dass das Blut an meinem Arm runterlief, nahm Handtücher, wickelte sie um den Arm und glaubte in meinem tranigen Kopf, dass das reichen würde. So legte ich mich ins Bett. Am nächsten Tag kam dann mein Freund und fand mich halb verblutet im Bett liegen. Ich wurde in ein Krankenhaus eingeliefert, der Arm wurde versorgt und ich auch. Bis heute sind die Narben zu sehen, denn die Schnittwunden konnten nach der langen Zeit nicht richtig geschlossen werden.

Nun reichte es wieder einmal! Walter sprach mit den Ärzten, und so sollte ich zu einer psychotherapeutischen Behandlung in eine Psychiatrie. Dort wollte ich aber nicht bleiben, ich wollte wieder nach Göttingen. Aus irgendeinem Grund ging das nicht und ich kam nach Merxhausen bei Kassel. Das ist ein richtiger Komplex für psychisch kranke Menschen.

Dort wurde ich auf eine geschlossene Abteilung gelegt, denn ich sollte endlich einen richtigen Tablettenentzug machen. Wie das ablief, wusste ich ja schon: zittern, Herzrasen, schwitzen, Angst. Nur hier kam dann noch furchtbare Atemnot dazu. Ich japste nach Luft, mein Gesicht lief blau an und meine Bettnachbarin rannte vor lauter Angst auf den Flur und rief nach Hilfe. Die Schwestern informierten sofort einen Arzt. Der stand dann an meinem Bett und sagte völlig ruhig zu mir: „Hatten Sie schon mal eine Nierenkolik? Nein? Dann haben Sie jetzt eine. Wenn man so viel Tabletten schlucken kann, dann muss man die hinterher auch aushalten können.“ Er streifte mich mit einem kurzen Blick und war wieder verschwunden.

Wie ich die Nacht rumgekriegt habe, weiß ich nicht mehr. Am nächsten Tag war zufällig eine Röntgenreihenuntersuchung. Alle Patienten, die laufen konnten, mussten zu einer Station gehen, wo das Röntgen stattfand. Ich konnte angeblich auch laufen, also lief ich, bzw. wurde mehr oder wenige von Mitpatienten geschleppt. Als die Ärztin mein Röntgenbild sah, kam sie auf mich zugelaufen, ich musste mich sofort hinsetzen, es kam ein Rettungswagen und ich wurde mit Blaulicht in die Lungenklinik nach Immenhausen gebracht. Dort kam ich sofort in den OP, wo man irgendetwas zwischen meine Rippen spritzte. Ich hatte eine doppelseitige Rippenfell- und Lungenentzündung, mein Leben stand auf der Kippe. Das war die angebliche Nierenkolik. Der Chefarzt in Immenhausen schüttelte nur mit dem Kopf und konnte es nicht glauben. Wäre nicht zufällig diese Röntgenuntersuchung gewesen, hätte ich nicht überlebt.

 Wieder einmal war ich dem Tod von der Schippe gesprungen. Ich muss eine ganze Armada von Schutzengeln haben! Ich blieb acht Wochen in dieser Klinik und wurde auch psychotherapeutisch betreut, bis ich wieder körperlich einigermaßen fit war. Meine Eltern besuchten mich mehrmals in dieser Zeit mit Melanie.

In der Klinik erfuhr ich von einer neuen Entzugseinrichtung in Kassel-Calden. Noch von der Lungenklinik aus wurde ich dort angemeldet. Ich wollte endlich gesund werden, auch innerlich. Während der Aufenthalte in Psychiatrien war ich immer auch kurzzeitig von Psychologen betreut worden, doch geholfen hatte es mir nie. Vielleicht brachte es ja etwas, wenn ich eine richtige Entziehungskur machen würde! Ich wollte schon irgendwie leben, umbringen nicht mehr, aber so nicht, das konnte ich nicht aushalten. Ich saß ja nicht in den Kneipen und ließ mich volllaufen, weil es mir Spaß machte. Ich hasste Alkohol und musste mir immer noch die Nase zuhalten, schnell ein Glas Wein oder Bier runterschütten und schnell die Hand vor den Mund legen, damit es nicht wieder rauskam. Ich ekelte mich regelrecht davor, und die Tabletten schmeckten ja nun auch nicht wie Bonbons. Was sollte ich denn machen? Ich konnte einfach nicht schlafen, und ständig den ganzen Tag diese innere Unruhe – das war nicht zum Aushalten! Immer wurde mir gesagt, der Schlaf kommt, wenn nicht in der ersten, dann in der zweiten Nacht. Einmal habe ich in einer Klinik eine ganze Woche nicht geschlafen, weder in der Nacht noch am Tag, man gab mir auch nichts, man wollte mich zwingen. Das Ganze ging dann so aus, dass ich ohnmächtig wurde und viele Stunden bewusstlos war. Da kapierten die Ärzte, dass ich wohl ein Sonderfall sein müsse, und ich bekam wieder Schlafmittel.

Mit meiner Esserei und Brecherei hielt es sich zwischenzeitlich in Grenzen, allein schon deshalb, weil ich bei den Klinikaufenthalten nichts einkaufen konnte. Und von dieser Anomalie wusste niemand, ich sprach auch nicht darüber. Magersucht und Fettsucht waren bekannt, doch über Bulimie sprach damals keiner.

Ich kam also nach Kassel-Calden in die Entzugsklinik. Dort war ich ein halbes Jahr. Warum ich mich an therapeutische Maßnahmen in dieser Klinik nicht erinnern kann, weiß ich nicht. Das Einzige, was mir einfällt, waren am Anfang die Mäuse in meinem Zimmer. Ich war eine der ersten Patienten in dieser neuen Klinik und bekam ein wunderschönes kleines Einzelzimmer. Den schweren Entzug hatte ich ja schon hinter mir, konnte aber wie gehabt nicht schlafen und lag oft wach auf meinem Bett. Da hörte ich irgendwelches Gekratze in den Wänden und in der Decke über meinem Kopf. Erst dachte ich selbst, ich würde mir das einbilden, aber es wurde immer schlimmer, und so sagte ich auf der Station Bescheid. Tatsächlich schaute man mich etwas mitleidig an, weil man glaubte, die spinnt! Keine Ausnahmeerscheinung bei suchtkranken Menschen. Gut, also bildete ich mir das ein. Eines Tages jedoch sah ich an der Decke ein kleines Loch, was jeden Tag größer wurde. Und nun glaubte man mir. Der Hausmeister kam und stellte fest, dass es Mäuse waren, die sich in einer Art Zwischendecke eingenistet hatten. Ich war nun nicht verrückt, aber mein schönes Zimmer war ich auch los und bekam ein anderes. Es gab viele Therapiesitzungen und Gruppengespräche, die für mich neu waren und wo ich anfangs überhaupt nichts sagen konnte. Ich schwieg die meiste Zeit.

Geholfen hat mir der ganze Aufenthalt nichts, denn auf dem Weg nach Hause besorgte ich mir wieder Tabletten und endlich wieder Süßigkeiten. Ich kam nach einem halben Jahr Entziehungskur zu Hause mit geschluckten Pillen an. Die Enttäuschung meiner Eltern und vor allem von Melanie mag ich mir gar nicht vorstellen! Überhaupt wird mir beim Zurückdenken und Schreiben immer klarer, was meine Eltern und meine Tochter für schlimme Zeiten mit mir erlebt haben. Und ich weiß ja, wie nachhaltig Erinnerungen aus der Kindheit wirken. Ich wollte meinem Kind bestimmt nicht wehtun, ich wollte für Melanie da sein und leben, aber wie? In einem Glashaus à la Klinik kam ich ganz gut klar, aber sobald ich draußen war, brach ich innerlich zusammen, es ging gar nichts mehr, nur noch wegbeamen!

Mein späterer, sehr hilfreicher Therapeut hat mal gesagt: „Es gibt Menschen, die können nicht in Freiheit leben. Wenn sie aus dem Gefängnis kommen, begehen sie irgendwelche kleinen Delikte, damit sie wieder hinter Gitter können. Bei aller Schwere ist ein Gefängnis auch ein sicherer Ort.“

Ich wollte in keinem Gefängnis leben, aber in Freiheit lief es auch nicht.

Zu Hause bekam ich wieder zunehmend Angst und es kümmerte sich dann ein Arzt aus unserer Nähe um mich. Er kam immer vorbei, wenn meine Mutter ihn anrief, und brachte mir dosiert irgendein Medikament, das mir auch wirklich half. Lange wusste ich nicht, was es war, aber irgendwann kam ich dahinter und suchte mir einen anderen Arzt, der mir das dann auf Rezept verschrieb. Mit diesem Medikament aus der Gruppe der Benzodiazepine konnte ich dann ganz gut leben, nur brauchte ich immer mehr und war davon schnellstens abhängig.

Ich hatte sogar so viel Mut, dass ich eines Tages allein nach Göttingen in eine Diskothek fuhr. Dort verbrachte ich die halbe Nacht, dann fuhr ich mit einem mir unbekannten Mann in das Haus meiner Eltern, wo wir in meinem Zimmer miteinander schliefen. Wir waren so leise, dass meine Eltern nichts mitbekamen – nur leider war ich dann schwanger! Gott sei Dank merkte ich das gleich am Anfang. Ich lief zu einem befreundeten Arzt, der mir eine Spritze verpasste, die dann auch tatsächlich eine Blutung auslöste. Damit musste ich dann in ein Krankenhaus und bekam eine Ausschabung. Also, das hatte ich dann auch noch hinter mich bringen müssen, ich ließ wirklich nichts aus!

Weiter entfernt von Zuhause arbeiten lief nicht, als Diätassistentin in eine Klinik wollte ich auch nicht mehr, so versuchte ich in Göttingen eine Tätigkeit zu finden. Es gelang mir nach langem Suchen, eine Arbeit in einem Reformhaus zu finden. Ich war happy, endlich keine Großküchenarbeit mehr! Die Inhaberin wollte mir auch bei meinen Schwierigkeiten helfen, und wenn es ganz schlimm wurde, konnte ich nachts in der Uni-Psychiatrie übernachten und am nächsten Tag wieder arbeiten gehen.

Eine Zeit lang lief alles ganz gut, es machte mir auch Spaß, bis ich wieder die Orientierung und vor allem die Dosierung meiner Tabletten verlor, und eines Tages behielt man mich am nächsten Morgen in der Klinik und brachte mich wieder nach Merxhausen. Ich war schwer sauer, denn ich war freiwillig über Nacht gekommen. Doch am nächsten Morgen war ein anderer Arzt da, der mich noch nicht kannte und der meinte, er müsse mich festsetzen.

Also wieder in Merxhausen! Natürlich wollte ich dort nicht bleiben und machte einen Riesenaufstand, wollte raus! Man beruhigte mich, dann musste ich ins Ärztezimmer kommen und dort saß ein Richter, der mich nun mit richterlichem Beschluss auf dieser Station festhielt. Mir wurde sogar gesagt, dass diese Verfügung bis zu zwei Jahren gültig sein kann, je nachdem, wie ich mich dort in die Therapie einfügte. Alles Aufregen nutzte nichts, ich saß fest.
Meine Eltern kamen mich wieder mit Melanie besuchen und brachten mir Kleidung und andere Dinge für mehrere Monate mit. Wieder musste meine Tochter ihre Mutter hinter Gittern besuchen. Eine richtige Beziehung konnte weder sie zu mir noch ich zu ihr aufbauen. Eigentlich waren wir uns fremd, und das wiederum ließ immer mehr Eifersucht auf meine Mutter aufkommen. Nur: Wäre sie nicht gewesen, was hätte aus meiner Tochter werden sollen?

Was ging in diesem kleinen Kopf wohl vor sich? Keinen Vater und eine Mutter, die ständig irgendwelches Zeug schluckte und dann wieder eingesperrt wurde. Ihre traurigen Augen habe ich mein Leben lang vor mir gesehen.
Ich kam auf eine sogenannte Suchtstation, die damals noch sehr rar gesät waren. Meist war ich auf einer allgemeinen Station mit allen anderen psychisch Kranken untergebracht worden, also beispielsweisen mit schizophrenen und paranoiden Menschen. Da habe ich eine Menge während meiner Aufenthalte erlebt, von Leuten, die sich geschlagen haben – da hatte man plötzlich eine Ohrfeige weg -, bis zum Gewürgtwerden von einer solchen kranken Person. Da ich nachts meist wach war und nicht unter starken Beruhigungsmitteln stand, lief ich oft auf den Gängen herum und habe dort so allerhand miterlebt, was mir natürlich noch mehr Angst gemacht hat. Dann das ständige Schlüsselgeklimper, da auf den geschlossenen Stationen alle Zimmer abgeschlossen waren! Noch heute, dreißig Jahre später bekomme ich Panik, wenn mich jemand aus Versehen einschließt. Diese teilweise schrecklichen Erlebnisse haben auch mit dazu beigetragen, dass ich später nie mehr auf so eine Station musste.

Auf dieser Suchtstation gab es wieder Einzelgespräche und Gruppentherapie. Meine Mitpatienten waren ganz nett, und der Therapeut auch. Ich war voll engagiert und wusste ja von der vorhergehenden Suchtklinik, auf was es ankam, und spielte den total einsichtigen Patienten. Im Inneren war ich aber nach wie vor sauer, dass man mich so einfach eingebuchtet hatte, obwohl ich in Göttingen doch für eine Nacht freiwillig in die Klinik gegangen war. Immerhin ein erstes Anzeichen von Aufbäumen gegenüber Anderen!

So war ich dann auch eine sogenannte Musterpatientin und wickelte den Therapeuten regelrecht um den Finger. Der richterliche Beschluss wurde nach drei Monaten aufgehoben und ich durfte wieder nach Hause. Schlafprobleme hatte ich natürlich immer noch, wobei ich inzwischen merkte, dass ich mich in so einem „Gefängnis“ relativ sicher fühlte, und tatsächlich nicht so ganz gravierende Schlafprobleme hatte. Ich bekam dosiert ein Medikament, was mich allgemein ruhiger machte.

Also wieder zu Hause, wie lange diesmal? Vorsichtiger wurde ich jetzt schon, denn noch mal wollte ich auf keinen Fall eingesperrt werden. Nach kurzer Zeit fing ich wieder in Göttingen im Reformhaus an zu arbeiten. Alkohol ließ ich ganz sein, nur Süßigkeiten verschlang ich immer mehr, aber das merkte ja niemand. Da mir die Arbeit großen Spaß machte und wie überall meine fachliche Kompetenz sehr geschätzt wurde, schickte mich die Inhaberin nach Oberstedten auf die Reformhausfachakademie, um mehrere Kurse zu absolvieren, damit ich irgendwann ein Reformhaus leiten könne. Jetzt war ich aber wieder weiter weg und meine Angst zu versagen nahm zu.

Vor allem musste ich dort erst einmal hinkommen, denn Autobahn fuhr ich damals schon nicht. Vor ein paar Jahren war ich ja mit meinem Auto auf der Autobahn ins Schleudern gekommen, hatte den Wagen jedoch wieder unter Kontrolle gebracht und bin bei der nächsten Abfahrt runtergefahren, wo dann das große Zittern losging. Danach bin ich nie wieder Autobahn gefahren. Also suchte ich mir eine Strecke über die Landstraße. Das war dann schon eine echt große Leistung, als ich in der Schule ankam. Unsicher nach außen hin – doch ja nichts anmerken lassen! – fing ich meine Kurse an.

Es war sehr interessant. Viel Stoff kannte ich von der Diätschule, und so war einiges für mich Wiederholung. Das Zimmer teilte ich mit einer sehr netten jungen Frau, die mich aber leider wieder zum Alkohol verführte. Da brauchte es nicht viel, denn ich war angespannt, voller Ängste, und mit einem alkoholischen Getränk ging alles viel leichter – wie immer. Ich hatte aber trotzdem Bedenken, dass ich die Kontrolle verlor und wieder abstürzte, also suchte ich in Bad Homburg einen Neurologen auf, der mir regelmäßig und in höheren Dosen Lexotanil verschrieb – einen Tranquilizer, der wunderbar half, mir meine Ängste nahm und ich schlafen konnte. Plötzlich war alles richtig leicht, ich konnte mich besser konzentrieren und kam bestens im Unterricht mit. Es lief sogar so gut, dass man mir in der Akademie eine Stelle als Diätassistentin anbot. Ich nahm nach kurzem Überlegen an und konnte sogar die kleine Wohnung meiner Vorgängerin in Bad Homburg übernehmen. Warum ich das tat? Gut, die Aufgabe machte mir sicherlich Spaß, vielleicht war es aber auch einfach ein vernebeltes Denken und Selbstüberschätzung.

Suchtkandidaten haben nie ein klares Denken, deshalb sagt man ja auch: „Der hat Haus und Hof versoffen oder verspielt.“ So viel kann ein Mensch gar nicht trinken, doch das vernebelte Denken führt zu den unmöglichsten Entscheidungen! Die Reformhausbesitzerin aus Göttingen hatte einige Tausend Mark für die Kurse bezahlt und wollte nun entweder mich oder das Geld zurückhaben. Sicherlich trugen die Tabletten zu meiner Entscheidung bei, denn einfach so weit weg von meiner Tochter zu sein, die Superstelle in Göttingen aufzugeben, zumal die Inhaberin mir sehr zugetan war und mir auch privat helfen wollte, war gelinde gesagt eine Schnaps-, besser eine Tablettenidee. Meine Eltern sagten zu meiner Entscheidung nichts, ich glaube, sie waren einfach froh, dass ich überhaupt lebte, und außerdem hatten sie ja einen Ersatz für mich: meine Tochter.