»Kind, sei artig!«
Arnsberg – Meine Schulzeit 1931-1938

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Zu Beginn meiner Schulzeit zogen wir von Brilon nach Arnsberg, wo mein Vater ein neues Haus mit 14 Zimmern gebaut hatte. Ich schlief mit Edeltraud und Franziska zu dritt in einem Durchgangszimmer; daneben im Hinterzimmer wohnte eine der älteren Schwestern. Sie musste uns beaufsichtigen, damit wir Kleinen keinen Unsinn machten. Die Jungs hatten oben im Dachgeschoss ihr eigenes Zimmer. Agnes schlief im Erdgeschoss neben dem Wohnzimmer. Das Wohnzimmer selbst war das Heiligtum des Hauses, da durften wir nur zu besonderen Anlässen hinein. Die Tür war meistens abgeschlossen. Neben dem Bad in der ersten Etage hatte Vater sein Büro eingerichtet, und am Ende des Gangs war das elterliche Schlafzimmer. Am anderen Ende des Gangs waren die Küche, die extra angebaut worden war, sowie große Spielzimmer und das Esszimmer.

Meine Schwester Franziska, mit der ich das Zimmer teilte, war ein stolzes Mädchen. Sie baute gern Luftschlösser und war Zeit ihres Lebens auf der Suche nach dem Märchenprinzen. Sie lebte in ihrer eigenen Phantasiewelt und wollte von früh auf hoch hinaus. Für sie waren wir nur minderwertige Kreaturen, die ihr zu dienen hatten. Da haben wir Franziska natürlich nur allzu gern geärgert! Mir spielte sie einmal so böse mit, dass ich Rache schwor und ihr, als sie schlief, kaltes Wasser in den Mund goss. Kreischend schreckte sie auf und jagte mich im Nachthemd raus auf die Strasse. Wir schrieen, bis die Eltern auftauchten und ich eine Tracht Prügel bekam. Als Kind konnte ich mir nicht vorstellen, dass man an dem, was ich getan hatte, ersticken konnte.

Der Grund, warum ich diesen Streich überhaupt gemacht hatte, war der: Irgend jemand hatte heimlich eines von Vaters Paketen geöffnet. Als er nach Hause kam und in seinem Büro das geöffnete Paket vorfand, fragte er natürlich zuerst meine Mutter, ob sie es geöffnet habe. Sie verneinte – nie im Leben würde sie ein Paket von ihm unerlaubt öffnen! Da öffnete er das Fenster und rief: »Alles, was Obermüller heißt, reinkommen!« Später lachten die Nachbarn noch lange über die Aktion, aber in diesem Moment war uns nicht zum Lachen zumute.

»Treppe rauf!« Wutentbrannt dirigierte er uns ins Badezimmer und ließ uns im Kreis aufstellen. Er stellte sich in die Mitte und schaute jedem einzelnen in die Augen und zeigte mit dem Finger auf ihn: »Hast du das Paket aufgemacht?“
Sieben Mal dieselbe Frage, und immer kam die gleiche Antwort: »Nein Vater, ich war’s nicht gewesen.«
Keiner sagte »ja«. Plötzlich öffnete meine Schwester Franziska den Mund: »Veronika hat es gemacht.«

Ohne ein Wort zu sagen oder auf meine flehentliche Entgegnung einzugehen, packte er mich, öffnete seine Bürotür und warf mich durchs Büro in das danebenliegende Schlafzimmer ins Bett. Wäre meine Mutter nicht durch das Geschrei aufgeschreckt worden und hätte ihn festgehalten, wäre es mir noch schlechter ergangen.

Deshalb wollte ich mich an Franziska rächen, die ja viel größer und stärker war als ich. Wie hätte ich es sonst tun sollen, als während sie schlief? Büßen musste ich meine Tat jedenfalls reichlich, neben der Prügel, die ich tagelang noch spürte, gab es Hausarrest.
Franziska zeigte übrigens keinerlei Reue wegen ihrer Lüge, sie war schon ein durchtriebenes Miststück damals – arrogant uns gegenüber, wenn wir nicht das taten, was sie wollte. Sie musste immer im Mittelpunkt stehen. Manchmal riss sie in den Gärten der Nachbarn die Wäsche von der Leine und warf sie in den Dreck. Oder sie schmierte mit Kalk die Hauswände in der Umgebung an. Sie hatte einen Hang zum Radikalen. – Rausgekommen ist es übrigens nie, wer das Paket geöffnet hat, in dem nichts Besonderes drin war außer ein paar Werkzeugen.

Edeltraut dagegen, meine zweite Schwester, mit der ich ein Zimmer teilte, war eher ruhig, besonnen und langsam in allem, was sie tat. Im Gegensatz zu mir, die so quirlig war, war sie auch für Streiche wie »Klimpermänniken“ nie zu haben. Später sagte sie mir, dass sie immer sehr darunter gelitten habe, nicht mit ihrem Zwillingsbruder Theodor zusammen zu sein, der im 2. Weltkrieg gefallen ist. Heute weiß man, dass Zwillinge nach dem Tod des einen mehr zu leiden haben als normale Geschwister.

Disziplin war bei uns zu Hause groß geschrieben. Abends um Punkt sieben Uhr mussten wir ins Bett, und Gnade uns Gott, wenn es auch nur eine Minute später war! Wenn die Standuhr sieben Mal geläutet hatte, lagen wir schon in den Federn. Dann kam Vater an jedes Bett und gab jedem einzelnen die Hand, sagte Gute Nacht und schloss die Tür.

Am liebsten spielte ich Räuber und Schande (Gendarm), machte bei den Schnitzeljagden mit und kletterte wie die Jungs auf die höchsten Bäume. Mir war kein Baum zu hoch, keine Mauer unüberwindlich. Die Buben spielten gern mit mir, weil ich unkompliziert war und voller Ideen steckte, und ich spielte lieber mit ihnen als mit den Mädchen – zum Beispiel Mauseschellen, Klingelstreiche. Oder wir spannten über die Straße ein dünnes Seil, über das die Leute stolpern mussten.

Wir hatten eine Lehrerin, Frau von Papen, eine schöne, große, schlanke Frau, die jeden Abend an der gleichen Stelle über unser Seil stolperte, und wir kringelten uns! Wir konnten nicht begreifen, dass eine Lehrerin, die doch intelligent sein musste, immer wieder auf den gleichen Trick reinfiel. Aber vielleicht – wer weiß – wollte sie uns Kindern auch nur eine Freude machen?

Reinlichkeit war bei uns zu Hause oberstes Prinzip. Mir wäre es peinlich gewesen, wenn die Leute gesagt hätten: »Schau das Kind an! Wie schmutzig es ist!« Das hätte ich nicht ertragen können – und kann es auch heute nicht ertragen. Meine älteste Schwester Agnes achtete mit Argusaugen darauf, dass wir immer wie aus dem Ei gepellt aussahen. Das waren regelrechte Tragödien, wenn wir uns beim Spielen schmutzig gemacht hatten! Dann bekamen wir von ihr geschimpft, dass die Fetzen flogen. »Was bildet ihr euch eigentlich ein, dass ihr euch immer so schmutzig macht? Wer muss denn die Wäsche alle waschen? Ich!«

Agnes nähte auch die Kleider für uns. Es war ein regelrechtes Hobby von ihr, uns picobello fein zu machen. Mit gestärkter Wäsche und Schleifen im Haar waren wir in der Stadt bekannt als die Kinder, die immer fein angezogen waren. Darauf war Agnes natürlich auch sehr stolz!

Jedes Kind hatte im Haushalt seine Arbeiten zu erledigen: Eine Woche Schuhe putzen, Straße fegen, Garten rechen – alles strikt nach Plan. Es gab niemanden, der nicht mitgemacht hätte, denn wenn man sich geweigert hätte, dann… Gehorsamkeit und Pflichtbewusstsein waren strenge Tugenden, denen ich als Kind ebenso wie als Jugendliche und Ehefrau immer nachgekommen bin. So wurde ich erzogen. Mich um das Wohl meiner Familie zu kümmern, war das höchste Ziel. Und dass wir nicht als »Heidenkinder“ aufwachsen, war meinen Eltern sehr wichtig. Wir sollten Gottes Kinder sein, und nicht Gottes Zorn zu spüren bekommen, wenn wir uns von ihm abwandten oder kein gottgefälliges Leben führten. Gottes Strafe fürchtete ich von Kindheit an, deshalb versuchte ich später auch, meine eigenen Kinder zu einem Leben mit Gott zu erziehen – leider vergebens.

Meine Mutter war unser Doktor, wenn wir Kinder krank waren. Sie hat uns kuriert und wieder auf die Beine gebracht. Manchmal lagen wir zu viert oder zu fünft im Bett und hatten vierzig Grad Fieber. Einmal, daran kann ich mich noch gut erinnern, standen sogar die Nachbarn mit Kerzen in der Tür und beteten für uns, damit wir nicht sterben. Vermutlich durch vergiftete Milch, die wir vom Bauernhof meiner Patentante geholt hatten, bekam ich ein ganz übles Augenleiden und Ausschlag, zunächst an den Beinen, dann am ganzen Körper. Ein halbes Jahr lag ich im Bett, war fast blind und musste meine Augen immer verbinden, wenn ich aus dem Haus ging. Trotzdem fand ich das alles nicht so tragisch. Insgesamt waren mein kleiner Bruder Heinz und ich oft krank, aber Mutter hat uns immer wieder kuriert. Sie war wirklich wie ein lieber Gott für uns und hatte ihre Kinder alle im Griff. Sie bemerkte jede Kleinigkeit. Wenn uns etwas fehlte, war sie sofort auf der Hut. Doch verwöhnt wurden wir nicht – so wie die Kinder heute – und auch nicht verschmust in den Arm genommen, das gab es bei uns zu Hause nicht. Meine Mutter war eine zu große Respektsperson, die man bedingungslos geachtet und verehrt hat. Zärtlichkeiten waren tabu.

Ich war natürlich ein freches Mädchen und hab mich oft einfach beim Vater auf den Schoß gesetzt. Dann spielte er mit mir Hoppe-hoppe-Reiter und warf mich wieder runter. Das war der einzige zärtliche Spaß, den ich mir einige Male mit Vater erlaubt habe. Aber bei Mutter hätte ich mich solche Annäherungen nie getraut, weil sie immer kränklich war, einfach müde. Sie hat trotzdem sehr viel geleistet, sie war wie der Vater eine Respektsperson.

Dennoch war Mutter eine gütige Frau, sie hat selten geschimpft. Und sie war unser großes Vorbild als Frau, die uns gesagt und gezeigt hat, wie man sich als Frau zu benehmen hat. Aber ihr Leben war auch in einer anderen Art wegweisend – allerdings im negativen Sinne. Viele meiner Geschwister haben nie geheiratet bzw. nur wenig Kinder in die Welt gesetzt, weil wir täglich erlebt haben, wie schwer das Leben einer Mutter in einer kinderreichen Familie ist. Das wollten viele von uns – zumindest unbewusst – später nicht noch einmal durchmachen.

»Kind, sei artig!« das sagte sie uns täglich. »Kind, sei artig!« das war ihr Lieblingsspruch. Wenn sie uns verabschiedete und wir sagten: »Auf Wiedersehen, Mutter!« kam garantiert: »Kind, sei artig!«
Mit meinem Bruder Heinz zog ich am Wochenende oft durch die Gegend.
»Ja, wo gehst du denn heute hin?« wollte Mutter vorher wissen.
»Ach, ich weiß noch nicht, vielleicht nach Hopeke«, sagte Heinz. Dann wusste ich, dass ich mal wieder Anstandswauwau spielen durfte. Heinz hatte immer Mädchen im Kopf und mich nahm er als Anstandswauwau mit. Zu Mutter sagte er immer: »Weißt du, Mutter, wir gehen nur spazieren. Veronika geht ja auch mit. Da kann nix passieren.«

Stundenlang liefen wir durch die Wälder und Felder, aber am Ende kamen wir immer in einem der umliegenden Dörfer an, wo ein Mädchen auf Heinz wartete. Ich hab das anfangs natürlich nicht durchschaut, was da vor sich ging. Ich dachte immer, es sei zufällig, dass er unterwegs eine Schulkameradin traf. Manchmal saßen gleich mehrere Mädchen auf einer Bank.

Unsere jüngste Schwester Theresia hätten wir gern als Nesthäkchen zum Spielen gehabt, aber wir durften sie nicht anfassen. Agnes hatte sich ihrer angenommen und ließ niemanden an sie heran. Aber wenn sie Theresia im Kinderwagen vor der Haustür stehen ließ, sausten wir sofort mit dem Kinderwagen durch die Straßen, das hat viel Spaß gemacht, mit ihr Rennen zu fahren. Einmal flog Theresia in hohem Bogen aus dem Wagen, als wir im Laufschritt mit den Rädern in einer Rinne stecken blieben. Gott sei dank ist ihr nichts passiert, weil sie in ein Federbett eingehüllt war. Noch heute ist Theresia sauer auf ihre älteren Geschwister, weil wir mit ihr so wilde Sachen gemacht haben.

1931 kam ich in Arnsberg in die Volksschule. Weil ich sehr zart und verfroren war, was ich noch heute bin, rubbelte mich meine Lehrerin Frau Bruchmüller im Winter vor dem Unterricht immer warm, das machte sie auch mit den anderen Kindern. Ich war nicht die einzige, die fror.
Die Schulen waren damals noch getrennt, es gab eine evangelische Schule, eine Jungs- und eine Mädchenschule. Meine liebste Schulfreundin war Magdalene Bläffchen, wir saßen auch meistens nebeneinander. Dann hatten wir ein behindertes Mädchen in der Klasse, das jeder geliebt hat. Alle wollten sie sie in ihrem Rollstuhl nach Hause fahren. Außerdem gehörte unser Nachbarsmädchen Anneliese Risse zu unserer Clique.

Ich bekam eine neue Lehrerin, Frau Kessler. Sie war auch sehr streng. Wenn wir mit unserer Arbeit nicht rechtzeitig fertig wurden, durften wir nicht in die Pause gehen. Oder wenn sie ihren Stoff noch nicht beendet hatte, gab es ebenfalls keine Pause. Da hat sich auch niemand getraut, aufzumucken. Sie hatte siebzig Kinder zu unterrichten, da konnte sie nur mit Strenge überleben.
Eine andere Lehrerin trug weiße Chemisen, die immer schmutzig waren, die Speisekarte des Vortags klebte auf ihrem Kragen. Darüber mussten wir immer lachen, wenn wir sie von Weitem sahen. Sie hat nie begriffen, dass wir über sie lachten, denn es war ja kein Anlachen, sondern ein Auslachen.

Ein Fach, dass ich überhaupt nicht mochte, war das Nähmaschinen-Nähen. Lieber stickte ich und machte Handarbeiten. Auch später in meiner Lehre nähte ich die Hüte alle mit der Hand, den Filz und die Garnituren ziehen und das Füttern war alles Handarbeit. Ungern ging ich auch in die Pausen, denn auf dem Schulhof waren alle so wild und ich war sehr schreckhaft. Ich war immer ein ängstlicher Mensch, vor allem, wenn viele Menschen um mich herum waren. Liebschaften gab es damals überhaupt nicht, wir spielten mit den Jungs, aber dabei blieb es auch. Verehrer kamen erst in meiner späten Jugend.

Auch wenn es befremdlich klingen mag, aber ich habe die Hitlerzeit vor dem Weltkrieg in schöner Erinnerung. Meine Schwestern und ich waren beim BDM (Bund Deutscher Mädchen), machten viele Wanderungen und sangen und bastelten für die Armen. Wir Kinder spürten Hitlers Einfluss nicht, wir mussten wohl Heil-Hitler schreien, aber von den Kriegsvorbereitungen bekamen wir nichts mit. Radio duften wir nicht hören, und Zeitung lasen wir selten. Der BDM stellte jeden Samstagmittag auf dem Marktplatz eine Gulaschkanone auf, da bekam jeder kostenlos eine gute Suppe. Besonders die Gemüsesuppen waren lecker.

Bewundert habe ich Eduard VIII., der im Dezember 1936 wegen seiner Liebe zu einer bürgerlichen Frau auf den Thron des britischen Königreichs verzichtete. Er hat sie bedingungslos geliebt, obwohl sie bereits zweimal geschieden war. Alle waren entsetzt, aber er hielt zu ihr. Das hat mir imponiert.
Ich lebte in meiner eigenen Welt und träumte Märchen. Eines schrieb ich Weihnachten 1936 für meine Eltern mit dem Titel:

Friede den Menschen, die guten Willens sind
Draußen Weg und Steg, Berge und Felder waren alle tief verschneit. Nur von den dunklen Tannen hatte der scharfe Wind den Schnee abgeschüttelt. Da wanderte ein armer Holzhauer hinaus in die Dunkelheit. Es war Heiligabend. Doch im Herzen des armen Mannes war nur Sorge. Er hatte nichts, was er seinen elf Kinder hätte bescheren könnte. Daheim war am Morgen das zwölfte Kindlein angekommen. Seine Frau hatte Tränen in den Augen und lächelte. »Mann, ein liebes richtiges Christkindlein.«
Aber er konnte sich nicht freuen. Einen Menschen, der seine Kleine als Pate zur Taufe führte, konnte er nicht finden. Das bekümmerte seine Seele.
Zur selben Stunde war noch einer draußen, dessen Herz in Dunkelheit war: der Anführer einer Räuberbande. Er war auf dem Weg, eine böse Tat zu tun. Als er dem Holzhauer begegnete, fingen gerade die Glocken auf allen Kirchtürmen an zu läuten. Weich und süß sangen sie ihr Gloria in den kalten Winterabend hinaus.
Da vergaß der Räuber, was er vorhatte, und ließ sich mit dem Holzhauer in ein Gespräch ein. Da hörte er, dass der arme Mann einen Paten für sein Kind suchte. Er bot sich an, am anderen Tage das Kindlein zur Taufe zu tragen. Und so kam es, dass der kleine Sohn des Holzhauers den Namen des Räubers bekam und Christoph genannt wurde.
Als das Taufwasser über seine Stirn floss, da fiel auch eine Träne des Räubers auf seine Stirn, denn der wilde Mann spürte beim Anblick des Kindes eine seltsame Erinnerung in sich aufsteigen. Er sah seine Mutter, die nun schon lange tot war, und er hörte ihre liebe Stimme singen: »Zu Bethlehem geboren ist uns ein Kindelein.«

Mussoliní war auch ein großes Thema, doch als Kind bekam ich von der Politik wenig mit. Die ersten Volkswagen ab 1938 waren da schon konkreter und eine kleine Sensation in Arnsberg, wo alle davon redeten, sich einen VW kaufen zu können.
Viel gesprochen wurde auch über den Film »Jud Süß«, den Goebbels zur antijüdischen Propaganda drehen ließ. Aber gesehen habe ich ihn 1940 nicht, für das Kino hatten wir kein Geld. Die Hauptdarstellerin Kristina Söderbaum wurde »Reichswasserleiche« genannt.
In Brilon lebten viele Juden, die von SS-Leuten auf den Marktplatz zusammengetrieben und auf Lastwagen stehend abtransportiert wurden. Einmal war ich bei so einer Aktion als Zuschauerin dabei – viele Leute schauten zu! Meine Mutter weinte nur die ganzen Tage lang. Alle in der Stadt hatten Angst, denunziert zu werden, wenn sie Kontakt zu Juden hatten. Alle Häuser wurden gefilzt, Namen wie Rudolf Hess wurden uns regelrecht ins Gehirn gemeißelt, aber als Kinder haben wir die Zusammenhänge nicht begriffen. Aus Angst, bespitzelt zu werden, durften wir daheim niemals das Radio anstellen. Das Abhören von Feindsendern war ja strickt verboten, und es wurden deswegen auch Leute hingerichtet. »Goebbels, der Schreihals«, hat Vater oft gesagt.

Am Anfang erschien uns Göring noch wie ein Engel, alle waren überzeugt, was für ein guter Mann er ist, bevor er sich in einen Verbrecher verwandelte. Man konnte in der Bevölkerung gut spüren, wie sich Liebe zunehmend in Hass verwandelte. Wir durften als Kinder ja immer nur zwischen 19 und 20 Uhr Radio hören, aber nur Musik oder Hörspiele für Kinder. Bei politischen Reden stellte unser Vater das Radio sofort ab. Er wollte uns von diesem Bösen fernhalten. Die Eltern haben mit uns nie politisiert.

Wir sind wohlbehütet aufgewachsen. Früher wurde nicht so viel gesprochen wie heute, wir lebten nicht in einem Informationszeitalter. Keiner redete, alles wäre ja sofort als Hetzerei denunziert worden. Wir wussten nicht, was in der Welt geschieht. Heute wird jedes Hüsteln veröffentlicht – nicht einmal, sondern Hunderte Mal! Ich erinnere mich noch gut an den Tag, als meine Mutter mit der Zeitung in der Hand zu uns kam und sagte: »Jetzt ist Krieg.« Wir sahen die Überschrift mit großen roten Balken, aber als Kinder lasen wir die Zeitung eigentlich nicht. Mutter weinte den ganzen Tag, wir begriffen das überhaupt nicht, was das bedeutete! Krieg war für uns ein Wort, dass sich die Leute nicht vertragen, aber was hieß das schon? Wir wussten nicht konkret, was Bomben sind, und noch weniger wussten wir über ihre Zerstörungskraft. Heute sieht jedes Kind täglich Explosionen ungeheuren Ausmaßes im Fernsehen.
Wir mussten alle singen: »Uns gehört die ganze Welt.« Die Massenaufmärsche selbst in unserer kleinen Stadt waren für uns Kinder schon sehr imposant, und natürlich haben wir alle mitgeschrieen. Die Bombardierungen in Paderborn hörten wir bis nach Brilon, aber in Brilon gab es keine Rüstungsunternehmen, deshalb wurde die Stadt weitgehend verschont. Aber in Arnsberg, wo unser Haus in der Nähe eines Viadukts mit einer Bahnbrücke stand, ist es bei einem Bombenangriff zerstört worden.

Hans Albers war mein Lieblingsschauspieler, ein verrückter Kerl. Sein Privatleben war auch nicht so einfach. Wenn ich später an ihn gedacht habe, dachte ich mir, dem geht’s wie mir. Er hat sein schweres Leben und seinen Schwermut mit Humor und seiner großen Schauspielkunst gemeistert. Ich habe alle Postkarten von ihm gesammelt, die ich kriegen konnte.

Mein Vater war ein guter Familienvater, der einen Makel hatte: Er konnte uns nicht freigeben. Rudolf, der älteste Sohn, durfte Möbelingenieur werden, und Agnes, die älteste Tochter, Hebamme, das hat er noch akzeptiert. Aber alle anderen Kinder sollten daheim bei der Mutter bleiben, das war seine Ansicht. Er konnte uns nicht loslassen. Das war sehr egoistisch von ihm. Für Mutter war es sicherlich gut, dass sie so viel Hilfe hatte, aber wir mussten selbst aktiv werden und alle auf eigene Faust los ziehen, und uns um eine Lehrstelle kümmern. Auch ich sollte unbedingt zu Hause bleiben. Hubertus wurde Konditor, Annemarie heiratete einen Schneider. Paula wurde Dolmetscherin, Franziska wurde Hotelbesitzerin in Lüdenscheid, Edeltraud wurde Krankenschwester, Theodor wurde Schreiner. Dann kam ich, die Modistin. Adelheid hat einen Apotheker geheiratet und das Apothekenwesen gelernt. Sie war ja noch sehr jung, als sie geheiratet hat. Heinz wurde Bauingenieur, Theresa hat Gartenarchitektur gelernt und geheiratet. So ist aus allen meinen Geschwistern etwas geworden.

Agnes war eigentlich unsere Mutter, die uns erzogen hat, denn unsere leibliche Mutter war nach meiner Geburt schon nicht mehr gesund. Die Geburt von sieben Kindern – darunter Zwillinge – in zehn Jahren war für sie sehr anstrengend, wie man sich leicht vorstellen kann, wenn man selbst Kinder geboren hat. So war sie bereits zu meinen Lebzeiten kränklich und schwach. Sie sagte immer zu mir: »Kind, du kannst nicht allen Leuten helfen. Du musst weggucken!« Das habe ich nicht begriffen. Ich dachte, es sein selbstverständlich, anderen Menschen zu helfen. Das muss man tun!