»Aber Sie dürfen es keinem Menschen weitererzählen!«
Arbeitsdienst und Kriegsjahre 1941-1942

Weil die Enttäuschung der Lehrzeit so unheimlich groß war, ich mir aber auch nicht vorstellen konnte, zu Hause zu bleiben, meldete ich mich im Herbst 1941 freiwillig zum Arbeitsdienst in Flensburg. In dieser Zeit durften Juden bereits nur noch mit aufgenähtem gelben Judenstern auf der linken Brustseite in der Öffentlichkeit auftreten.

Im Arbeitsdienst gefiel es mir von Anfang an gut. Wir hatten eine wunderbare Wirtschaftslehrerin und gingen oft in den Wald, wo sie schöne Geschichten erzählte, die sie sich selbst ausgedacht hatte. Sie hörte die Gräser singen, es war einfach wunderschön, in ihrer Nähe zu sein.

Mit dem Essen dagegen war es wie immer knapp. Der Arbeitsdienst gefiel mir, aber wir mussten hungern, weil die Lagerführerin die Lebensmittel heimlich verschoben hat. Als man sie erwischte, wurde sie zur Flak nach Polen strafversetzt.

Alle vier Wochen wurden wir zu einer anderen kinderreichen Familie versetzt, so dass ich jede Menge Arbeit hatte. Eine Bäuerin hielt das Mittagessen immer im Schlafzimmerbett warm, das sie morgens gekocht hatte. Weil sie keine Putzmittel hatte, musste ich alles mit Asche putzen: den Boden, die Fenster, das Geschirr, die Kleider… Tagein, tagaus war ich nur am schrubben und Wäsche waschen.

Ich machte zumeist Außendienst bei Familien, die alle sehr arm waren. Heutzutage kann man sich diese Armut vielleicht vorstellen, wenn man im Fernsehen die Bilder aus Afghanistan sieht. So lebten damals viele Menschen auch in Deutschland.

Da war die Familie Dobek mit zwölf Kindern, die Älteste war 14 Jahre. Sie hatte ein kleines Häuschen und dort schliefen sie zu siebt im Ehebett. Der Mann war Trinker und Straßenarbeiter, aber er war mehr zu Hause als bei der Arbeit. Da lag er auf dem Sofa, rauchte und las billige Heftromane für fünfundzwanzig Pfennig. Das war für uns nicht lustig. Seine Frau dagegen war sehr tapfer und liebenswert, auch die Kinder waren reizend. Da half ich gern.

Anschließend wurde ich für ein halbes Jahr nach Kiel versetzt. Dort wohnten wir in einer Villa an der Reveno-Allee und mussten in einer der Rüstungsfabriken arbeiten. Besonders am Hafen war es immer unheimlich. Dort waren so viele Ausländer, deshalb bat ich den Chef, ob ich nicht in der Nähe des Büros arbeiten dürfte, denn das war hell, verglast und nicht so dunkel und verwinkelt wie die Fabrik. Ich hätte unheimliche Angst vor den Männern und den Soldaten – und vor den Ausländern überhaupt.

Todesangst dagegen hatte ich in der Kriegszeit eigentlich nie. Selbst hier in Kiel, das viel näher an der Front lag als Kempten, wohin ich später zog, hatte ich keine Angst. Wir rannten in die Bunker und hörten es draußen krachen, doch wir fühlten uns sicher. Außerdem hatten wir keine Vorstellung über das Ausmaß der Zerstörungen, wir hatten kein TV und im Radio wurden immer nur die Durchhalteparolen und die Reden über den »Endsieg« wiederholt. Wir sahen nur das, was in unserer unmittelbaren Umgebung passierte, und da blieben wir von größeren Attacken und Schäden verschont.

In der Hagenuk-Fabrik, in der ich arbeitete, mussten wir durch dunkle, enge Gänge gehen, in denen keine zwei Personen nebeneinander laufen konnten. Wir mussten hintereinander gehen, und wenn man allein war, war das ziemlich unheimlich, wenn man jemandem begegnete. Dort ist auch viel passiert, Vergewaltigung, Raub und Schlägereien, darum hatte ich so eine große Angst. Wir hörten die Bomben im Hafen einschlagen, im Bunker war es dunkel und eng. Meine Kameradinnen machten sich abends trotzdem oft schick und gingen aus, aber ich blieb immer daheim. Ich hatte Angst vor den Soldaten und Matrosen, ich ließ mich von denen nicht abknutschen.

Ich konnte diese Arbeit in der Munitionsfabrik nicht lange durchstehen, da bekam ich eine schwere Kiefervereiterung, so dass ich sechs Wochen früher entlassen wurde. Der Doktor versuchte mir zu helfen, dass ich nicht weiter kriegsverpflichtet wurde, doch es nützte nichts. Am Ende wurde ich dann doch kriegsverpflichtet und sollte als Flakhelferin in Polen eingesetzt werden. Zuerst musste ich mich zur Musterung in der Flakkaserne in Nürnberg-Fürth melden. Dort war ich zehn Tage, dann meldete ich mich wieder krank.

In der Kaserne mussten sich alle Mädchen im Keller ausziehen und nackt durch einen langen Gang zum Militärarzt laufen. Vor seinem Sprechzimmer warteten wir frierend, bis wir aufgerufen wurden. Als ich dran war, gab ich dem Arzt einen Bittbrief meines Vaters in die Hand. Er las ihn und sagte zu mir: »Jetzt schreibe ich Sie dienstunfähig. Aber Sie dürfen es keinem Menschen weitererzählen. Sonst sitzen Sie im Gefängnis und ich auch. So wie ich es spüre, ist der Krieg noch lange nicht zu Ende.«

Das sagte er im September 1942. »Vielleicht sehen wir uns noch einmal oder auch nicht. Aber schweigen Sie.« So bin ich aus dem Arbeitsdienst entlassen worden.

Zuerst fuhr ich zu meinen Eltern nach Brilon. Mutter schickte mich sofort zum Hals-Nasen-und-Ohren-Arzt. Er bestätigte die Kiefervereiterung, wollte mich aber nicht operieren, weil ich sonst eine hässliche Narbe über der Nasenwurzel und am Kiefer bekommen hätte. »Doch Höhenluft könnte Dir helfen«, meinte er und verschrieb mir eine Kur im Voralpenland. So kam ich nach Kempten im Allgäu.