Äußerlich ruhig, doch innerlich aufgewühlt, verabschiedete sich Dora von ihrer Erbnichte. So hatte sie das nicht geplant. „Aber, was habe ich denn erwartet?“, sagte sie zu sich selbst, als sie im Bus saß, um nach Hause zu fahren. Und dann war sie sogar ein wenig stolz auf sich, denn immerhin hatte sie sich endlich dazu durchgerungen, etwas zu unternehmen, sich zu wehren. Jedenfalls war der erste Schritt dazu getan, und das empfand sie als befriedigend. Jetzt gab es kein Zurück mehr, und vielleicht würden die beiden Banditen ja nun doch noch einlenken. Schließlich würde eine Klage viel Staub aufwirbeln, und das war das Letzte, was eine so geltungssüchtige Frau wie Annelie sich leisten konnte. Als nächstes musste sie sich also einen Anwalt suchen, damit dieses Luderchen das Ganze nicht für ein Strohfeuer hielt. Sie fand im Telefonbuch auch bald einen in ihrer Nähe und dachte nur: Eigenartig, in den allgemeinen Krimis und Filmen verfügt jeder Mensch gleich über „seinen“ Anwalt, bloß ich muss erst einmal Ausschau nach einem Rechtsanwalt halten. Etwas weltfremd scheine ich wohl tatsächlich zu sein. Aber wer rechnet schon mit so viel geballter Kriminalität?!

Fast drei Jahre lang waren die beiden ungleichen „Freundinnen“ miteinander zum Schwimmen gegangen, ins Theater und auch anschließend noch zu einem gemütlichen Schoppen irgendwo eingekehrt, bevor Dora sich zu dem schwer gefallenen Schritt entschied, diese heimtückische und raffinierte Spitzbübin endlich vor Gericht zu bringen. In Güte und Freundschaft war dieser falschen Person einfach nicht beizukommen. Und sie hatte der jüngeren Frau auf keinen Fall schaden wollen, die ja mindestens ihren Beruf als Steuerberaterin hätte verlieren können, wenn ihre Schandtat bekannt geworden wäre. Und „Captain Annelie“, als die sie ihre großzügig verteilten Visitenkarten auswiesen, legte auch immer größten Wert auf ihr inzwischen erlangtes Ansehen im Golfclub. Als Onkel Hellmut ihr damals die 40.000,- DM „Aufnahmegebühr“, wie er es scherzhaft nannte, dafür geben sollte, hatte sie auf seine Frage, warum es denn unbedingt so ein versnobter teurer Club sein müsse, geantwortet: „Das verstehst du nicht, Onkelchen. Heutzutage musst du das einfach, um in der Gesellschaft aufgenommen zu werden und dazu zu gehören! Dort lernt man einflussreiche Leute und auch erheblich betuchte Kunden kennen, ganz abgesehen davon, dass Golf ein schöner und eleganter Sport ist, der Spaß macht und auch Freunde verschafft! Was ist jetzt also, Onkel Hellmut, kriege ich das Geld, ja oder nein, sonst werde ich einfach meine Bank ansprechen.“ Und der liebe und gut situierte Onkel wäre der letzte gewesen, der der einsamen grauen Maus, wie er sie manchmal bezeichnete, nicht auch einmal Freunde gegönnt hätte.

Annelie schmollte jedes Mal bei ihren Treffen im Fitnessclub oder auf Geburtstagsfeiern herum und versuchte zu schmusen und abzulenken bei dem von Dora immer wieder vorgebrachten Lieblingsthema, wo es immer und immer wieder um die Herausgabe wenigstens eines Teiles der stibitzten Wertpapiere ging. „Dora, ich bitte dich, du hast doch genug, denk doch einfach nicht mehr daran!“, hieß es dann bloß. Jahrelang war Annelie von Dora in deren Funktion als Schauspielerin zu den Generalproben oder Premieren des jeweiligen Theaters eingeladen worden und genoss es sichtlich, als deren Nichte vorgestellt zu werden und von dem einen oder anderen bekannten Schauspieler per Handschlag begrüßt zu werden. Dora selbst war nach jahrzehntelanger Bühnenabstinenz dankbar und glücklich über die winzigste Rolle, denn sie stand gemeinsam mit namhaften Kollegen auf einer renommierten Berliner Bühne und zumeist in einem ganz entzückenden Kostüm! Davon hatte sie als junge Schauspielschülerin doch nur träumen können, und diese erfreuliche Entwicklung erschien ihr jetzt im Rentenalter wie ein Wunder. Da gönnte sich zum Beispiel ein erfolgreicher Choreograph oder ein anerkannter Sänger in der Kantine oder bei einem kurzen Zusammentreffen auf der Treppe des Theaters einen vergnüglichen Plausch mit ihr oder nahm sich Zeit für ein artiges Kompliment wie: „Du warst heute wieder  d i e  Zofe des Jahrhunderts!“ Wie sie das genoss! Es war aber auch ein ausgesprochen glücklicher Zufall gewesen, der sie wieder mit dem Theater zusammen brachte. Als ihr Direktor erfuhr, dass die Neue, die als Statistin für „My Fair Lady“ in seinem Ensemble aufgenommen worden war, vor fünfzig Jahren eine Schauspielschule absolviert hatte, und zwar am damaligen Staatstheater in Danzig, da half kein unsicheres Sträuben von wegen „jahrelang Farmerfrau, Platzanweiserin und Kassiererin gewesen.“ „Unsinn“, sagte er, „so etwas verlernt man nie, das ist wie Schwimmen oder Radfahren!“ Und schon gehörte sie mit dazu und war nicht länger nur Statistin, als die sie sich vorgestellt hatte, um die Rente etwas aufzubessern und sich zu beschäftigen. Sie erhielt gleich erneut einen Gastvertrag und durfte in der geplanten Neuinszenierung CYRANO die Schwester Martha spielen, und ihr Nonnengewand wurde aus feinstem weißen und dunkelbraunen Wollstoff angefertigt, so wie alle Kostüme für diese Inszenierung extra neu genäht worden waren. Es wurden die schönsten und glücklichsten Jahre ihres Lebens. Ein Jugendtraum hatte sich erfüllt, und das überwiegende Missgeschick ihres Lebens und die vielen Enttäuschungen waren vergessen.

Wieder einmal vom Schwimmen im Fitnessclub kommend, waren Dora und Annelie in einem nahe gelegenen Stammlokal in der Dahlmannstraße eingekehrt, es war ein bayerisches Restaurant, und es bediente sie erstmals eine blutjunge dralle Kellnerin im feschen Dirndlkleid. Als sie gezahlt hatten und gehen wollten, kam diese schüchtern an den Tisch der beiden, wandte sich an die Jüngere der Damen und sagte verlegen: „Verzeihen Sie bitte, dass ich störe. Sie hatten mir vorhin einen Fünfzigmarkschein gegeben, den ich für einen Hunderter hielt, sodass ich Ihnen versehentlich fünfzig zu viel herausgab. Wollen Sie selber bitte noch mal nachschauen?“ Annelie fauchte sie gleich an: „Unverschämtheit, in dieses Lokal kriegen mich keine zehn Pferde mehr rein. Ich werde mich das nächste Mal bei Ihrem Chef beschweren.“ „Komm, wir gehen jetzt!“, meinte sie zu Dora, sodass die kleine Anfängerin sich eingeschüchtert entschuldigte und verschwand. Während sie das Lokal verließen sagte Dora: „Sieh doch vielleicht noch einmal nach.“ „Quatsch nicht“, entgegnete Annelie bloß, „Dummheit muss bestraft werden!“ Und das sagte sie so unbekümmert und eiskalt, dass Dora zuerst glaubte, nicht richtig verstanden zu haben. An diesen Ausspruch sollte sie sich in den folgenden Jahren noch so manches Mal erinnern.

Bevor die World-Trade-Center-Türme in New York eingestürzt waren und Annelie nach längerer Pause anrief, hatte sie Dora mal um deren leere Kartons gebeten, die diese oben auf ihrem Boden lagerte. Annelies geplanter Umzug am Kurfürstendamm würde zwar nur ins Nebenhaus gehen, aber „man hat doch tausend Kleinigkeiten, die alle mit sollen!“ Damals war sie wieder stolz mit ihrer blitzenden schwarzen Karosse des neuesten Modells vorgefahren gekommen, und Dora dachte sich nur, wie so oft: „Was mag der Wagen alleine wieder gekostet haben?! Die verjuxt mittlerweile eindeutig mein gesamtes Erbe!“, denn sie erlaubte sich und ihrem Volker jährlich zwei- bis dreimal kostspielige Weltreisen, die sie sich aufgrund ihrer gleitenden Arbeitszeit und der angefallenen Überstunden eben leisten konnten, wie sie Dora erklärte. Aber Dora gelang es niemals, energisch genug mit ihrer Forderung aufzutreten, weil sie es einesteils genoss, plötzlich eine Nichte zu haben, die sich so warmherzig und gefühlvoll geben konnte und sie nicht nur an Festtagen, sondern jedes Mal, wenn sie vorbeikam, mit einem hübschen und kostspieligen Blumengebinde erfreute und sie so exorbitant liebevoll zu umschmeicheln verstand. Das tat so gut, denn schließlich hatte sie ja sonst niemand mehr. Genau wie damals war es dann, wenn die liebe Annelie ihrem Onkel Hellmut mit seiner Dora in der Stadt begegnete, flink und lächelnd von ihrem Fahrrad gestiegen war, um das alte Pärchen überschwänglich freundlich zu begrüßen.

Eine der Sekretärinnen im Schreibzimmer der Anwaltskanzlei Nettich & Roetzer erhob sich und geleitete Dora ans Ende des breiten Korridors, wo sich ein Tischchen und zwei Sessel befanden. „Sie sind sicher Frau Kueper, nehmen Sie doch bitte einen Augenblick Platz“, hatte sie bei der Begrüßung gesagt. „Der Chef ist noch auf dem Gericht. Das dauert manchmal etwas länger, aber ich bin sicher, dass er bald eintrifft. Einen Kaffee vielleicht?“ „Danke, nein,“, sagte sie, worauf die Sekretärin von Herrn Roetzer, Anwalt und damit Hoffnungsträger für Dora, einer Hofdame gleich wieder zu ihrem Kommandopult zurück schritt. Das gab Dora Zeit, sich ein wenig umzusehen. Die Anwaltskanzlei bot ein ausgesucht geschmackvolles Entree. „Offenbar hat er die entsprechenden Klienten und wird wohl wissen, wie man vorgehen muss“, dachte Dora erwartungsvoll, denn seit ihrer Ehescheidung vor fast einem halben Jahrhundert war ihr dieser zu erwartende Umgang mit einem Rechtsanwalt neu. Nach einer quälend langen halben Stunde flog die Tür auf und Herr Roetzer, ein auffallend gut aussehender und modisch gekleideter junger Mann, stürmte ins Vorzimmer. Ein kurzes Kopfnicken Richtung Dora erfolgte und ein intensiver Wortwechsel mit seiner Sekretärin. „Sie sind also Frau Kueper“, meinte er ziemlich echauffiert, „kommen Sie doch bitte gleich mit!“, und schon hatte er die nächste Tür mit dem Ellenbogen aufgestoßen, und sie traten ein. Der ist ja der reinste Irrwisch, dachte Dora noch leicht benommen, weil sie wohl etwas im Sessel eingenickt war. Er kam dann auch gleich zur Sache, wobei sein Blick hektisch zwischen diversen Papieren hin und her schweifte, die malerisch verstreut auf Fensterbänken sowie unter, auf und neben seinem Schreibtisch lagen. „Nehmen Sie doch Platz“, kam es irgendwie abwesend über den riesigen Schreibtisch. „Bin gerade umgezogen, daher sieht es hier etwas chaotisch aus. Sie benötigen also meine Hilfe in einer Erbschaftsangelegenheit, so sagten Sie wohl am Telefon?“ „Ja, ich bin von der neidischen Nichte meines langjährigen Freundes um mein Erbe betrogen worden“ und Dora schilderte Herrn Roetzer die Sachlage und dass sie diese Frau, die ihr ihre Hilfe sowohl als Steuerberaterin als bei der Auflösung der Wohnung ihrer drei verstorbenen Verwandten angeboten hatte, jetzt endlich vor Gericht bringen wolle, „da sie mich nicht ernst zu nehmen scheint, wenn ich sie immer wieder bitte, mir statt Blumen einige der gestohlenen Wertpapiere zurückzubringen.“

Dora reichte ihm den Brief, den sie im Original vor einigen Tagen Annelie übergeben hatte. Herr Roetzer überflog das Schreiben ebenso fahrig, wie er alles im Überflug zu erledigen schien. Sie wurde von Anfang an das Gefühl nicht los, eher eine Störung seines Tagesablaufs zu sein als eine willkommene Klientin. „Was soll es“, dachte sie, „nun bin ich hier und brauche einen Anwalt.“ „Aber da kommen Sie erst jetzt, nachdem Sie drei Jahre haben verstreichen lassen?“, fragte er unmutig – und was ihr in diesem Moment selbst unbegreiflich vorkam. Dora regte an, vielleicht noch nebenbei einen Detektiv einzuschalten und sprach auch von Lügendetektoren, aber Herr Roetzer lächelte und winkte kopfschüttelnd ab. „Ausgeschlossen, wir sind hier nicht in Schweden! Bei uns benötigt man handfeste Beweise, sonst ist die Sache aussichtslos und schade um Ihr Geld! Bei deutschen Gerichten arbeitet man nicht mit Detektiven. Sie gucken anscheinend zu viel Kino oder Fernsehen. Vergessen Sie’s am besten! Stellen Sie sich zum Beispiel vor, Sie sollten vor Gericht schwören und diese Frau Schlamm und ihr Mann schwören ebenfalls, dann steht es schon mal Zwei zu Eins und demnach schlecht für Sie!“ Herr Roetzer lehnte sich zurück. „Wie viel waren sie denn wert, diese Wertpapiere?“ „Genau kann ich das nicht sagen“, begann Dora, „mein Hellmut sprach immer davon, dass ich damit eine Millionärin nach seinem Tode wäre“, und sie erzählte auch von seiner kostbaren Briefmarkensammlung, die allein 150.000,- DM wert war, und die sich Frau Schlamm sogleich erbeten hatte. Doch das Wertvollste waren seine Tafelgeschäftspapiere, die einen ganzen Fernsehkarton füllten. Aber gleich am ersten Tag der Aufräumarbeiten hatte Frau Schlamm heimlich ihren Mann in die Wohnung eingelassen und ihm die beiden Kartons ihres Onkels ausgehändigt. Und mir versuchen die beiden nun einzureden, dass sich in den zwei Kartons überhaupt keine Wertpapiere befanden, sondern lediglich Briefmarken. „Und die haben Sie mir doch geschenkt, als ich Sie gleich darum bat“, hatte Frau Schlamm gesagt, denn zu dem Zeitpunkt duzten sich die beiden ungleichen Damen noch nicht. Das hatte kurz darauf in einer Weinlaune die jüngere der älteren ganz spontan angeboten.