Als Dora von einer neugierigen jungen Kollegin, mit der sie sich für eine Spielzeit lang die Theatergarderobe teilte und die abends zuvor beobachtet hatte, wie der noch „toll aussehende ältere Herr“ sie mit dem Auto abholte, ungeniert gefragt wurde, ob sich zwischen ihnen denn noch was abspiele, musste sie deren Frage amüsiert verneinen. Sowohl er als sie hatten in ihrem Leben schmerzliche und prägende Erfahrungen gemacht, die sie beide auf Distanz bleiben ließen. Wenn man sich früher und unter anderen Umständen kennen gelernt hätte, wäre es bestimmt eine der glücklichsten Verbindungen geworden. Nun vergoldeten sich diese jung gebliebenen Alten lediglich gegenseitig ihren Lebensherbst und genossen ihre harmonische Zweisamkeit, in der niemals Langeweile aufkam. Manchmal las er ihr einen interessanten Artikel vor, der ihm bei seiner morgendlichen Lektüre der Tageszeitung besonders aufgefallen war, und sie tauschten eingehend ihre Ansichten darüber aus, obgleich die Meinungen manchmal ganz unterschiedlich ausfielen.

Irgendwann machte Hellmut – entgegen seinem in der Jugend gefassten Grundsatz, ganz bestimmt ledig bleiben zu wollen – seiner Dora dann doch noch einen Heiratsantrag, „weil die meisten Räume der Wohnung doch ungenutzt sind, während du da drüben eine irrsinnig hohe Miete zahlen musst!“ Aber dazu hätte sie ihr mehr modern eingerichtetes Heim aufgeben und ständig zwischen den ihn umgebenden eleganten Samtvorhängen und Plüsch leben sollen. Sie war dementsprechend perplex über diesen plötzlichen Heiratsantrag, den sie sich immer etwas anders formuliert vorstellte. Aber er hatte ihn wohl auch gar nicht so ernst gemeint, sondern wollte sie nur später einmal gut versorgt wissen. Bei dieser Gelegenheit sollte sie auch endlich erfahren, warum er, ein großer schlanker Typ mit ehemals dunklem und immer noch vollem Haar, zeitlebens solo geblieben war.

Es ereignete sich an seinem zwanzigsten Geburtstag, wie er Dora erzählte, als eine hübsche und temperamentvolle Freundin seiner Schwester sich in seinem Zimmer die Schleierfische und andere in seinen verschiedenen Aquarien ansah und den bisher tugendsamen Jüngling wach küsste. Nun war Hellmut von frühester Jugend an immer ein Sorgenkind gewesen, auf dessen Lungen die Ärzte Schatten festgestellt hatten, so dass die gut betuchte Mutter mit dem kleinen Liebling ab und zu zur Kur nach Davos fuhr. Davon musste wohl diese raffinierte Verführerin gehört haben, denn als der schüchterne und gut erzogene Student sogleich von Verlobung sprach, hatte sie ihn glatt ausgelacht. „Mir hat es doch auch Spaß gemacht, Junge! Überlege doch mal in Ruhe, und nimm es jetzt bitte nicht persönlich. Schau mich doch mal genau an. Meinst du nicht, dass eine Frau wie ich noch einen ganz anderen Mann finden könnte als dich schwindsüchtiges Greenhorn? Du bist wirklich sehr naiv, gelinde gesagt!“ Das hatte den verletzten jungen Mann bis ins Mark getroffen, und er widmete sich daraufhin nur noch intensiver und ausschließlich seinen Studien, wobei er sich vor allem den Sprachen zuwandte, die ihm zeitlebens leicht gefallen waren. Liebe sollte niemals ein Thema für ihn werden, das hatte er in jenem erschreckenden „Augenblick der Wahrheit“ beschlossen.

Auch Doras Erwartungen auf das Leben und die Liebe waren 1945 nach dem Einmarsch der russischen Soldateska am 26. März 1945 in ihrer Heimat Danzig arg ins Wanken geraten. Kurz zuvor kam in den letzten Januartagen noch ihre ältere Schwester Charlotte als Flüchtling mit ihrer zweijährigen Ingrid und dem Baby Astrid aus dem östlicher gelegenen Marienburg ins Elternhaus zurück, wo sie früher vor ihrer Heirat als Herren- und Damenfriseuse in Vaters Frisiersalon tätig war. – Der unheilvolle Krieg war nun zwar für die dort Verbliebenen beendet, aber nicht die danach folgenden Schrecken. Der ehemalige Freistaat Danzig war durch die von Hitler arrangierte „Heimholung ins Reich“ von 1939 bis 1945 für einige Jahre wieder deutsch geworden, was Ursache des zweiten Weltkrieges wurde. Nach dessen Ende hatte sich jedoch alles geändert, denn da war die umbenannte Stadt „Gdansk“ von den russischen Befreiern den Polen übergeben worden. Sie selbst strichen sich dafür vom östlichen Polen einen Teil ein. Die Straßen und Häuser der Stadt wurden dann immer wieder nach noch verbliebenen Deutschen beziehungsweise „Nazis“ durchkämmt, obwohl sich diese ja rechtzeitig aus dem Staube gemacht hatten.

Die Deutschen erhielten keine Lebensmittelmarken und starben dahin wie die Fliegen. Zuerst traf es die kleine, erst sechs Monate alte Astrid, und im November 1945 war Mutter Lange verhungert. Für beide war jeweils eine christliche Grabstelle auf dem Friedhof gekauft worden. Im letzteren Fall, Mitte November 1945, war die daneben aufgehäufte Erde jedoch von einem Tag zum anderen steinhart gefroren und man konnte das Grab nicht zuschütten. Tags darauf war die Familie Lange von der Miliz abgeholt worden und musste eine ganze Nacht im Milizkeller verbringen, bis man etwa zwanzig Deutsche aufgespürt hatte, die sie ins Narvik-Lager brachten. Dort verweigerte der Lagerkommandant kaltschnäuzig der Familie einen nochmaligen Besuch des Friedhofs mit den Worten: „Das wird schon mal jemand zuschaufeln! Euch schicken wir jetzt nach Berlin zu euerem Führer.“ Zu dem Zeitpunkt hatte kein Deutscher eine Ahnung über die derzeitige Situation an den Fronten. Sie hatten keine Zeitung und besaßen schon längst kein Radio mehr, denn die sie täglich heimsuchenden russischen und polnischen Plünderer, denen die wehrlosen restlichen Deutschen ausgesetzt waren, hatten längst alles mitgehen lassen. Sie hatten einfach sämtliche Willkür zu erdulden und waren rechtlos. Als Inhaftierte wurden sie weiterhin in aller Frühe zu Arbeitsplätzen geführt, wo sie zum Beispiel Betonbunker mit ganz unzureichendem Werkzeug abreißen sollten, etwa mit im Schutt zu suchenden Metallleisten, Türdrückern und ähnlichen harten Gegenständen.

Von den vier Erwachsenen und zwei Kindern überlebten von dieser Familie am Ende lediglich Charlotte und Dora. Diese beiden jungen Frauen waren – im Gegensatz zu den gebrechlichen Alten und Kleinkindern – immer wieder zur Kasernenreinigung, wo sie auch mal eine Kelle Suppe erhielten, oder zu Straßenarbeiten und zur Schutt- oder Eisbeseitigung an den Schienen des Hauptbahnhofs herangezogen worden. Da ließ dann manchmal ein polnischer Vorbeigehender einen Apfel oder eine Scheibe Brot fallen und flüsterte: „Zu mir waren die Deutschen auch immer anständig!“, und der willkommene Happen wurde gierig verschlungen. Greise und Kinder zu Hause dagegen waren verloren, da man den „Nazis“, wie die Deutschen schlichtweg ausnahmslos genannt wurden, Milch- und Lebensmittelzuteilungen vorenthielt. Und die anfangs hier und dort verendeten oder erschossenen Pferde wurden immer sehr schnell von den Halbverhungerten gefunden und ausgeweidet.

So erreichten die beiden Schwestern schließlich im Februar 1946, zwar bis auf die Knochen ausgemergelt aber heil in einem Zug, in dem sie für drei lange Tage und Nächte verfrachtet worden waren, am Ende das deutsche Barackenlager Kirchmöser in Brandenburg. Dieser Zug, voll von vertriebenen Deutschen, hatte oft stundenlang auf irgendeinem Abstellgleis gestanden. Die zum Skelett abgemagerte kleine Ingrid wurde bei Ankunft des Zuges in Deutschland sofort ins Krankenhaus eingeliefert, ebenso der alte Friseurmeister Lange, der überzeugt davon gewesen war, dass seine Heimatstadt Danzig nach dem Krieg wieder den Status „Freistaat“ erhält. Nun war er zweiundsechzigjährig ebenfalls vom Hungertyphus gezeichnet und wirkte wie ein Neunzigjähriger. Zu allem Unglück hatten ihm auch noch zwei jugendliche Polen bei einem längeren nächtlichen Aufenthalt des Zuges auf einem Nebengleis seine gut erhaltenen Schuhe ausgezogen. So stürzte er beim Verlassen des Waggons auf seinen inzwischen vereisten Wollsocken kopfüber auf den Bahnsteig und war ebenfalls krankenhausreif. Aber sowohl der alte Mann als auch seine kleine dreijährige Enkelin durften in einem weiß bezogenen und angenehm warmen Bett des dortigen Krankenhauses sterben, wo ihnen liebevolle Diakonissenschwestern noch einen heißen Tee einflößten, während zahlreichen anderen todkranken Ausgewiesenen weit traurigere Abgänge beschieden worden waren. Doch jeder Krieg ist grausam und ungerecht, und da die Deutschen den Krieg begonnen hatten, bekamen nun viele von ihnen die traurigen Auswirkungen zu spüren.

Dora versuchte im nahe gelegenen Berlin bei einer Freundin ihrer Mutter Fuß zu fassen, was für kurze Zeit auch gelang, nämlich als Trümmerfrau! Acht Tage arbeitete sie in Berlin-Steglitz, die nächste Woche auf einer Baustelle in Berlin-Lichterfelde, dann in Dahlem usw. Immer nur für eine weitere Woche konnte sie auf diese Weise ihre mit den seinerzeit so wichtigen Lebensmittelmarken gekoppelte befristete Aufenthaltsgenehmigung verlängern. In der Ruinenstadt Berlin erhielt niemand der zahlreichen Flüchtlinge und Vertriebenen zu jener Zeit eine Zuzugsgenehmigung.

Dann überraschte sie die Wirtin ihres möblierten Zimmerchens eines Tages mit der Neuig- keit, dass Studenten zuzugsberechtigt seien. Dora überlegte nicht lange und wandte sich an das Städtische Konservatorium, um eine Eignungs- oder Aufnahmeprüfung für das Fach „Gesang“ abzulegen, worin sie immer sehr gut war und deshalb auch bravourös abschnitt. Aufgrund ihrer Leichtigkeit sowohl in den tiefsten Stimmlagen bis zum spielerisch getroffenen dreigestrichenen Fis war die Jury so einstimmig von ihrer Begabung überzeugt, dass man ihr neben einem Freistudium auch noch eine kleine Studienbeihilfe zugestand. Hocherfreut mietete sie sich ein Zimmer mit Klavier, denn bisher hatte sie es nur mit kleineren  Instrumenten wie Blockflöte, Mundharmonika und Gitarre zu tun, Klavierkenntnisse hatte sie keine. Diese waren aber unerlässlich und gehörten zum Studium wie Theorie-Unterricht und Musikgeschichte. Als angehende Sängerin sollte sie mindestens in der Lage sein, die jeweiligen Kadenzen zu ihren Gesangspartien greifen und sich einigermaßen selbst begleiten zu können. Jetzt bahnte sich eine arbeitsreiche, aber glückliche Zeit für sie an, denn diese Art Arbeit war doch geradezu ein Hobby.

Aber sie sollte eines Tages dann doch noch dem ganz großen Glück begegnen, wie es plötzlich schien, denn sie lernte bei einem Besuch  ihrer Schwester, die sich mit ihrem wegen seiner Verwundung frühzeitig aus russischer Gefangenschaft entlassenen Mann im schönen Schwabenland niedergelassen hatte, einen jungen Australier kennen. Diesen hatten seine Eltern in das Land ihrer Väter geschickt, damit er hier in Deutschland endlich die Frau fürs Leben findet, denn er war bereits achtundzwanzig und ihm war, wie er sagte, in der Umgebung Melbournes nie die Richtige begegnet. Von sämtlichen Verwandten und Freunden wurde Dora nun als Glückspilz beneidet, ebenso von den anwesenden Gästen in dem ländlichen Wirtshaus, wo das Traumpaar bereits bei seinem zweiten Zusammentreffen Verlobung feierte und bei der der Bräutigam seiner überraschten Dora einen nicht zu übersehenden Brillantring an den Finger steckte. Bei der Gelegenheit hatte es für alle der gerade anwesenden Gäste Freibier gegeben. Da der „Auschtralier“, wie die Schwaben ihn nur alle nannten, nicht bloß über Geld verfügte, sondern auch über Musiknoten mit launigen Evergreens und Dora vom Blatt zu singen imstande war, wurden die Abende sowohl für die Gäste als auch für den Wirt und die Brautleute jedes Mal ein amüsantes Fest.

Die Romanze wurde dann auch bereits nach sechs Wochen mit einer Trauung im Standesamt von Bernhausen bei Stuttgart gekrönt, genau so wie man sich ein Happyend vorstellt! Aber letztendlich, in der neuen Heimat schließlich angekommen, war Doras Enttäuschung groß und die tragische Realität unfassbar, als sie erkannte, dass das Herz ihres Angetrauten seinem Gärtner John gehörte, der wirklich auch ein äußerst sympathischer Junge war. Mit jenem John hatte ihr Heinz bereits von Deutschland aus fast täglich und immer sehr ausgiebig telefoniert. Angeblich musste über die ausgefallene Berieselungsanlage auf seiner großen Obstfarm gesprochen werden, die anhaltende Dürre oder seines Vaters Krankheit. Es hatte für ihn immer einen wichtigen Grund gegeben, seinen Verwalter und Gärtner dringend anzurufen, und Dora registrierte dann nur, dass seine Ferngespräche wahnsinnig viel Geld schlucken müssten und vermutete, dass die Familie recht wohlhabend sei.

Man hatte jedoch lediglich sein gutes Auskommen dort in der kleinen Ortschaft bei Melbourne und jeder der Familienangehörigen war arbeitsam und fleißig. Auch Dora hatte durch ihren Schwager, dessen Beruf Landwirt war, bereits sofort nach dem Krieg Kühe melken gelernt und war imstande, einen Stall auszumisten und nun ebenfalls kräftig zuzupacken auf der benachbarten landwirtschaftlichen Farm ihrer Schwiegereltern, zu der unzählige Schafe gehörten. Sie war zu arbeiten bereit, und es machte ihr sogar Spaß, denn dafür konnte man sich nach langer Zeit voller Entbehrungen endlich wieder richtig satt essen. Das war doch das Wichtigste seinerzeit nach dem Krieg. Ach, die arme und enttäuschte Dora hätte alles auf sich genommen und ertragen, während sie hoffte, dass ihr angetrauter Ehemann sich eines Tages zu ihr bekennt und endlich von seiner zähen „Männerfreundschaft“ ablässt. Aber alles Warten war vergebens und überstieg am Ende ihre Kräfte, und niemandem durfte sie sich anvertrauen und mit keinem über ihre Probleme und ihren Kummer sprechen. Das hatte sie den zwei Gentlemen versprechen müssen, dafür hielten die beiden Boys jede anstrengende Arbeit von der unter der ungewohnten brütenden Hitze sehr leidenden jungen Frau fern.
Dann gab es da aber noch die ganz rührende und liebe Schwiegermama, der es nicht allein genügte, dass ihr Junge nun eine nette und tüchtige deutsche Ehefrau mitgebracht hatte, die dazu noch so einen kerngesunden Eindruck machte. Wo blieb aber der ersehnte Nachwuchs?! Ständig fragte sie danach und ihre Ungeduld wurde immer fordernder, und sie wollte schließlich unbedingt, dass die junge Frau einmal mitkommt zu einer gründlichen Untersuchung bei ihrem Arzt in Melbourne. Es würde doch nur an einer Kleinigkeit liegen können, wie sie meinte. – Dora schwieg zwei Jahre lang, und am Ende war es ihr sogar noch den Scheidungsrichtern gegenüber peinlich, diesen die Wahrheit zu erzählen und zu erklären, dass ihre Ehe vom ersten Tage an nur eine Farce war, ein Wunschtraum, und lediglich auf dem Papier bestand. Deshalb zogen sich auch die anberaumten Scheidungstermine sowohl in Australien als später in Deutschland mehr als drei Jahre hin. – Um etliche Erfahrungen reicher und mit den ersten grauen Härchen in ihrem vollen braunen Haarschopf war sie in ihre Wahlheimat Berlin zurückgekehrt. Das vermeintliche Glück hatte aber bedauerlicherweise nur ganz kurze Zeit gewährt und keinesfalls, wie von der naiven und gerne glücklich gewordenen jungen Dora erwartet, ein Leben lang.
Nach vielen Umwegen hatte Dora hier in Berlin endlich Hellmut Häußler und irgendwann neben seinen pädagogischen auch seine menschlichen Qualitäten kennen gelernt. Er war  kein gebürtiger Berliner, sondern erst im Jahre 1944 nach dem verheerenden Bombenangriff auf Dresden in die Hauptstadt gekommen, zusammen mit seiner lange schon allein lebenden couragierten Mutter, die zeitlebens alles im Griff zu haben schien. Hier in Berlin hatte ihre Edith an der Komischen Oper gerade wieder ein Engagement als Sopranistin angenommen, und da das bisherige Zuhause samt Garagen vollständig niedergebrannt war, wo die alte Frau Häußler eine gut florierende Autovermietung besaß, wollte man nach einer neuen Existenz Ausschau halten. Dank Ediths Beziehungen fand man bald eine ansprechende große Wohnung, die die Wünsche jedes einzelnen Familienmitgliedes berücksichtigte, so dass sich Hellmut sofort erfolgreich selbständig machte und wo ihm in den sechziger Jahren Dora über den Weg lief, die er zu einer gewandten Direktionssekretärin ausbildete.

In der ersten Zeit ihrer Bekanntschaft war Dora immer davon ausgegangen, dass dieser Herr Häußler wohl auch mit seinem Geld ziemlich rechnen müsse. Wenn er sie nämlich während ihrer anfänglichen Ausflüge zu einer Tasse Kaffee oder zu einem bescheidenen Essen einlud, standen sie erst immer vor dem Café oder Restaurant und verglichen Preise, kehrten auch schon mal zu dem anderen Lokal zurück, weil dort das halbe Hühnchen einige Groschen billiger war. Oder einmal hatte er sie abends angerufen und geklagt, er hätte kein Brot mehr. „Würdest du bitte schnell noch mal zu Aldi gehen?“, bat er, und als sie damit bei ihm eintraf, war er richtig ungehalten geworden, denn sie hatte die nächstliegende Einkaufsquelle aufgesucht, und da war das Päckchen Brot doppelt so teuer. „So wirst du es nie zu was bringen, immer hübsch Preise vergleichen!“, ermahnte er sie am Ende wohlwollend. –

Dagegen wurde Hellmut in den letzten Jahren geradezu großzügig bis zum Leichtsinn. Als er mit Dora wieder einmal den Kurfürstendamm entlang flanierte, bat er sie unerwartet, mit ihm zu Sedlatzek hinein zu kommen, dem teuersten Juwelier in der Gegend, da er etwas abholen müsse. Drinnen wünschte er aber nichts anderes als eine hübsche Damenuhr zu sehen, und schließlich kamen sie mit einer schmalen goldenen und mit Brillanten verzierten heraus.
„Na, sieh dir deine breite Stahluhr doch mal an, die passt doch gar nicht zu deinen zarten Handgelenken!“, hatte er nur kurz auf ihr verlegen gestammeltes „Dankeschön“ erklärt. Sie überlegte gleich angestrengt, womit sie ihm eine besondere Freude machen könnte, aber am sichersten gelang es ihr jedes Mal mit ihren von ihm so überaus geschätzten Kochkünsten. –
Im darauf folgenden Jahr, es war in der Vorweihnachtszeit, blieb er plötzlich vor dem Pelz- haus Schrank stehen und fragte, ob ihr der dort liegende weit ausschwingende Nerzmantel gefiele. Dora verneinte, weil sie der protzige und offensichtlich schwere Pelz absolut nicht reizte. Er beharrte aber darauf, hineinzugehen und sich etwas zeigen zu lassen und ließ sich auch gleich müde und weltmännisch auf einem der einladenden Sessel nieder. Die überlistete Dora blickte erst unschlüssig umher und zog dann, einem routinierten Mannequin oder „einer Fürstin gleich!“, wie er amüsiert und stolz bemerkte, eine bühnenreife Modenschau ab. Endlich verließen sie mit einem schlichten „nur achtzehntausend Mark teueren und trotzdem sehr edlen Exemplar“, wie der Inhaber oder Manager ihnen versicherte, das Geschäft.

Als Doras alter Berliner Cousin Arno eines Tages mit seiner neuen und weit jüngeren Freundin zur New-Years-Party im Waldorf-Astoria-Hotel nach New York zu reisen beabsichtigte, hatte er Dora gefragt, ob sie nicht als Dolmetscherin mitkommen wolle. Und ob sie wollte! Leider gelang es ihr nicht, den in Sachen Fremdsprachen kompetenteren Hellmut für das Unternehmen zu interessieren. Nein, der musste ja zu Hause bleiben und Schätze hüten, obwohl es an jeder Ecke Banken mit Safes gab. Er  war und blieb unbelehrbar. – Er hatte es sich aber nie nehmen lassen, sie jedes Mal zum Flughafen zu begleiten, wenn sie hin und wieder nach Stuttgart flog, um nach ihrer Schwester zu sehen. Jetzt ermunterte er die unternehmungslustige Dora sogar zu ihrem beabsichtigten Abstecher in die USA, dessen Kosten ja ohnehin der Cousin übernahm. Nachdem Hellmut die achttägige Tour also abgesegnet und sie sogar in aller Herrgottsfrühe bei zehn Grad Frost zum Flughafen gebracht hatte, startete sie mutterseelenallein in das unbekannte Abenteuer. Arno und seine neue Flamme ließen sich indessen entschuldigen, sie fanden kurzfristig für den Jahreswechsel ein noch reizvolleres Ziel. Dora indessen blieb keineswegs lange allein, denn eine lebhafte und schöne, auffallend junge Witwe aus dem Irak, deren Familie sie gern gleich wieder mit einem anderen reichen Verwandten verkuppelt hätte, war ihre Flugnachbarin. Um Zeit zu gewinnen, war diese erst einmal zu ihrer Mutter nach München geflüchtet, wo sie nebenbei auch noch ihren dortigen Schönheitschirurgen aufsuchte. Sie hätte riesig gerne teilgenommen an der im Waldorf-Astoria-Hotel stattfindenden Party, aber diese wäre ausverkauft gewesen, erzählte sie ganz betrübt. – Nach sechs Stunden war das Ziel erreicht und Dora machte die nächste Bekanntschaft und lernte beim Frühstück eine junge Ärztin kennen, die das Hotelzimmer neben ihr bewohnte und zufällig ihr Party-Ticket verkaufen wollte, um Sylvester privat zu begehen. Ein Telefonanruf bei der überglücklichen Irakerin genügte, und das Ticket wechselte seine Besitzerin. Und es wurde eine tolle Party sowohl für die schöne junge Witwe, die morgens am Arm eines Bankers aus Liechtenstein die Party verließ, und auch für Dora, die überhaupt nicht mit so vielen Tanzaufforderungen und Komplimenten gerechnet hatte, sie war schließlich eine alte Frau. Aber in ihrem bezaubernden „kleinen Schwarzen“ aus dem Modehaus Horn, das sie sich in Berlin noch rasch gekauft hatte, und mit ihrer vom Hotelfriseur kunstgerecht gestylten Frisur sah sie glatt zwanzig Jahre jünger aus, und es sollte sich herausstellen, dass sich ihre Investitionen gelohnt hatten. Sie war lange nicht mehr so vergnügt gewesen. – Als sie ihren Hellmut am Neujahrstag gegen Mittag anrief, konnte er es nicht fassen, dass sie dieses teuere Telefongespräch mit ihm führte, und war ganz gerührt. Offensichtlich freute er sich mächtig, dass sie ihn bei all dem Trubel nicht vergessen hatte und wünschte noch viel Spaß, den sie zweifellos genoss.  Frau Dr. Zilch von nebenan klopfte jeden Morgen an Doras Tür, und sie nahmen das üppige amerikanische Frühstück gemeinsam ein und schmiedeten Pläne. Einmal war es ein 20 Minuten dauernder Helikopterflug über Manhattan, den sie sich für sechzig Mark leisteten, ein anderes Mal unternahmen sie einen Einkaufsbummel in der Umgebung, wo Dora im World-Trade-Center gleich mehrere praktische Präsente für Hellmuts Schreibtisch fand. Ein Theaterbesuch gehörte abschließend auch noch zu ihrem Programm, so dass ihr zu Hause der Gesprächsstoff  nicht ausgehen wollte, denn hier musste sie ja all ihre Eindrücke und Erlebnisse noch einmal Revue passieren lassen.

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