Fünfunddreißig Jahre nach ihrer ersten Begegnung war für Dora dieser schicksalsvolle Tag gekommen, an dem sie den schmerzlichen Verlust des langjährigen geliebten Freundes Hellmut zu beklagen hatte. Da ihr über Monate schon wieder im Theater eine kleine Gastrolle übertragen worden war, kam sie einen ganzen Tag lang nicht dazu, ihn aufzusuchen. Es waren nämlich täglich Proben angesagt, manchmal sogar zwei, und dazu fanden abends die Vorstellungen statt. Hellmut zeigte für solche Dinge jedes Mal größtes Verständnis und meinte dann halb amüsiert und auch ein bisschen erleichtert, brauchte er doch an dem Tag keine Krawatte zu binden oder noch mal das Oberhemd zu wechseln: „Du kannst dein Publikum doch nicht enttäuschen, mach dir bitte deswegen nicht Sorgen. Ich bin ja kein kleines Kind, das einen Tag nicht mal alleine und ohne dich fertig wird. Also dann mach deine Sache wieder gut, Schätzchen, und Toi-toi-toi! Bis bald also!“ Und das sagte er so gelassen und heiter, wie es seiner Natur entsprach. Es war an einem Dienstag gewesen, als sie sich zuletzt sahen.

Zwei Tage später stand sie also mit ihrem eigens für diese Zwecke angeschafften großen Tragekorb, in dem oft neben Töpfen und Geschirr auch noch eine ebenso zweckmäßige wie formschöne Kanne heißen Kaffees Platz fand, vor Hellmuts Tür. Sie hatte von zu Hause aus schon anzurufen versucht, aber er war nicht ans Telefon gegangen. Ebenso tags zuvor, als eine unvorhergesehene zweite Probe im Theater stattfand und sie Hellmut nicht erreichte und gleich informieren konnte, aber er legte sich ja auch gerne mal zwischendurch hin. Also „kein Grund zur Beunruhigung!“ hätte er sicher nur gesagt. Doch sie erinnerte sich auch an Tage, wo sie ihn hatte überraschen wollen und dann merkte, wie peinlich es ihm jedes Mal war, wenn er in solchen Fällen ohne Krawatte oder ihr sogar im Bademantel die Tür geöffnet hatte, denn er war trotz seiner zweiundneunzig Jahre immer noch ganz schön eitel.

Zum Glück kam die Portierfrau gerade vorbei, sodass sie sich begrüßten und Frau Kaminski der beladenen Dora die schwere Haustür und die Aufzugstür aufhielt. Dora bedankte sich und war im nächsten Moment auch schon oben. Sie klingelte einmal und noch einmal, klapperte mit dem Briefschlitz und rief hindurch: „Der Kaffee ist fertig, Hellmuuut!“ Die Stille war ungewöhnlich und schließlich unheimlich. Sie hatte es bisher abgelehnt, einen Wohnungsschlüssel von ihm entgegenzunehmen, nachdem er ihr erzählt hatte und es ihr ja auch inzwischen nicht entgangen war, was für unschätzbare Werte er in seiner Wohnung aufbewahrte. Außerdem genügte dieser Zustand scheinbar, denn auch ohne, dass Dora auch noch mal einen Schlüssel besaß, war es ja immer gut gegangen, bisher jedenfalls. Ob er vielleicht gerade den Müll hinunter brachte, und zwar über den Dienstboteneingang, der direkt zum Hof und Müllkeller führt, überlegte sie. Dora wartete und hockte etwa zehn Minuten lang auf den mit einem roten Kokosläufer belegten Stufen der hinteren Treppe des Personalaufganges, wie dieser genannt wurde. Dann entschloss sie sich, unruhig geworden, Annelie Schlamm telefonisch zu erreichen, die seit Jahrzehnten einen Zweitschlüssel besaß, weil sie vor ihrer späten Verheiratung ihre alten Verwandten ziemlich oft besuchte. Dora hatte erst bei ihr zu Hause angerufen, wo sich aber keiner meldete. Dann versuchte sie es unter der Telefonnummer ihres Steuerbüros am Kurfürstendamm, in dem sie tätig war, und innerhalb einer Viertelstunde war sie auch erschienen. Man bewirkte aber nichts mit deren Schlüssel, da Hellmut seinen auf der anderen Seite stecken gelassen hatte. Die Polizei musste her, die wiederum die Feuerwehr bemühte, die sich schließlich über eine lange Feuerwehrleiter vom Balkon her Eintritt verschaffte. Die Damen wurden gebeten, nicht ins Bad zu gehen, da alles blutig sei. Nein, ein Verbrechen läge anscheinend nicht vor, es sähe eher aus, als sei der alte Herr bei einem offensichtlichen Sturz mit dem Kopf auf das Handwaschbecken geschlagen. Annelie, die einen äußerst beherzten und kühlen Eindruck machte, zitierte gleich einen ihr bekannten Arzt herbei, der sich im Badezimmer mit dem Verunglückten befasste, ihn untersuchte und als Diagnose „Herzversagen“ konstatierte.

Inzwischen hatten Dora, Annelie und die Frau Oberkommissarin mit ihrem jungen Polizeikollegen am großen Esszimmertisch Platz genommen. Die beiden Damen wurden gefragt, ob es einen letzten Willen in Form eines Testamentes gäbe oder wer vielleicht im Besitz etwas ähnlichem sei, worauf Annelie erst einmal klarstellte, dass sie jedenfalls die Nichte wäre und ihres Wissens nichts Derartiges existiere. Daraufhin erinnerte sich Dora, dass vor Jahren bei einem Essen in ihrer Wohnung Hellmut sie nach einem Stück Papier fragte, nachdem sie ihn gebeten hatte, doch noch ein Viertelstündchen zu warten, weil ihr ein kleines Missgeschick an diesem Tag bei ihrer Knödelherstellung widerfahren war. Er hatte sich dann auch mit dem karierten DIN A 5 Block einverstanden erklärt. Als Dora kurz darauf das Essen auftrug, händigte er ihr sein Schreiben mit der Bemerkung aus, es ja sorgfältig aufzuheben. Dora las kurz „Mein Testament“ und ließ es dann in ihrer roten verschließbaren Metallbox verschwinden, die in ihrem kleinen italienischen Schreibtisch stand, denn er hatte darauf bestanden, dass sie es ja gut verwahrt. „Ein Testament?“, fuhr es ihr damals kurz durch den Kopf, „muss man so etwas nicht irgendwie im Beisein von Zeugen oder bei einem Anwalt aufsetzen?“, und sie maß dem Schriftstück in dem Moment keine ernsthafte Bedeutung bei. Nachdem sie jetzt aber aufgefordert worden war, es herbeizuholen und der Polizeikommissarin vorzulegen, las diese es laut und aufmerksam mit ihrem Kollegen durch, und die Beamten befanden es beide für rechtsgültig. Es war formvollendet aufgesetzt und in seiner Eindeutigkeit, dass Dora Alleinerbin sei, unmissverständlich. Sie verabschiedeten sich und ließen die zwei Frauen schließlich allein. Zuvor wollte man aber noch wissen, wie lange sie sich eigentlich gekannt hätten, worauf Dora nach kurzer Überlegung antwortete: „Das müssen jetzt 35 Jahre her sein, als ich mich für die von ihm angebotenen Fremdsprachenkurse und seinen Stenografie- und Schreibmaschinenunterricht anmeldete und dadurch anschließend auch prompt die angestrebte bessere Gehaltsgruppe erreichte.

Die überraschte Annelie versuchte danach erst einmal, der fassungslosen alten Dora ihr Erbe ein bisschen madig zu machen. „Na dann viel Vergnügen!“, meinte sie. „Das kriegen Sie doch nie hin, hier Ordnung rein zu bringen! Und haben Sie schon mal an die vielen notwendigen Meldungen an das Finanzamt gedacht und die damit anfallenden Formulare, Fragebogen usw.? Da kommt ein ganz schöner Haufen Papierkram zusammen. Alleine schaffen Sie das alles auf keinen Fall, dazu ist die Wohnung auch viel zu weiträumig und unübersichtlich. Wie wollen Sie das bewältigen?! Abgesehen davon machten meine Verwandten auch ganz gerne mal ein bisschen Musche-musche, müssen Sie wissen!“ Dora meinte im Hinblick auf das restliche Geld seines Schweizer Kontos, das er ihr letztes Weihnachten als Geschenk überschreiben ließ: „Dann verzichte ich eben auf das Erbe!“, worauf Annelie sofort einen versöhnlicheren Ton anschlug und eine engelhafte und die freundlichste Miene aufsetzte. „Aber ich bitte Sie, liebe Frau Kueper, so dumm werden Sie wohl doch nicht sein! Wer wird denn in solchem Falle gleich ganz verzichten wollen?! Schön, die Wohlhabendere war immer seine Schwester Edith, aber deren Hinterlassenschaft gehört ja nun mit zu seinem Nachlass! Was da alles an Werten zusammenkommt ist immens, das können Sie mir gerne glauben. Ich muss es als seine in allen Dingen Eingeweihte schließlich wissen, denn ich war für meine Verwandten über mehr als zwei Jahrzehnte immer die einzige Vertrauensperson und Beraterin, wenn es Steuern einzusparen galt und überhaupt. Falls Sie wollen, dann helfe ich Ihnen selbstverständlich gern so gut ich kann. Ich würde dann sofort morgen für die nächsten Wochen Urlaub einreichen, und wenn es Ihnen recht ist, können wir Sonntag früh gleich anfangen. Wir treffen uns beide hier um 9.00 Uhr, würde ich vorschlagen, denn vor uns liegt eine Menge Arbeit. Ich werde mir dann Onkel Hellmuts Schreibtische und Schubladen allerdings genauestens ansehen müssen. In meiner Funktion als Steuerberaterin muss ich mir ein absolut klares Bild von allen Hinterlassenschaften mit den entsprechenden Unterlagen machen können. Na, das wird eine Heidenarbeit, in diese Unübersichtlichkeit ein bisschen Klarheit zu bringen! Aber was soll’s, gemeinsam schaffen wir das schon. Wird von Ihrer Verwandtschaft jemand helfen kommen? Sonst möchte ich Ihnen gleich sagen, dass ich mich für Onkel Hellmuts Briefmarkensammlung eigentlich schon immer interessierte. Die könnten Sie mir für mein Entgegenkommen vielleicht überlassen!“ Dora nickte zustimmend, denn sie hatte zwar kurz ihre eigene Nichte Margit erwähnt, der sie hin und wieder mal interessante Auslandsbriefmarken schickte. Aber gleichzeitig erinnerte sie sich, dass sie immer nur Absagen von ihr erhielt, wenn Tante Dora bat, sie doch mal wieder in Berlin zu besuchen. Und Doras Schwester Charlotte war zwar früher sehr resolut und tüchtig gewesen, die sich damals lieber hätte totschlagen lassen, als dass ein Russe ihrer „kleinen“ Schwester zu nahe kommen durfte. Immer wieder hatte sie deren hübsches Gesicht mit Dreck beschmiert und sich irgendwas einfallen lassen oder ihr eines ihrer Kleinkinder in den Arm gedrückt, damit sie ihr junges Gesicht in das Babybündel drücken und es so vor den sich wie wild gebärdenden Soldaten verbergen sollte. Aber jetzt konnte die inzwischen 86-jährige gute alte Lotte ihrer Schwester nicht mehr helfen. Dazu wohnte sie auch viel zu weit von Berlin entfernt.

Als deren Mann kurz nach Beendigung des Krieges als Verwundeter aus russischer Gefangenschaft frühzeitig entlassen worden war, hatten sie sich noch einmal zwei Kinder angeschafft, ein Mädel und einen Jungen. Die waren schon längst erwachsen und beide berufstätig, aber leider unabkömmlich, wie es hieß, und deshalb nicht in der Lage, der alten Tante in Berlin helfen zu kommen. Dabei benötigte Dora keinen Schwerstarbeiter, die hätte sie sich als Alleinerbin jetzt reihenweise mieten können. Sie brauchte nur einen Menschen, der etwas die Augen offen halten sollte, während sie sich mit der ihr ziemlich fremden und offensichtlich sehr enttäuschten und neidischen Nichte Hellmuts alleine in der Wohnung des verstorbenen Krösus aufhielt.

Mit Doras Verwandtschaft war offensichtlich nicht zu rechnen, und der soeben von dieser Steuerberaterin angebotene Vorschlag klang doch sehr vernünftig und annehmbar. Dora wäre es auch unheimlich gewesen, vielleicht hier vollkommen alleine in Hellmuts weiträumiger Wohnung herumzukramen, jetzt wo er nicht mehr da war. Und seine „sogenannte Nichte“, wie er Annelie stets genannt hatte, weil sie ja eigentlich die seines Schwagers war, hatte ihn und seine Schwester in allen Bank- und Geldangelegenheiten jederzeit bestens beraten. Mit Hilfe der cleveren Steuerberaterin hatten die alten Schlawiner es immer wieder geschafft, ihr Vermögen größtenteils am Finanzamt oder an den Banken vorbei zu manövrieren. Als Annelie ihren Onkel damals auf die Züricher Bankfiliale am Kurfürstendamm in seiner unmittelbaren Wohnnähe aufmerksam machte, war er ihr äußerst dankbar, ebenso für ihre Anregung, sich für Wertpapiere in Form von „Tafelgeschäften“ zu entscheiden. „Damit wirst du, liebes Dorchen, später einmal überhaupt keine Schwierigkeiten haben, an dein Geld heranzukommen. Das erhältst du dann nämlich bei bloßer Vorlage von jeder Bank anstandslos ausgezahlt!“, hatte er Dora überlegen zwinkernd erklärt und war von seinen bevorzugten Tafelgeschäften als glänzende und beste Entscheidung bei der Wahl von Wertpapieren überzeugt und sagte daher wiederholt: „Wer diese Papiere hat, der besitzt ein Vermögen!“

Eines musste Dora dieser Nichte anfangs hoch anrechnen, und sie fand es geradezu rührend, dass Annelie sich sofort erbot, das so schrecklich mit Blut bespritzte Bad zu reinigen. Zielbewusst erledigte sie anschließend mit Dora die Behördengänge und plante die Beerdigung, denn sie hatte ähnliches hier ja schon vor etlichen Jahren für ihren Onkel Stephan und bei Tante Edith ebenfalls arrangiert. Es wurde deshalb wieder eine elegante, jedoch schlichte Urne ausgesucht, und eine schöne und stilvolle christliche Trauerfeier mit Pastor und Orgelmusik ausgerichtet, wobei Annelie sogar ihren Mann Volker mitbrachte und ihn Dora vorstellte. Anschließend war die kleine dreiköpfige Trauergesellschaft am Kurfürstendamm in einem von Annelie vorgeschlagenen Restaurant zum Essen eingekehrt.

Im Grunde genommen war Annelies Hilfsbereitschaft auch das Mindeste, was man erwarten konnte, nachdem sie zum Beispiel jedes Mal zu Weihnachten allein von ihrem Onkel Hellmut zehn brandneue Tausendmarkscheine geschenkt bekam, die jedes Jahr fächerartig ausgebreitet auf einem seiner festlich geschmückten Schreibtische lagen. Dazu musste Dora vom Kaufhaus des Westens den prächtigsten Pralinenkarton mit einer großen Schleife oder „etwas ganz besonders ausgefallenes Nettes“ kaufen, weil er dieser Nichte die besten Tips verdankte. Und deshalb hatten er und seine Schwester der tüchtigen Annelie sogar eine große und teuere Eigentumswohnung geschenkt, die im gleichen Hause unter der eigenen Mietwohnung in der Wielandstraße lag. Allerdings hatten sie dabei wohl auch den Hintergedanken, dass das bisher allein stehende späte Mädchen dann vielleicht mal ein Töpfchen Suppe oder eben eine kleine Mahlzeit zu ihnen heraufbringen würde. „Aber da lernt die plötzlich im Urlaub einen Mann kennen und heiratet prompt! Damit hatte niemand mehr gerechnet! Ja, und die schöne Wohnung wird bloß immer von ihr vermietet. Aber was soll’s, sie kommt jedenfalls alle zwei Wochen regelmäßig noch mal bei mir vorbei.“

Erst im letzten halben Jahr, als Dora Hellmut riet, wegen seiner geschwollenen Beine endlich einmal zu ihrem Arzt mitzukommen, der ihn dann gründlich untersuchte und ihn unter anderem vor Aufregungen warnte, sprach Hellmut das erste Mal davon, dass er sich von Annelie manchmal erpresst fühlt und dass diese zeitweise recht „ungezogen“ sein könne. – Ganz langsam wurde der allzu vertrauensseligen und übertölpelten Dora endlich die Falschheit und Habgier der unersättlichen Nichte bewusst. Dennoch begrüßte sie deren Hilfsangebot anfangs, weil sie sich überfordert fühlte angesichts des unübersehbaren Nachlasses, der nun ganz allein ihr gehören sollte. Sie war von Beginn an zu teilen bereit gewesen, aber der verwöhnten Annelie schien das nicht zu genügen, sie wollte nicht die Hälfte, sie wollte alles! Sie wusste ja auch letztendlich ganz genau, um was für Beträge und Werte ihre Verwandten verfügten. Hellmut hatte zum Beispiel die Eigenart, Dinge von besonderem Wert nicht etwa in einem Bankschließfach aufzubewahren, sondern versteckte sie an den eigenartigsten Plätzen innerhalb seiner Wohnung, gleich einem Eichhörnchen im Winter. Da musste schon mal ein ausgedienter alter Ofen herhalten oder eine hohle Küchenuhr. Jedenfalls bis zur Anschaffung des zuletzt ernsthaft ins Auge gefassten eigenen Tresors sollte es so bleiben, dass die Wertpapiere und Briefmarkenalben in zwei großen alten Fernsehkartons aufbewahrt blieben. Aber am Ende verließ er mit Dora die verschiedenen Geschäfte mit Sicherheitsvorrichtungen doch jedes Mal unverrichteter Sache und ohne den zuerst in die engere Wahl genommenen Tresor, weil es ihm nie gelungen war, einen seinen Größenvorstellungen entsprechenden zu finden und sich zum Kauf zu entscheiden. Neben seinen Wertpapieren sollten, so beabsichtigte er zuletzt, auch möglichst noch seine wertvollsten Briefmarken sowie einige Diamanten und die zahlreichen Goldmünzen darin Platz finden.

Einige Monate vor Hellmuts Tod kam wieder einmal der Prokurist seiner Bank aus Zürich vorbei und überbrachte ihm die telefonisch genannte Summe. So wurde die Ein- und Auszahlung diskret gehandhabt, seit die Niederlassung am Kurfürstendamm geschlossen worden war. Die Berliner Kunden wurden ins Hilton-, Adlon- oder Excelsior-Hotel gebeten, oder der Züricher Bankier und manchmal auch dessen Vertreter kam ins Haus. Bei seinem letzten Besuch, es war kurz vor Weihnachten, also drei Monate vor Hellmuts tödlichem Unfall, berichtete der wieder als Kurier eingesetzte Prokurist, und es war ihm sichtlich peinlich, seinem Kunden mitteilen zu müssen, dass er diesmal in Berlin am Airport vom Zoll in einen Nebenraum gebeten worden war. Hier hatten die Zollbeamten sein Lederköfferchen mit den adressierten Umschlägen der Bankkunden genauestens unter die Lupe genommen. Das zu hören machte den alten Herrn völlig nervös und geradezu krank, wie er zu Dora sagte, die gerade wieder anwesend war. Darauf wiederholte diese nur gelassen ihren Standpunkt, dass es doch weit besser wäre, sein Geld in einem Safe unserer zahlreichen Banken aufzubewahren, wie es andere auch tun. Überdies solle man doch dem Kaiser geben, was des Kaisers ist, wenn man über so viel Reichtümer verfügt. Für diese naiven Sprüche hatte Hellmut aber in seiner jetzigen Verfassung nicht mal ein mitleidiges Lächeln übrig. Er war erleichtert, dass es gerade wieder der zweite Dienstag im Monat war, an dem Annelie automatisch erschien und auch erwartungsgemäß eintraf. Eine Idee von ihr war, das Schweizer Konto durch eine Selbstanzeige zu legalisieren. „Und die Tafelpapiere gibst du mir am besten sofort mit. Mit meinem Chef verbindet mich ein sehr freundschaftliches Verhältnis. Die werde ich alle in dem großen Panzerschrank unseres Büros deponieren, da sind sie in Sicherheit, denn in unserem Steuerbüro hat es noch nie eine Überprüfung durch das Finanzamt gegeben. Aber du, Onkel Hellmut, musst jetzt jederzeit damit rechnen.“ Damit wandte sich Annelie seinen beiden Kartons zu, die zwischen den Fenstern und dem Schreibtisch standen. „In welchem hast du sie?“, wollte sie wissen. Ihr betagter Onkel fuhr aus dem Sessel hoch und hatte sich in Windeseile mit ausgebreiteten Armen schützend vor die Pappe-Schatztruhen gestellt. „Die bleiben da drin!“, sagte er bestimmt und unmissverständlich, denn die hatten mittlerweile seit Jahrzehnten darin ihren ständigen Platz. Er ging selber nur höchst selten daran, um vielleicht mal einige Bogen herauszunehmen und daran „herumzuschnippeln“, wie Dora sein Hantieren unsachgemäß und respektlos ausdrückte und die er deswegen auch nicht mehr daran teilnehmen ließ. Das letzte Mal vor einigen Jahren hatte sie wieder ein Fenster irgendwo offen stehen gehabt, und sie mussten die herumgeflogenen Papiere und Schnipsel anschließend mühsam zusammensuchen. Außerdem konnte sich Dora während jener mystischen Handlung nie an seinen ständigen Flüsterton gewöhnen, denn seine Befürchtung war dabei, dass die Nachbarn etwas mithören könnten, und auf keinen Fall durfte jemals einer etwas über seine geheim gehaltenen Schätze erfahren. „Wenn du es dir aber anders überlegst, rufst du mich jedenfalls sofort an“, hatte Annelie auf seine demonstrative Weigerung zur Auslieferung geantwortet. „Das versprichst du mir bitte, ja?“, fragte sie fürsorglich, „ich komme auch gern mal zwischendurch vorbei. Das macht mir überhaupt nichts aus.“ Jede zweite Woche kam sie ohnehin mit ihrem Auto vorbei und brachte für den lieben alten Onkel 10 Liter H-Milch. „Damit du die schwere Milch nicht schleppst!“, und zu Dora meinte er dann später: „Und um zu sehen, ob ich noch lebe, aber ich werde 120!“

Dann war es doch früher passiert als gedacht, und es kam zu diesem entscheidenden Donnerstag, als man ihn tot auffand. Drei Tage später, an dem ersten Sonntag nach Hellmuts Tod, trafen sich Dora und Annelie verabredungsgemäß vor dessen verwaister Wohnung. Dora sollte gleich die Schlafzimmerschränke durchsehen, wohin Annelie sie beorderte, weil sie sich dort besser nützlich machen könne. Bei den Schreibtischinhalten in Onkel Hellmuts Arbeitszimmer müsse sie sich als Steuerberaterin ungestört konzentrieren. Darüber seien genaue Aufstellungen und Listen anzufertigen, und das würde sie deshalb besser alleine machen. Außerdem nahm sie abends sogar die eine oder andere Schublade mit zu sich nach Hause, weil sich bei dem Wirrwarr in seiner Wohnung keiner zurechtfinden und sammeln könne, dazu benötigte die scheinbar gewissenhafte Nichte größte Aufmerksamkeit und Ruhe. Und die gutgläubige Dora ahnte nicht, dass die missgünstige Nichte bereits zu diesem Zeitpunkt begann, der eigentlichen Erbin buchstäblich alles nach und nach zu entwenden. Sie konnte immer noch hören, wie Annelie ihr aus seinem Unterrichtszimmer gleich nach den ersten Stunden ihrer Anwesenheit zurief: „Die beiden ollen Kartons, die Onkel Hellmut hier immer herumstehen hatte, sind wir schon mal los!“ Und als Dora ihre Untersuchung der Kleiderschränke unterbrach, um den langen Gang nach vorne zu kommen und zu fragen: „Was riefen Sie da gerade, Frau Schlamm? Was ist mit den Kartons passiert?“, erhielt sie zur Antwort: „Och, da waren doch bloß die Briefmarken drin, die Sie mir geschenkt haben, und die hat mein Volker gerade abgeholt.“ Dora schlug das Herz bis zum Halse und sie wurde das Gefühl nicht los, dass soeben etwas Schreckliches und Unerwartetes geschehen war mit Hellmuts jahrelang so sorgfältig gehütetem Schatz, ihrem Erbe! Aber Annelie meinte seelenruhig, dass sie ja gerade erst mit dem Aufräumen beginnen würden. „Da waren bloß alles Briefmarken drin, das können Sie mir glauben! Auf die Wertpapiere werden wir auch noch mal stoßen, die hat Onkel Hellmut bestimmt inzwischen anderswo versteckt!“ Und nach dem Aufräumen der Kleiderschränke ließ Annelie die immer noch Hoffnung hegende Dora in seiner umfangreichen Bibliothek jedes einzelne Buch nach den vermissten Tafelgeschäften und Wertpapieren sorgfältig durchblättern und durchsuchen. Darin könnte er sie neuerdings versteckt und verborgen gehalten haben, wie die hinterhältige Nichte der eigentlichen Erbin einzureden versuchte, denn „die können doch nicht einfach verschwunden sein!“ Dabei hatte sie diesen einzigartigen Schatz doch gleich am ersten Tag blitzschnell durch ihren Mann und Komplizen Volker zu sich nach Hause schaffen lassen, während die vertrauensvolle Dora immer noch nicht an Annelies Loyalität zweifeln wollte.

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