E p i l o g

Seit Jahren schon schickte Dora kurz vor Weihnachten ihrer Widersacherin Annelie anlässlich des Jahreswechsels immer ein paar Grüße in der Hoffnung, dass diese ihren begangenen Diebstahl inzwischen längst bereute, und um an ihren Anstand zu appellieren, denn dass sie durch und durch schlecht und kriminell sei, mochte sie immer noch nicht glauben. Schließlich stammte sie aus einer soliden und grundehrlichen Familie. – Die alte Dora vergegenwärtigte sich jedes Mal der Situation damals am 26. März 1998, als sie ihren Hellmut wieder mit frisch gebackenem Kuchen überraschen wollte, er aber nicht öffnete, so dass sie seine „hilfsbereite“ Nichte wegen des Zweitschlüssels anrief.

Damit begann das Dilemma um das stibitzte Erbe, wobei Annelie ihren fragwürdigen alkoholkranken Volker lautlos in die Wohnung einließ, um ihm flink Onkel Hellmuts inhaltsschwere beiden großen Behältnisse zu übergeben, mit denen der Spitzbube sich lautlos aus dem Staube machte. Was hinderte diesen Typ, der eigentlichen „Alleinerbin“, die indessen mit der Durchsicht der Kleiderschränke im Nebenzimmer beschäftigt worden war, wenigstens „Guten Tag“ zu sagen und sich kurz vorzustellen, wie es doch normalerweise zu erwarten gewesen wäre?! Nein, also mit dem Mann konnte sie wirklich keinen Staat machen, wie es ihr Onkel Hellmut schon von jeher vermutet hatte. Zur großen Enttäuschung der Verwandten wurde ihnen Annelies Angetrauter auch niemals vorgestellt. Und Dora stieß während ihres Besuchs bei den Neureichs auf einen anfangs recht aggressiven, dann um so wortkargeren und unsicher wirkenden Gernegroß, so dass die Vermutung in ihr reifte, dieser arglistige Gefährte könne die bis dahin unbescholtene und aus gutem Hause stammende Annelie einfach schlecht beeinflusst und versaut haben. In Dora kam sogar kurz der Gedanke auf, die zwei könnten ihren vermeintlichen alten und allzu zähen Erbonkel vielleicht erschlagen haben.

Inzwischen waren fünf Jahre nach dem für Dora so schmerzvollen Ereignis vergangen, und wieder einmal stand Weihnachten vor der Tür. Beim morgendlichen Kaffee und der Erkenntnis, dass es für ihre alljährlichen Festtagsgrüße bereits zu spät sei, nahm sie allen Mut zusammen, griff zum Telefonhörer und wählte die vertraute Nummer. „Jaaa“, ließ sich die gedehnte Stimme Annelies vernehmen, und Dora nahm sich vor, „sich in Demut zu üben“. Das hatte seinerzeit der Geistliche der gefangenen Maria Stuart geraten, bevor diese die Chance erhielt, der mächtigen Königin Elisabeth zu einer Aussprache im Garten gegenüber zu treten. Dora war darauf bedacht, nicht in Tränen auszubrechen, und begann so, wie ihre Briefanfänge immer lauteten: „Alle Jahre wieder …“, und als sie merkte, dass ihr am anderen Ende der Leitung ruhig und anscheinend interessiert zugehört wurde, fuhr sie zügig fort.

Zuerst erzählte sie von ihrem im Sommer erlittenen komplizierten Armbruch, der den Einbau einer Metallplatte vonnöten machte, und die Inanspruchnahme einer Krankenschwester. Hier unterbrach Annelie erstmals mit einem Räuspern und fragte: „Dora, sage mir bitte, was du von mir erwartest.“ Sie schien Klartext hören zu wollen, worauf Dora auf den Briefwechsel der beiden Anwälte zu sprechen kam und auf die unfaire Verhandlungsart und dabei die von Annelie vorgebrachten Lügen kritisierte. Manchmal erwartete sie, abgehängt zu werden, aber Annelie lauschte erwartungsvoll weiter. Also fuhr Dora fort: „Letzten Monat hat man mir auch noch meine privat gekaufte Zusatzrente zum dritten Mal gekürzt und ich erhalte statt der garantierten 603,- nur noch 475,- EURO zu meiner schmalen BfA-Rente, so dass ich nur mühsam meine hohe Miete aufbringe. Ich frage mich immer wieder, wie ich in eine derart miese Lage geraten konnte, wo ich eigentlich Millionärin sein sollte. Darauf warf Annelie ein: „Na, da hat Onkel Hellmut wohl etwas übertrieben, eine ausgesprochene Millionärin bin ich deshalb auch nicht gleich geworden. Und nach einer Pause fuhr sie überraschend und beschwörend fort: „Dora, lass mir bitte noch etwas Zeit, ich muss schließlich erst meinen inneren Schweinehund begraben! Weißt du, ich möchte erst alles noch einmal ganz in Ruhe überdenken. Ich habe jetzt noch einige Besorgungen zu machen, wie du verstehen wirst, aber ich melde mich gleich im neuen Jahr wieder.“ „Im Januar werde ich bereits 81!“, entgegnete Dora, „kannst du mir nicht gleich sagen, ob du die lächerliche auf 12.500,- EURO herunter gefeilschte Vergleichssumme, die du mir von meinem Erbe abgezweigt hast, nicht doch wenigstens auf die zuletzt von meinem Anwalt geforderten 20.000,- EURO erhöhen willst?“ „Liebe Dora, ich will sehen, dass ich ganz schnell einen Termin bekomme, denn ich kann das wirklich nicht sofort oder alleine entscheiden und muss das erst noch einmal besprechen. Ich melde mich aber auf jeden Fall bis zum Jahresende, das verspreche ich dir. Du kannst mir glauben.“ – Sie tauschten noch einige artige Floskeln aus, denn heute Abend begann das Weihnachtsfest, und Dora legte glücklich den Hörer auf die Gabel. Das war doch praktisch schon eine Zusage, indem die offensichtlich einsichtige Annelie ihren „inneren Schweinehund“ zugegeben hatte, den es bloß noch zu überwinden galt.

Dora wartete also zuversichtlich und glücklich auf deren zugesagten Rückruf. Als sie dann am 31. Dezember 2005 vom Einkaufen kam, zeigte ihr Anrufbeantworter gleich zwei Gespräche an. Erwartungsvoll ergriff sie den Hörer. „Hier ist Annelie“, vernahm sie die vertraute, aber erheblich verschnupfte oder verweinte Stimme, die nervös fortfuhr: „Ick habe, ick meine …“, und nachdem sie noch einmal tief durchgeatmet hatte, vernahm Dora nur noch ein hastiges: “Ich wollte nur zurückrufen. Tschüß.“ Danach war aufgelegt worden. Im darauf folgenden Anruf begann Annelies Stimme in konzentriertem und gedehntem Hochdeutsch ganz langsam von neuem: „Hier ist nochmals Annelie. Ich wollte dir nur ein g u t e s  n e u e s  J a h r  wünschen. Tschüß.“

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